Kate Edwards: “Mein Ziel ist wirklich grundlegend”

Interview: Kate Edwards über Culturalization
07. April 2020 - 13:13
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Kate Edwards

Sie ist Geographin, Autorin, Unternehmensberaterin, Geschäftsführerin des Global Game Jam – und sie war zehn Jahre Vorsitzende der International Game Developers Association: Kate Edwards gehört zu den einflussreichsten Persönlichkeiten der Games-Branche. Bereits 2005 gründete die US-Amerikanerin das Unternehmen Geogrify, das sich auf "Culturalization" spezialisiert hat. Im IGM-Interview erklärt sie den Begriff, gibt Beispiele für kulturelle Fehltritte in Games und spricht darüber, wie sich ihre Arbeit im Lauf der Jahre verändert hat.

IGM: Kate, worum geht es bei Geogrify?

Edwards: Geogrify ist meine Beratungsfirma. Ihr Schwerpunkt liegt auf dem, was ich "culturalization work" nenne. Ich helfe Spieleentwicklern, bei der Schaffung von Inhalten geopolitische und kulturelle Probleme zu umschiffen. Ziel ist, dass möglichst viele Menschen weltweit ihre Spiele genießen können.

IGM: Wie unterscheidet sich Geogrify von Lokalisierungsfirmen?

Edwards: Lokalisierung gibt es schon seit sehr langer Zeit. Aus meiner Sicht geht es dabei vor allem um Übersetzung – was natürlich super wichtig ist. Aber bei Culturalization konzentriere ich mich auf eine ganze Menge nichtlinguistischer Aspekte von Inhalten. Character-Design, Bezüge zu realer Geschichte, Religionen und sogar Fake-Religionen, das Verwenden von Symbolen, Gesten, Allegorien – all das sind Faktoren, die bei der Lokalisierung meist nicht berücksichtigt werden.

IGM: Wie viele Leute arbeiten für Geogrify?

Edwards: In erster Linie ich selbst. Ich habe aber einen Schwarm von Leuten, deren Hilfe ich bei Bedarf in Anspruch nehmen kann. Ich recherchiere viel selbst – ich bin Geografin und Kartografin, daher weiß ich, wo ich die notwendigen Informationen herbekomme. Aber manchmal ist ein sehr spezielles Wissen vonnöten, das ich nicht besitze. Dann outsource ich die Arbeit oder bitte jemanden um Input.

IGM: Was wäre ein aktuelles Beispiel für kulturelle Missverständnisse, die ein Spiel erzeugt?

Edwards: Beim neuesten Call of Duty: Modern Warfare gibt es ein paar Schwierigkeiten. Die Macher verwenden ein fiktionales Land, wenden darauf aber einige realweltliche Konzepte an. Sie benutzen zum Beispiel den Begriff "highway of death". Der Begriff stammt aus dem Ersten Golfkrieg. Die irakischen Soldaten zogen sich zurück, wurde aber von den alliierten Streitkräften verfolgt und auf dem Rückzug getötet. Im neuen CoD wird dieser Begriff für eine sehr ähnliche Situation verwendet. Gleichzeitig sagen die Macher aber, dass es nicht um den Irak geht, dass das Spiel in einem fiktiven Land stattfindet. Sie haben sich also nicht wirklich von der geschichtlichen Inspirationsquelle distanziert – sie haben nicht mal einen anderen Begriff verwendet. Sie hätten es ja zum Beispiel "the road of ruin" nennen können.

IGM: Warum ist das so problematisch?

Edwards: Im Kontext des Golfkriegs war der Begriff "highway of death" mit Unmenschlichkeit verknüpft – mit der Überschreitung des Akzeptablen. Allegorien sind ein wichtiges Werkzeug in Games und kreativen Medien. Dennoch sollten Schöpfer die "allegorische Distanz" zwischen dem echten Ereignis und dem Konzept im Spiel einhalten. Wenn man historische Tatsachen innerhalb fiktiver Geographie verwendet, muss man subtiler und nuancierter vorgehen. Im Lauf der Jahre haben das viele Games wirklich gut hinbekommen. Ich finde, dass die Nutzung fiktiver Orte als Allegorie von echter Geschichte sehr kraftvoll ist. Wir erleben das ständig in anderen Kreativmedien. Aber wir müssen bei der Nutzung sehr vorsichtig sein.

