Zuschauer-Rekorde! Ein noch internationaleres Publikum! Weltgrößtes Event rund um Computer- und Videospiele! Neue Maßstäbe gesetzt! Wegweisend! Starkes Signal! Wer die amtliche Pressemitteilung von Koelnmesse und Verband im Nachklapp zur digitalen gamescom 2020 studierte, konnte glatt den Eindruck gewinnen, dem Format habe wenig Besseres widerfahren können als eine Welt im Lockdown. Doch die Realität ist natürlich eine andere: Wo sich sonst 80.000 Besucher pro Tag über das Kölner Gelände schieben, musste sich die Messe bei ihrer zwölften Auflage auf Online-Formate und Live-Streams fokussieren.
Aus Sicht von Messegesellschaft, Verband, Hotellerie, Messebau, Ausstellern und Publikum ist daher klar: Das darf um Himmelswillen kein Dauerzustand sein. Im kommenden Jahr soll die gamescom deshalb (auch) wieder vor Ort stattfinden. Auf gamescom.de werden bereits Hotelkontingente für die gamescom 2021 angeboten, die dann von Mittwoch bis Sonntag (25. bis 29. August) über die Bühne gehen soll. Die Botschaft: The show must go on. Seit Monaten tüftelt die Koelnmesse an immer neuen Großveranstaltungs-Konzepten – inklusive "Hygiene-Guards", kontaktlosen Körperscannern und einer obligatorischen App, die automatisch Alarm schlägt, wenn's in der Halle zu voll wird. Doch ist dieser Aufwand überhaupt gewollt? Reicht das, damit internationales Publikum wieder leichten Herzens nach Köln reist? Sind die Headquarters willens und in der Lage, nach einjähriger Pause wieder siebenstellige Budgets freizuschaufeln? Und wie groß ist das Bedürfnis der Branche, sich in der Business-Halle an Besprechungstischen vor Plexiglas-Abtrennungen mit dem Charme eines Bankschalters zu verabreden?
War´s das wert?
Klären wir zunächst die Frage: Hat es sich für die Aussteller in diesem Jahr überhaupt ausgezahlt, bei der rein digitalen gamescom 2020 dabei zu sein? "Diese Frage lässt sich für Bandai Namco Entertainment mit einem klaren Ja beantworten", sagt Marketing-Chef Frieder Bartussek. "Der Award ‚Best Presentation/Trailer' für Little Nightmares II, der auf der diesjährigen Opening Night Live Premiere feierte, sowie der Award für ‚Best Lineup' unterstreichen diesen Erfolg neben vielen weiteren Auszeichnungen."
Electronic Arts-Deutschland-Chef Jens Kosche ist ebenfalls "sehr zufrieden": "Es war auf jeden Fall die richtige Entscheidung, das Beste aus der Situation zu machen und die gamescom nicht einfach ausfallen zu lassen." Auch beim Düsseldorfer Mitbewerber Ubisoft ist man "sehr froh darüber", dass die Messe digital realisiert wurde. "Es wurde auf unterschiedlichsten Sozialen Medien in Zusammenarbeit mit zahlreichen Partnern eine zentrale Plattform geboten, um die vielfältige Videospielkultur zu feiern", bilanziert Managing Director Ralf Wirsing. "Diese Kontinuität ist für eine der weltweit wichtigsten Videospiele-Veranstaltungen wichtig und richtig." In seiner Rolle als Vorstands-Chef des Branchenverbands game lagen ihm auch die digitalen "politischen Rundgänge" am Herzen: Dort wurden Abgeordnete und Journalisten über E-Sport und Spiele-Entwicklung in Deutschland aufgeklärt.
Auch von THQ Nordic gibt es ein Kompliment an die Veranstalter: So habe es mit Opening Night Live und Moderator Geoff Keighley erneut eine millionenfach abgerufene Show mit internationalem Format gegeben. "Gleichzeitig fehlt jedem digitalen Event natürlich der Charakter einer ‚echten' Messe – begeisterte Besucher, das große ‚Summen' des Gaming-Bienenstocks, die förmlich spürbare Lust am Gaming", analysiert Florian Emmerich, Head of PR bei THQ Nordic.
Aus Sicht von Martin Rabl, Marketing-Chef bei Giants Software (Landwirtschafts-Simulator), war die digitale Ausgabe "definitiv nicht vergleichbar mit echter, realer Messe": "Wir blieben innerhalb unserer Gaming-Blase und konnten kaum Impulse in andere Mainstream-Kanäle verzeichnen. Das Konzept war cool und hat interessante Ansatzpunkte, aber wir fragen uns, was die Veranstaltung von anderen digitalen Angeboten abgrenzt? Früher war der USP der Messe eindeutig: Als größte Publikumsmesse trafen wir alle – und zwar alle, die uns wichtig sind, persönlich an einem Ort und innerhalb weniger Tage."
