Ich liebe Frauen: Eine Betrachtung von Lea Irion

„Ich bin lesbisch“ ist ein Zugeständnis, das ich mir Zeit meines Lebens nie machen wollte – bis sich 2019 alles änderte. Eine Betrachtung.
10. August 2022 - 17:15
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Lea Irion

11. April 2019, Berlin Hauptbahnhof, 10:46 Uhr. Ich saß mit einem trüben Billigkaffee in einem von Menschenmassen überrannten Café. Gutes Intro für eine Love Story aus den Fünfzigern, ja, und so ähnlich hat es sich auch angefühlt, aber mit weniger Graufilter und Zigarrenrauch, eher quälend real und ganz sicher ohne Happy End.

Ich wartete elendig lange auf diese erlösende Filmklappe, die signalisieren sollte, dass der Spaß jetzt vorbei ist, aber sie kam nicht. Stattdessen starrte ich so lange hoffnungslos in meine Tasse, bis alle Luftbläschen an der Oberfläche des Kaffees verschwunden waren.

Herrgott. Die mittlerweile ungenießbare Plörre kam jetzt also zum Gefühlschaos obendrauf. Gleichzeitig signalisierte sie mir: Auch wenn du noch fünf Stunden hier hockst, ich werde mich nicht in Luft auflösen und deine Probleme werden es auch nicht tun.

True, dachte ich. The show must go on. Eigentlich eine Schande, dass oft nur der Chorus dieses legendären Queen-Klassikers an den Stammtischen der Nation gegrölt wird. Der Song ist so viel mehr als ein paar Noten zum zehnten Bier nach Mitternacht.

Outside the dawn is breaking, but inside in the dark I’m aching to be free.

Mein Kaffee schmeckte derweil so scheiße, dass ich retrospektiv behaupten könnte, ich hätte mir damit Mut angetrunken. Denn wer sich lauwarmen Kaffee vormittags an einem Berliner Bahnhof runterkippt, hat in einigen Belangen im Leben nicht die besten Entscheidungen getroffen. Und das traf in vielerlei Hinsicht sowieso auf mich zu.

Ich entsperrte also mein iPhone, drückte widerwillig auf dieses nervig-grüne Messenger-Icon und öffnete den Chat mit meiner Mutter. Ich konnte nicht mehr.

11:32 Uhr. „Ich habe übrigens mit ihm Schluss gemacht. Alles sehr komplex. Ich bin mehr an Frauen interessiert, Mom, es tut mir leid. Ich glaube, ich kann mein Leben nicht mit einem Mann verbringen.“

Bunte Unschuld
Was mich am Ende wirklich dazu getrieben hat, Mama per WhatsApp zu eröffnen, dass ich nicht nur meine Beziehung mit dem Mann in den Wind geschossen habe, den sie schon als Schwiegersohn auf Familienfotos gesehen hat, sondern jetzt auch noch als Lesbe aus meinem Berlin-Urlaub zurückkommen würde, weiß ich nicht.

Ich will den Bahnhofskaffee dafür verantwortlich machen, dass mein „Outing“ so scheiße war. Meine Jugend ist in Selbstzweifeln ersoffen, mein persönliches Glück konnte ich jahrelang nicht finden, weil Gesellschaft, weil Kirche. Aber das ist nur die halbe Wahrheit.

Die ganze Wahrheit ist bedeutend komplexer und in ihr trage ich eine nicht unerhebliche Eigenschuld. Sie ist unbequem, und sie wäre mir sympathischer, wenn sie in einem alten Umzugskarton im Keller meines Unterbewusstseins verrotten würde. Aber sie gehört zu einem ordentlichen Diskurs über sexuelle Orientierung und LGBTQI+ dazu.

Alles andere wäre der Gesellschaft gegenüber ungerecht, und wenn ich erreichen will, dass „Menschen wie ich“ toleriert und akzeptiert werden, muss ich meinen „Outing-Prozess“ als das ansehen, was er war: unnötig aufgeblasen und ungewollt inszeniert.

Traum und Albtraum
Das heißt nicht, dass das „Outing“ an sich unnötig war: Jener Tag in Berlin war der Beginn eines neuen Lebens für mich. Ich wünschte nur, es hätte nicht das Herzen eines Menschen gebraucht, um an diesen Punkt zu gelangen.

Denn überhaupt eine Beziehung zu einem Mann einzugehen war das Resultat aus omnipräsenter Heteronormativität und dem Verschweigen jeglicher Abweichung davon. Hier sehe ich gesellschaftliche und kirchliche Schuld.

Ich höre oft, man werde heutzutage gesehen, man spreche doch so viel darüber, und das höre ich immer dann, wenn der Christopher Street Day stattfindet, wenn es Demonstrationen gibt und weltbekannte Unternehmen Regenbogenschuhe und Pride-Shirts vermarkten und queere Menschen in Talkshows sitzen.

So funktioniert „Normalisierung“ von LGBTQI+ aber nicht. Damit es in der Gesellschaft ankommt, muss man einfach aufhören, es als eine „Besonderheit“ zu behandeln. Liebe muss am besten noch heute als die unwillkürliche Eingebung etabliert werden, die sie schon immer war.

Das ist auch etwas, was ich selbst erst lernen musste: Ich liebe nicht anders, ich liebe normal.

Man möge an dieser Stelle von Wutkommentaren absehen, die mich einer falschen Definition von „Normalität“ bezichtigen. Aber wer erreichen will, dass es auf diesem Planeten gerecht zugeht, muss jede*n so behandeln, als wäre sie*er nicht anders als man selbst. Die Schlussfolgerung: Wir sind alle normal, weil normal das neue individuell ist.