IGM: Hast du ein weiteres Beispiel für einen solchen Mangel an "allegorischer Distanz"?

Edwards: Ich habe unter anderem an Kameo für die erste Xbox mitgewirkt. Kameo spielt in einem vollständig fiktiven Universum. Dennoch gab es in dem Spiel am Straßenrand Holzkreuze als Markierungen für Gräber. Ich habe den Artist gefragt, was das zu bedeuten habe, er meinte: "Natürlich ist das eine Markierung für ein Grab." Meine Antwort: "In diesem Universum gibt es aber kein Christentum. Warum sollte es im Spiel also Holzkreuze geben?" Das macht einfach keinen Sinn. Ich nenne das einen Mangel an logischer Konsistenz.

IGM: Welches Ziel haben die Firmen, die dich anheuern? Geht es primär darum, ein Spieluniversum kohärent zu machen – oder darum, zu verhindern, dass bestimmte Zielgruppen wütend werden?

Edwards: Von beidem ein bisschen. Mein Ziel ist wirklich grundlegend: Ich möchte, dass weltweit so viele Menschen wie möglich das Spiel genießen können – und zwar so, wie es von den Machern entworfen wurde. Ich will die kreative Vision der Macher nicht zerstören – aber so manches, was Designer in das Spiel einbauen, ist nicht kompatibel mit anderen Kulturen. Meine Aufgabe ist also, sie hinsichtlich der Kompatibilität mit unterschiedlichen Kulturen zu beraten. In den meisten Spielen sind das sehr kleine chirurgische Eingriffe, zum Beispiel ein Symbol oder eine Geste. Und wenn Inhalte in einem bestimmten Markt veröffentlicht werden, muss ich verstehen, wie dieser Markt politisch, kulturell oder sozial tickt. Haben die gerade eine Wahl hinter sich? Sind die jetzt eher links oder rechts? Gibt es neue Regeln, die bestimmten Inhalten zuwiderlaufen? All das sind Faktoren, die ich berücksichtigen muss.

IGM: Es scheint ein Rennen zu sein, dass man nicht gewinnen kann – weil es immer Menschen gibt, die bestimmte Dinge missverstehen. So viele Dinge sind ambivalent. Wie macht man die Inhalte "wasserdicht"?

Edwards: Einer meiner Ratschläge an die Entwickler ist: Ihr werdet nicht alle Leute glücklich machen können. Und das solltet ihr auch gar nicht versuchen. Euer Ziel sollte sein, dass eure kreative Vision an möglichst vielen verschiedenen Orten funktioniert. Ich fordere die Entwickler immer wieder dazu auf, sich über bestimmte Fragen Gedanken zu machen: Wo wird das Spiel nicht funktionieren? Bis zu welchem Grad wird es nicht funktionieren? Wird es von einer Regierung verboten werden? Wird es die Konsumenten hochgradig wütend machen, für Boykotte sorgen? Oder werden sich die Leute darüber nur ein kleines bisschen aufregen, nach dem Motto: "Wir fänden es besser, wenn ihr das nicht so handhabt!"? Wenn ich mit Firmen zusammenarbeite und eine Culturalization Review mache, ordne ich alles, was mir unterkommt, bestimmten Schweregraden zu. Schweregrad 1 ist in meinem System beispielsweise ein "ship stopper": Das bedeutet: Ich weiß genau, dass die Firma definitiv Schwierigkeiten bekommen wird, wenn sie diesen Inhalt ohne Anpassung veröffentlicht – zum Beispiel ein Verbot oder eine andere schwerwiegende Maßnahme auf dem lokalen Markt.

IGM: Es ist also eine Frage der Verhältnismäßigkeit ...

Edwards: Ja. Spieleentwickler müssen ihre kreative Vision verfolgen – aber manchmal müssen sie auch nachgeben. Ändert man nur ein bestimmtes Detail – etwa ein Character-Design oder ein Symbol -, dann wird das Spiel dadurch auf einen Schlag kompatibel mit, sagen wir, Südasien. Wirkt sich das auf die Geschichte aus? Wirkt es sich auf die Spielerfahrung aus? Meistens nicht! Kleine chirurgische Eingriffe haben meist keine großen Auswirkungen auf das Gameplay und das Spiel insgesamt. Deshalb bringt man das einfach in Ordnung.

