Bonjour tristesse, bonjour „e-sports winter“? Seit einiger Zeit ist der internationale Hype um E-Sport deutlich abgeebbt. „Die E-Sports-Welt gerät ins Wanken“ titelte etwa die New York Times im Mai dieses Jahres – und schrieb weiter, der Trubel um E-Sport in den USA „weiche nun der wirtschaftlichen Realität“. Teams könnten keine Gewinne mehr erzielen und müssten Angestellte und Star-Spieler entlassen, um Kosten zu sparen, in einigen Fällen würden gleich die Teams selbst mit Verlust verramscht. Das renommierte Magazin Venture Beat konstatierte bereits im Februar den „Tod der E-Sport-Mittelklasse“: Größere Teams hätten das raue Wetter bislang besser überstanden, doch drohe der Mittelklasse ein dinosaurierartiges Massensterben. Auch viele andere Medien beobachten eine veritable E-Sport-Krise, sprechen gar von einem „esports winter“. Fröstel!
Bekanntheit gesteigert
Wie ernst ist also die Lage? Und vor allem: Wie kommt der E-Sport da wieder raus? Das wollten wir von mehreren Experten wissen, die in verschiedener Funktion im Ökosystem E-Sport unterwegs sind – zum Beispiel von Kim Lachmann, dem Director der Sports Business Group bei der Management- und Strategieberatung Deloitte. Das Unternehmen erhebt regelmäßig Daten zum E-Sport-Markt – im Internet ist beispielsweise eine Zusammenfassung der Studie „Let‘s Play! 2022“ abrufbar. „Der Markt für E-Sport hat sich in den vergangenen Jahren gut entwickelt“, sagt Lachmann – was jetzt nicht unbedingt nach einem harten „E-Sport Winter“ klingt. „Insbesondere die Jahre der Pandemie haben dem Sport einen noch deutlicheren Aufschwung beschert, der zu einer steigenden Bekanntheit geführt hat“, so der Experte. 2020 und 2021 hätten immerhin 15 Prozent der EuropäerInnen E-Sport geschaut – nach eigener Aussage, wohlgemerkt. Im Folgejahr sei der Wert dann aber auf 8 Prozent gefallen, berichtet Lachmann. Zwar seien mittlerweile viele Menschen mit E-Sport in Berührung gekommen – die Herausforderung bestehe aber nun darin, diese Gelegenheitszuschauer in Fans und zahlende Kunden zu konvertieren. „Nur so kann das Produkt monetarisiert und die Wirtschaftlichkeit gesteigert werden“, betont Lachmann.
Tobias Scholz fasst die gegenwärtige Lage nüchtern zusammen. „Nach Corona und dem dazugehörigen Hype haben sich die Bedingungen für den professionellen E-Sport verschärft, denn natürlich sind die traditionellen Konkurrenten wie der Sport und andere Entertainment-Medien wieder zurückgekehrt“, sagt er. Scholz ist Professor für Academic Esports – mit Schwerpunkt Personalmanagement – an der University of Agder in Norwegen. Zudem ist er Chief Scientific Officer des HR-Dienstleisters metagame; auch hat er das Esports Research Network mitbegründet. E-Sport stehe nicht nur im Wettbewerb um die ZuschauerInnengunst, so Scholz. „Zugleich kämpft er weiterhin darum, wie das Umfeld aussehen soll.“ Die Professionalisierung des E-Sports gehe nur langsam voran, denn in vielen Bereichen fehle es an Regulierung und Gesetzen, so Scholz. „Zugleich hat sich die wirtschaftliche Situation auf der ganzen Welt verschärft – und dies wirkt direkt auch auf den E-Sport.“
Wenig innovativ
Laut Scholz sind die aktuellen Verwerfungen keineswegs die erste Krise, die der E-Sport durchlebt – sondern vielmehr ein wiederkehrendes Problem. „Wir sehen hier eine Marktkorrektur, vor allem für Teams, die Wachstum durch Investoren erreichen wollten“, so der Wissenschaftler. „Gerade die USA sind ein typisches Beispiel, denn lange Zeit war es relativ einfach, Geld einzusammeln. Jetzt, wo der Finanzmarkt auch Probleme hat, haben solche Unternehmen Probleme.“ Eine ähnliche Situation habe man auch nach der Finanzkrise um das Jahr 2009 gehabt, so Scholz. Der E-Sport setze nun mal sehr stark auf ein Geschäftsmodell, das auf Sponsoren und Investoren angewiesen sei. „Hier muss ein Umdenken stattfinden“, fordert der Experte. „Vor allem sehen wir auch, dass der E-Sport an sich in den letzten Jahren nur sehr wenige Innovationen geschaffen hat – und sehr stark versucht hat, den Sport zu kopieren.“ Man werde das Sport-Modell aber nicht einfach so ohne Weiteres kopieren können, betont Scholz – zumal auch der professionelle Sport nicht wirklich profitabel sei. Der Forscher sieht in der aktuellen Krise immerhin die Chance, neue Dinge auszuprobieren – als Beispiel nennt er Twitch, das nach besagter Finanzkrise entstanden sei. „Langfristig nachhaltig zu werden bedeutet aber auch, das Augenmerk auf soziale und ökologische Nachhaltigkeit zu legen“, gibt Scholz zu bedenken. „Hier können natürlich auch neue Einnahmequellen erschlossen werden.“ Oder um es – mit unseren Worten – etwas überspitzt zu formulieren: Lässt sich ein Team nicht von Energy-Brause-Brauern sponsern, sondern von Photovoltaik-Herstellern, dann kann das durchaus für ein unverwechselbares Image sorgen.