Preisleistungsverhältnis "nicht ideal"
Den Eindruck, große Publisher hätten bewusst nur die zweite Spiele-Liga auf der gamescom auflaufen lassen und die echten Kracher für konzern-eigene Show-Formate zurückgehalten, will EA-Manager Jens Kosche nicht stehen lassen: "Ich finde, wir waren – zum Beispiel bei der Opening Night Life – super präsent." Ubisoft indes hielt sich mit Weltpremieren und Ankündigungen zurück – eine strategische Entscheidung: "Wir nutzten das diesjährige Format der gamescom, um vor allem mit den Fans und Spielern zu interagieren, sie einzubinden und selbst aktiv werden zu lassen. Unsere Streams, Inhalte und Influencer-Turniere wurden sehr gut vom Publikum angenommen", berichtet Ubisoft-Chef Wirsing. Obendrein sei Watch Dogs Legion mit dem gamescom Award für das "Best Action Adventure Game" ausgezeichnet worden, was laut Wirsing auch von Handelspartnern "positiv wahrgenommen" wurde.
Dass sich THQ Nordic dazu entschlossen hat, analog zu Nintendo, Konami oder Capcom erst gar nicht an der gamescom teilzunehmen, hat laut Florian Emmerich zwei Gründe: Zum einen habe man das Preisleistungs-Verhältnis für ein reines Digital-Event als "nicht ideal" erachtet. Zweitens habe man den Studios den Stress ersparen wollen, in Corona-Zeiten noch Extra-Schichten zur Produktion von Trailern zu fahren: "Dafür braucht es keine gamescom", so Emmerich.
Wie wichtig ist die gamescom für den Handel?
Wenn es stimmt, dass die gamescom für Marketing, Vertrieb, Handel und PR unverzichtbar ist, bleibt die Frage: Wie hat sich der Wegfall der Präsenz-Messe ausgewirkt? Wurden etwa weniger Spiele rein- und durchverkauft? "Inwieweit sich das konkret in Zahlen auswirkt, ist schwer zu sagen, da es ja in diesem Jahr so viele Sonderfaktoren gibt", räumt EA-Chef Kosche ein. "Nach wie vor ist die gamescom aber ein ganz wichtiger Punkt im Marketing- und Vertriebskalender und das sollte auch so bleiben."
Bandai Namco hat die Messe insbesondere für die Kommunikation des Portfolios genutzt: "Wir konnten unsere Neuigkeiten nicht nur über die gamescom-eigenen Formate kommunizieren, sondern standen – wie in den Vorjahren auch – mit allen relevanten Redaktionen und Creatorn in direktem Austausch, um im Zeitraum der gamescom 2020 über unsere Spiele zu informieren", weiß Frieder Bartussek.
Für den Handel hatte die gamescom allerdings schon vor Corona an Bedeutung verloren: "Bis vor drei Jahren war die gamescom für uns eine Ordermesse und wir waren mit einer größeren Mannschaft vor Ort", berichtet NBG-Geschäftsführer Markus Biehl. "Aber mittlerweile ist es für uns eher ein Schaufenster unserer Neuheiten und die Möglichkeit, an wenigen Tagen alle unsere Handelspartner an einem Ort zu treffen." Das Networking steht also im Vordergrund. "Deshalb haben wir uns auch auf dem Marketpoint-Stand eingemietet, weil wir uns dann zu 100 Prozent um unsere Termine kümmern können und das Team um Peter Brücker macht den Rest." Die digitale gamescom sei hingegen "spurlos an uns vorbeigelaufen, wir haben diese überhaupt nicht wahrgenommen", sagt Biehl. "Uns hat das Business Center enorm gefehlt und das konnten wir leider überhaupt nicht kompensieren. Wir kennen jetzt zwar alle Video-Konferenz-Programme, aber diese ersetzen leider nicht die Präsenzveranstaltung auf der gamescom."
Ausprobiert und gelernt
In zwei Punkten sind sich alle befragten Aussteller einig. Erstens: Eine rein digitale gamescom kann nicht die Zukunft sein, will sie ihren Stellenwert als Leitmesse behalten. Zweitens: Dessen ungeachtet müssen natürlich alle Digital-Kanäle kräftig ausgebaut und verbessert werden – Website, Livestreams, Shows, App. Doch Martin Rabl von Giants Software warnt: "Eine Leitmesse muss real stattfinden. Eine digitale Ansammlung von Videos ist eben nur eine digitale Ansammlung von Videos. Es gibt haufenweise, sehr gut etablierte Videoformate von einzelnen Anbietern, die auch eigenständig funktionieren (können). Eine Leitmesse braucht Ankündigungen. Und zwar keine ergänzenden Features, sondern echte neue Überraschungen. Eine Leitmesse muss Trends setzen; ein Nicht-Teilnehmer muss das Gefühl haben, etwas zu verpassen", sagt Rabl – und bringt auf den Punkt, was auch andere Aussteller von der gamescom erwarten.