IGM: Aber besonders bei Indie-Games geht es doch vor allem um Sichtbarkeit, Aufmerksamkeit. Entwickler könnten auf die Idee kommen, ganz bewusst kontroverse Inhalte in ihr Spiel zu packen.

Edwards: Das passiert häufig. Ich habe an Spielen mitgearbeitet, bei denen rein provokative Design-Entscheidungen versucht wurden. Narrativ hatte das nicht wirklich Vorteile – es ging nur darum, Aufmerksamkeit zu erzielen. Ich halte das für einen billigen Trick. Das ist zu simpel.

IGM: Du würdest Entwicklern also nicht empfehlen, aus Marketing-Gründen zu provozieren?

Edwards: Das empfehle ich wirklich nicht. Die Sache ist doch: Die Menschen erinnern sich daran. Wenn du eine bestimmte Kulturgruppe wütend machst, werden sie sich daran erinnern. Das gilt auch für Regierungen. Wenn eine Regierung ein bestimmtes Spiel von dir verbietet – und wenn du dann Jahre später mit einem neuen Spiel ankommst -, dann werden sie sich an dich erinnern. Nach dem Motto: "Oh, ihr habt doch damals unsere Religion beleidigt. Na, dann wird das wohl eher nichts mit dem Release hier."

IGM: In welchem Stadium der Spielentwicklung kommst du dazu?

Edwards: Im Gegensatz zur Lokalisierung ist meine Arbeit schon zu Beginn der Entwicklung sehr hilfreich. Ich habe zum Beispiel an allen Bioware-Games seit Jade Empire mitgearbeitet. Bioware hat die Problematik verstanden, sie nehmen das wirklich ernst. Ich setze mich also schon bei Entwicklungsbeginn mit ihnen zusammen. Ich lese das Skript und schaue mir die Concept Art an. Ich will verstehen: Welche Welt entwerft ihr da? Wer kommt alles darin vor? Was machen die? Gibt es politische und soziale Gruppen? Abstammung, Geschlecht, all das. Ganz grundsätzlich will ich also die narrative Welt verstehen – und auch die Spielerfahrung. Ich muss das oft schon frühzeitig wissen, damit ich schon in einem frühen Stadium der Entwicklung entscheidendes Feedback geben kann. Ich kann den Entwicklern sagen, wenn ein bestimmtes Spiel oder Thema in einer Land oder einer Region wirklich problematisch sein kann. Wir können also schon sehr früh Dinge ändern, das ist dann sehr günstig und einfach – verglichen mit Änderung, die später im Produktionszyklus stattfinden. Um es nochmal zu betonen: Ich wähle da eher ein sanftes Herangehen, kein plumpes. In meiner Tätigkeit musste ich über die Jahre hinweg nur ganz wenige Male strenger sein und sagen: "Eure ganze Idee wird von vorneherein scheitern. Ihr müsst das Spiel komplett überdenken." Das kommt wirklich super selten vor. Meistens optimiere ich nur kleinere Dinge.

IGM: Ein Beispiel?

Edwards: Für viele Fantasy-Games wird eine Religion erschaffen, die zwangsläufig eine echte Religion widerspiegelt – meistens den Katholizismus. Er wird in einen Fantasy-Kontext übertragen und dann etwas umgemodelt – ein Beispiel ist Game of Thrones. In all den Dragon-Age-Spielen, an denen ich mitgearbeitet habe, gab es ähnliche Glaubenssysteme. Eine solche Vorgehensweise ist natürlich völlig ok. Gleichzeitig müssen wir dabei aber auch sehr vorsichtig sein. Es ist immer ein Problem, die Inspirationsquelle von dem abzugrenzen, was man tatsächlich selbst erschafft.

IGM: Hat die Empfindlichkeit für eine bestimmte Art der Repräsentation in den letzten Jahren zugenommen – etwa durch Social Media?