Auch Johannes Gorzel sieht die starke Sponsoren-Abhängigkeit als Hauptgrund für die E-Sport-Krise. Die Branche sei deshalb besonders von der Werbewirtschaftskrise betroffen, die sich durch den Krieg in der Ukraine und die steigende Inflation noch verschärft habe. Gorzel ist Co-CEO der Berliner I3 Holding, die neben der Online-Marketing-Agentur INSTINCT3 auch die E-Sport-Organisation Eintracht Spandau betreibt (vgl. IGM 05/2022). Am 6. November gaben Gorzel und Mitgründer Hendrik Ruhe bekannt, von ihren Posten als Co-CEOs bei INSTINCT3 und Eintracht Spandau zurückzutreten; beide wollen sich nun auf die Expansion der I3 Holding und auf externe Aufgaben konzentrieren. Als erstklassiger Kenner der deutschen und internationalen E-Sport-Szene ist Gorzel natürlich trotzdem nicht um eine Einschätzung der gegenwärtigen Lage verlegen. „Turniere, Teams und Medienschaffende sahen sich seit Mitte 2022 in der Bredouille, mit schrumpfenden Sponsoring-Töpfen bei Werbetreibenden umgehen zu müssen – und verzeichneten seitdem einen Rückgang in ihren Erträgen“, analysiert Gorzel. „Unter diesen Umständen findet eine Konsolidierung des Marktes statt, bei der nur die nachhaltigen Business Cases überleben werden.“
Nachhaltiger wirtschaften
Diese Entwicklung könne man aus unterschiedlichen Perspektiven betrachten, so Gorzel. Eintracht Spandau halte das nicht zwangsläufig für eine negative Entwicklung: „Der Konsolidierungsprozess wird für den Ausstieg solcher Konkurrenten sorgen, die das Marktgefüge – beispielsweise mit Bezug auf Spielergehälter – zuletzt zum Nachteil von solide aufgestellten Konzepten verzerrten.“ Gorzel glaubt, dass die Marktbereinigung ein erneut florierendes Ökosystem hinterlassen wird, „denn das Wachstum der Zuschauerschaft und die Eroberung neuer Zielgruppen schreiten weiter voran“. Inmitten der Krise versuchen die E-Sport-Organisationen, ihre Einkommensströme stärker zu diversifizieren, so der Experte. Neben Sponsoring-Einnahmen spiele auch die Monetarisierung von Fan-Beziehungen eine immer größere Rolle, so Gorzel – zum Beispiel in Form von Merchandising, Mitgliedschaftsmodellen oder Live-Aktivierungen. Darüber hinaus werde immer wichtiger, die Marken- und Reichweitenbildung durch flankierende Maßnahmen voranzutreiben – Eintracht Spandau beispielsweise inszeniert sein Vereinsgeschehen als fortlaufende Geschichte. („Wir denken also in Content, wir denken fast schon in Theater – setzen aber einen echten Sportverein ins Zentrum, der wirklich im Wettbewerb steht“, sagte Hendrik Ruhe in IGM 05/2022.) Als weiteren Trend sieht Gorzel, dass E-Sport-Teams immer mehr Druck auf die Spiele-Publisher ausüben, neue Formen der In-Game-Monetarisierung zu etablieren – etwa mit dem Verkauf von Teamlogo-Avataren.
Momentan beobachtet Gorzel zudem ein gesteigertes Interesse an E-Sport aus dem Nahen Osten. Dortige Staaten versuchten, sich „in dieser Nische mit Investments in eine Monopolstellung zu versetzen“. Tatsächlich ist Saudi-Arabien gerade dabei, sich massiv in die Branche einzukaufen: Kronprinz Mohammed bin Salman will Mitte 2024 ein Turnier namens „Esports World Cup“ austragen lassen, das dann auch die höchsten Preisgelder bieten und die besten Spieler versammeln soll – Parallelen zur Einkaufstour im Fußball sind natürlich rein zufällig. Veranstalter des Turniers wird die Savy Games Group sein, die bereits letztes Jahr das Kölner Unternehmen ESL Gaming kaufte. Schon damals gab es große Proteste in der Community, weil in Saudi-Arabien eine miserable Menschenrechtslage herrscht. Johannes Gorzel sieht hier ein zunehmendes „Spannungsfeld zwischen ethischer Verunsicherung und finanzieller Drucksituation“: Durch die saudischen Investments stehe die Branche an einem „historischen Scheideweg, der in einer viel höheren Geschwindigkeit durchlaufen sein wird, als es sich beispielsweise im Fußball abspielt“.
Saudisches Sportswashing
Für viele ExpertInnen ist die Strategie Saudi-Arabiens ziemlich durchsichtig: Der Staat versuche, sein Image durch „Sportswashing“ zu verbessern. Tobias Scholz sieht eine Anfälligkeit des E-Sports „für Akteure mit viel Geld“, weil er bisher kein nachhaltiges Geschäftsmodell entwickelt habe. „China und zunehmend Saudi-Arabien investieren in den E-Sport, vor allem, weil sonst niemand darin investiert“, beobachtet er. Genau aus diesem Grund könne ein Investor wie Saudi-Arabien auch viel im E-Sport erreichen, so Scholz – betont aber, dass E-Sport bereits „integraler Teil der Gesellschaft“ sei: „Wir können viel vom E-Sport lernen, wie man die digitale Gesellschaft gestalten kann.“ Ein zunehmender Konflikt scheint hier vorprogrammiert – man darf gespannt sein, wie sich das Ganze in den kommenden Monaten weiterentwickelt.
In Teil 2 unseres E-Sport-Specials (IGM 16/2023) nehmen wir das deutsche E-Sport-Ökosystem unter die Lupe – und zwar sowohl den Profi- als auch den Breitensport. (Achim Fehrenbach)