Besonders großen Stellenwert hat weiterhin die gamescom: Opening Night Live – auch für Ubisoft: "Dieses Format sollte kontinuierlich als Element und Startpunkt beibehalten und ausgebaut werden", fordert Ralf Wirsing. Ein digitales Rahmenprogramm sei zudem sehr wichtig, da es zusätzliche Kommunikationsmöglichkeiten bietet und bei einer physischen Messe nie alle Menschen vor Ort sein können. Wirsing: "Da haben wir dieses Jahr vieles ausprobieren und lernen können, das wir für zukünftige Veranstaltungen weiterentwickeln werden."
Ausprobiert und gelernt haben – notgedrungen – auch viele Messebauer und Agenturen, etwa Cowana aus dem fränkischen Langenzenn: Das Unternehmen hat sich neu aufgestellt und ist auf alle Szenarien vorbereitet. "Ungeachtet der weitreichenden, wirtschaftlichen Konsequenzen, die ein messeloses Jahr 2021 für sehr viele Firmen mit sich brächte, sehen wir uns mit cowana mehr als gerüstet für diesen Schritt", ist Geschäftsführer Michael Wamser überzeugt. "Durch den Bau eines 250 qm großen Streaming-Studios sowie unsere Bootcamp Areas stehen uns und unseren Kunden völlig neue Möglichkeiten zur Verfügung, der Community das Erlebnis "digitale gamescom" näher zu bringen." Für das angekündigte Hybrid-Modell bringt Wamser eine Zweiteilung ins Spiel: Business vor Ort – plus digitale Konzepte für die Community. Aber: Dabei dürfe der Kosten-Nutzen-Faktor nicht aus den Augen verloren werden.
Preise wie zu Vor-Corona-Zeiten
Üblicherweise würde jetzt im November der Frühbucher-Vorverkauf für die gamescom 2021 starten. Die Zimmer in den großen Hotels rund ums Kölner Messegelände wären zu diesem Zeitpunkt längst reserviert und vielfach für den Messezeitraum ausgebucht. Nicht so in diesem Jahr – was die Herbergen aber nicht davon hält, auf Preisvergleichs-Seiten vorsichtshalber Tarife wie zu Vor-Corona-Zeiten aufzurufen. Wirklich eilig haben es allerdings die wenigsten potenziellen Aussteller. Großkunden wie Bandai Namco starten mit ihren Planungen ohnehin erst zum Jahreswechsel, andere stecken bereits mitten in den Vorbereitungen: "Nach der gamescom ist vor der gamescom", sagt Ralf Wirsing. Die Ubisoft-Planungen seien direkt im Anschluss an die diesjährige gamescom mit der Analyse und Auswertung gestartet.
Auch bei Giants Software wird das Thema bereits intern diskutiert: "Für unser Geschäft wäre es gut, wenn es nicht nur einen Business Bereich gäbe. Allerdings ist die Faktenlage überschaubar, um es mal positiv auszudrücken", sagt Martin Rabl. Dank eigenem Equipment kann der Publisher schnell und flexibel reagieren. "Nichtsdestotrotz bezweifle ich, dass wir in 2021 direkt wieder eine Messe wie noch 2019 erleben werden – obwohl ich es mir so sehr wünsche! Ich halte es für wahrscheinlicher, dass weniger Publikum zugelassen sein wird. Als Aussteller muss man für sich passende Aktivitäten ins Auge fassen – vielleicht muss die Messe hier zwangsläufig eine Nummer kleiner werden?" Für die kommende gamescom wünscht er sich "weniger Risiko durch überschaubares Investment" und gleichzeitig persönlichen Kontakt zum Kunden.
Die große Unbekannte bleibt natürlich die weitere Entwicklung des Corona-Geschehens – in Köln, in Deutschland, in Europa und weltweit: "Sollte es erneut rein digital werden, werden wir erneut kritisch das Preis-Leistungsverhältnis und unseren internen Kalender anschauen und dann über eine Teilnahme entscheiden", kündigt THQ-Mann Emmerich an. "Und wenn es eine reguläre Messe wird – Halle 8, Stand A11, wir sehen uns!" (Petra Fröhlich)