Wenn ich also will, dass es eines Tages kein „Outing“ mehr geben muss, dann darf ich mich selbst auch nicht so aufführen, als sei ich anders als alle anderen.

Irgendwie echt scheißegal
Es hätte in meiner WhatsApp-Nachricht nicht heißen dürfen „Mama, es tut mir leid“ sondern „Mama, es ist so“. Es ist okay, nicht heterosexuell zu sein. Es ist aber auch nichts Besonderes, es ist einfach normal.

Es ist sogar so normal, dass meine Mutter damals antwortete: „Wieso tut dir das leid? Du bist, wie du bist! Du darfst lieben wen du möchtest! Entscheide du, mit wem du dein Leben verbringen willst, für mich ist das okay!“

Ich will das ganze Thema nicht runterspielen. Wir müssen trotz aller Progression mehr darüber reden, offener mit Gefühlen und Gedanken umgehen und verhindern, dass erst einmal alle denken, dass sie heterosexuell seien.

Idealerweise wäre mein Leben dann anders abgelaufen. Idealerweise hätte ich meine wahren Gefühle mit 14 Jahren nicht verdrängt und nicht nur als „sehr starke freundschaftliche Gefühle zu Mädchen“ abgetan.

Idealerweise, und das ist das, was mich noch immer am meisten belastet, idealerweise wären keine Herzen gebrochen worden.

Ich habe mir mit 20 Jahren eingestanden, dass ich Frauen liebe (Anmerkung der Autorin: Heute liebe ich nur noch die eine). Dieses Eingeständnis hätte ich mir auch mit 14 machen können, wenn nicht noch früher. Die Gefühle waren schon damals überwältigend groß und präsent. Die extern in meinen Kopf gedrückte Heteronormativität leider auch.

Hätte, hätte…
Was also die Pointe dieser Zeilen ist? Keine Ahnung, um ehrlich zu sein. Ich nage wohl einfach noch heute daran, mich überhaupt „geoutet“ zu haben. Ich setze das bewusst in Gänsefüßchen, weil es etwas ist, das mir eigentlich total widerstrebt. Mich zum Mittelpunkt eines Gesprächs, einer Situation zu machen und einem Menschen etwas aufzudrücken, das ihn überhaupt nichts angeht und – seien wir ehrlich – auch einfach gar nicht juckt.

Vielleicht möchte ich aber auch einfach nur reinen Tisch mit mir selbst machen und sagen: Lea, du bist selbst schuld, du hättest im Prinzip einfach mit einer Frau aufkreuzen können und dein Umfeld hätte es akzeptieren müssen.

Hmmm… Ja. Und nein.

Denn es ist so, und da mache ich meinen Eltern keinen Vorwurf: Irgendwie dachten die ja auch immer, dass ich eines Tages mit dem süßen Dude aus der Paraklasse aufkreuze und man zusammen an die Ostsee fährt.

Hätte ich also nicht angekündigt, dass ich nach zwei (!) Beziehungen mit Männern (!!) jetzt nur noch mit einer Frau (!!!) nach Hause kommen würde, hätten die sicherlich etwas doof aus der Wäsche geguckt.

Akzeptiert hätten sie es gleichermaßen, aber wäre das fair gewesen? War es nicht schlichtweg meine Aufgabe, die Dinge aufzuklären? Aber vor allem: Hätte es das wirklich einfacher für mich gemacht?

Es sind Fragen, die ich nicht beantworten kann, weil ich nie wieder in dieser Situation sein werde. Es sind Szenarien, die ich in meinem Kopf tausendmal durchgespielt habe und von denen ich nie wissen werde, wie sie wirklich abgelaufen wären.

Hätte, hätte, Pride-Halskette. Schon klar.

In other words
Der Juni ist zusammen mit dem April mein Lieblingsmonat. Es ist der Monat, in dem ich mit der einen zusammengekommen bin. Ausgerechnet, und das haben wir wirklich nicht gewusst, am offiziellen CSD-Tag am 28. Juni. In diesem Jahr, 2022, sind wir drei Jahre zusammen.

Drei Jahre ist es her, als ich ihr einen Zettel in die Hand gedrückt habe. Die Papierfransen waren (und sind) noch dran, er war auch damals schon ein bisschen verknittert. Auf ihm stand in unschöner Füllerschrift: Willst du mit mir auf ewig Family Storys und Hilf-Mir-Folgen ansehen? (Und vielleicht ja auch mit mir gehen?) Ja, Nein, Vielleicht, GANZ SICHER!

Ich lebe seither ein anderes Leben. Mein „Outing“ hat mich von allem gelöst, was mich jemals zurückgehalten hat. Ich bin heute, und das ist fast noch untertrieben, ein anderer Mensch. Einer, der so viel mehr lebt, liebt, lacht, der so viel mehr geben kann als davor.

Ich habe so viel Dankbarkeit in mir. Besonders für jenen Menschen, dessen Herz ich brechen musste, um mein eigenes zu flicken. Ich wünschte, ich hätte andere Wege eingeschlagen, damit das nicht zu einer Notwendigkeit hätte werden müssen. Ich kann es nicht ungeschehen machen. Ich kann aber meine Geschichte erzählen und hoffen, dass es genau die Menschen erreicht, die sich darin wiederfinden.

Es ist okay, sich zu „outen“. Es ist okay, es nicht zu tun. Was aber niemals okay sein wird: Menschen in irgendeiner Form schief anzuschauen, verbal oder körperlich anzugehen, auszugrenzen, zu hassen, zu verletzen, zu denunzieren und anzufeinden, nur weil sie das Schönste am Leben spüren dürfen: Liebe. [Lea Irion]

My soul is painted like the wings of butterflies.
Fairy tales of yesterday, grow but never die.
I can fly, my friends.