Edwards: Unbedingt. Ich vermisse manchmal die guten alten Zeiten – das mag rund 20 Jahre her sein -, als Spiele noch vorwiegend auf CD-ROMs und DVDs erschienen. Wir hatten damals noch ein bisschen mehr Kontrolle darüber, was mit den Inhalten passierte. Sie wurden nicht online distribuiert und es gab auch keine Social Media, in denen man sich über sie aufregen konnte. Wenn wir die Inhalte also in ein ganz bestimmtes Land schicken wollten, hat das auch meistens geklappt. Natürlich gab es immer schon einen Schwarzmarkt und all das – aber es geriet nicht außer Kontrolle. Heute hingegen sind Inhalte sofort überall verfügbar, besonders wenn sie digital sind. Jemand veröffentlicht ein Game – und binnen 24 Stunden findet man es auf DVD auf einem Straßenmarkt in Shanghai, wo es dann einen Euro kostet.

IGM: Mit Streaming und Games as a Service ist es womöglich einfacher, Fehler nachträglich zu korrigieren ...

Edwards: Stimmt. Ich denke, der Digitalvertrieb hat wachsende Vorteile gegenüber dem physischen Vertrieb, wenn es um das schnelle Beheben von Culturalization-Problemen geht. Ich denke aber auch, dass wir heutzutage mit verschiedenen Blasen arbeiten: Kulturellen Blasen, politischen Blasen und so weiter. Das Problem dabei ist, dass die Meinungen in diesen Blasen sehr viel polarisierter sind. Für Schöpfer von Inhalten ist es also sehr viel schwieriger geworden, wenn sie sagen: "Wir haben eine bestimmte kreative Vision, es geht um ein kontroverses Thema, aber genau deshalb machen wir das auch – wir wollen über dieses Thema reden." Und dann tauchen ganz viele Leute auf, die wütend darüber herziehen. Natürlich gibt es auch Leute, die sich für das jeweilige Thema aussprechen. Viele Schöpfer von Inhalten – nicht nur Spieleentwickler – haben heute das Gefühl, dass sie dabei nicht gewinnen können. Dass die Leute sie nur von allen Seiten anschreien werden. Für mich ist das ein Zeichen, das man auf dem richtigen Weg ist. Falls die Leute dich von allen Seiten anschreien, deutet das darauf hin, dass du deiner kreativen Vision treu geblieben bist.

IGM: Zumindest hast du alle gleichzeitig verärgert ...

Edwards: Genau. Ein weiteres Beispiel: Ungefähr 25 Prozent meiner Arbeit ist rein kartografisch und geopolitisch, hat also mit Games nichts zu tun. Ich habe ständig mit Mapping-Fragen zu tun, und häufig versuchen wir dabei eine Lösung zu finden, die beide Regierungen glücklich macht. Korea zum Beispiel nennt das Gewässer zwischen Korea und Japan "Ostmeer". Die koreanische Regierung betreibt Lobby-Arbeit bei Kartenherstellern, diesen Begriff zu verwenden – und nicht den Begriff "Japanisches Meer". Diese Auseinandersetzung gibt es seit vielen vielen Jahren. Als ich noch bei Microsoft tätig war und an Mapping-Produkten arbeitete, traf ich die Entscheidung, eine Doppelbezeichnung einzuführen. Der Begriff "Japanisches Meer" wird in den meisten Teilen der Welt verwendet – und auch von der International Hydrographic Organization in Monaco. Wir haben aber "Ostmeer" in Klammen darunter gesetzt, damit die Leute wissen, dass es zwei Bezeichnungen gibt. Weder Korea noch Japan waren mit meiner Lösung besonders glücklich, weil jetzt beide Namen auf der Karte auftauchten. Aber da wusste ich, dass ich richtig gehandelt hatte.

IGM: Wie oft passiert das in Games, zum Beispiel in RTS-Titeln?

Edwards: Auch in Games geht es manchmal darum, die "geopolitischen Vorstellungen" zu managen. Als ich an den Age-of-Empires-Spielen arbeitete, mussten wir hin und wieder die Geschichte anpassen, um lokale Regierungen zufrieden zu stellen – andernfalls hätten wir das Spiel auf dem jeweiligen Markt gar nicht verkaufen dürfen. Manche Leute schockiert es, dass – je nach Spielversion – auch unterschiedliche "Fakten" existieren. Aber das ist die Realität, wenn man Games oder andere Inhalte in unserer heutigen, dynamischen Kultur- und Social-Media-Landschaft veröffentlicht. (Achim Fehrenbach)