Gefühlssache: Wie Games unsere Emotionen beeinflussen

Jedes Spiel hat seine besonders intensiven, emotionalen Momente, an die wir uns gerne erinnern. Der Aufstieg zum Berggipfel in Journey, das Ende von The Last of Us, vielleicht auch das Gitarrespielen in Life is Strange. Ein Gutteil der Faszination liegt darin, dass wir in Spielen Handelnde sind: Wir entscheiden mit darüber, was genau geschehen wird. Die Interaktivität des Mediums hat große Auswirkungen darauf, was wir beim Spielen fühlen, ob das nun Freude, Ärger, Furcht, Trauer oder Stolz ist – oder eine der unzähligen Gefühlsabstufungen dazwischen. Wie aber gelingt es eigentlich Spielen, ganz bestimmte Emotionen in uns zu wecken? Das ist ein weites und komplexes Feld, mit dem sich Game-Design und Forschung gleichermaßen beschäftigen. Wer es als Game-Dev schafft, höchst virtuos auf der Gefühlsklaviatur zu spielen, kann damit den Spielspaß erheblich steigern – und Spielen so zu mehr Markterfolg verhelfen. In einer zweiteiligen Serie beleuchten wir, wie Spiele Emotionen wecken – und wie KI-Technologien zum Erkenntnisgewinn beitragen.
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© master1305 /stock.adobe.com
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Harold Halibut ist kein klassischer Videospielheld. Er ist kein Ritter in strahlender Rüstung, der mit kräftigen Hieben Monster vermöbelt. Er ist auch kein Action-Held, der sich lässig an Lianen über Abgründe schwingt und dabei aus allen Rohren feuert. Nein, Harold Halibut – Antiheld des gleichnamigen Spiels – ist einfach ein ziemlicher ruhiger Typ, der seinem Tagwerk als Hilfswissenschaftler in einem Labor nachgeht. Ok, das Labor ist nicht irgendwo, sondern befindet sich in dem Raumschiff „Fedora“, das auf einem fremden Planeten abgestürzt ist – und jetzt viele Meilen tief unter der Oberfläche eines Ozeans liegt. Die berühmte Wissenschaftlerin Jeanne Mareaux arbeitet unermüdlich daran, eine Energiequelle zu finden, mit der sich die „Fedora“ wieder flottmachen lässt. Ihr Hiwi Harold jedoch schlurft in aller Seelenruhe durch die Raumschiffgänge, erledigt Boten-Jobs und hört sich geduldig an, was die Besatzungsmitglieder umtreibt. Business as usual, möchte man meinen.

Unglaublich lebendig
Was das Spiel Harold Halibut allerdings von der ersten Sekunde an zu einem faszinierenden Erlebnis macht, ist seine Atmosphäre. Die Figuren wirken unglaublich lebendig und seelenvoll, wenn sie sich mit großen Augen anschauen. Die „Fedora“ mit all ihren Winkeln, Gängen, Schächten und Transportröhren ist kein kühles, technoides Setting, sondern wirkt eher wie ein organisch gewachsenes Gebilde, an dem keine Ecke wie die andere ist. Das Spiel verbreitet eine fast wohlig-gemütliche, aber auch melancholische Stimmung der Verschollenheit – ein bisschen Bioshock hier, ein bisschen Wes Anderson da. Wie „Harold Halibut“ das anstellt? Nun, das hat viel mit den anfänglichen Design-Entscheidungen zu tun. „Wir wollten ein Spiel machen, aber keiner von uns war ein Artist im herkömmlichen Sinne“, erzählt Onat Hekimoglu. „Deshalb haben wir uns entschlossen, das Set des Spiels zu basteln.“

 

Da kommt dann irgendwann das Uncanny Valley durch

 

Hekimoglu ist Mitgründer des Kölner Studios Slow Bros., das Harold Halibut Mitte April veröffentlichte. Die Team-Mitglieder begannen damit, die Spielkulissen und -Charaktere aus Holz, Metall, Kleber und anderen Materialien zusammenzubauen. Danach scannten sie alles ein, um es digital weiterzubearbeiten. Ursprünglich sollte das Spiel sogar komplett per Stop-Motion inszeniert werden – doch das wäre angesichts der 12 bis 18 Stunden Spielzeit dann doch zu aufwendig gewesen. Gleichwohl merkt man dem Spiel das Handgemachte deutlich an – ein Merkmal, das es klar aus der Masse an Neuerscheinungen heraushebt. „Bei vielen Games wird versucht, sich grafisch möglichst stark der Realität anzunähern“, sagt Ole Tillmann, der neben Onat Hekimoglu, Fabian Preuschoff und Ilja Burzev zum Kernteam von Slow Bros. gehört. „Da kommt dann irgendwann das Uncanny Valley durch – die Grafik hinkt der Realität immer etwas hinterher. Wir etablieren mit unserem Spiel von vorneherein eine künstliche Puppenwelt. Das verändert den Erwartungsrahmen – und wird von den SpielerInnen wahrscheinlich auch unterbewusst anders wahrgenommen.“ Tatsächlich erinnert Harold Halibut stark an die glorreichen Tage der Augsburger Puppenkiste – gerade auch wegen seiner Abstraktheit und fehlenden Perfektion. Onat Hekimoglu erläutert das an einem Beispiel: „Bei vielen Game-Charakteren wird nur die eine Hälfte modelliert – und die wird dann gespiegelt. Allerdings ist bei einem echten Gesicht nichts perfekt, da gibt es immer Unterschiede zwischen den Gesichtshälften.“ Auch würden in den meisten Games die Texturen aus sich wiederholenden Kacheln zusammengesetzt, so Hekimoglu. „Um das zu kaschieren und Übergänge zu schaffen, benutzt man gelayerte Texturen. Allerdings gibt es im Großen und Ganzen immer eine Wiederholung.“ Genau die gebe es bei Harold Halibut nicht, so der Game-Director: „Unsere Texturen enthalten Mikrodetails wie Fingerabdrücke und Pinselstriche.“

Hinter den Bildschirmen
Es sind genau diese vermeintlichen Kleinigkeiten, die mit darüber entscheiden, wie ein Spiel auf uns wirkt – und welche Gefühle es hervorruft. Diese Gefühle bewusst zu steuern, ist so etwas wie der Heilige Gral der Spieleentwicklung. „Gutes Game-Design bedeutet im Zusammenhang mit Emotionen: Es gelingt den DesignerInnen, bei den Spielenden jene emotionale Erfahrung hervorzurufen, die sie beabsichtigt haben“, sagt Nicolas Hoberg, der zusammen mit Jessica Kathmann und Benjamin Strobel das Team von Behind the Screens bildet. Mit dem Projekt wollen die drei PsychologInnen das Wissen ihrer Zunft für die Videospielbranche verfügbar zu machen. Behind the Screens betreibt dafür einen Podcast und ein Blog, hält Vorträge und Workshops – und berät Spielefirmen auch bei ihren Projekten. „Die Frage, welche emotionale Erfahrung ich bei den Spielenden hervorrufen will, zieht die Frage nach sich, mit welchen Mitteln ich das erreichen kann“, sagt Hoberg. „Die Herausforderung für die DesignerInnen besteht letztendlich darin, die richtigen Mittel für die richtigen Spielsituationen auszusuchen.“ Dabei stünden ihnen handwerklich so ziemlich alle Mittel zur Verfügung, die sich in Film oder auch Literatur etabliert hätten, erläutert Hoberg – als Beispiele nennt er Texte und Videosequenzen. „Was Games im Hinblick auf Emotionen aber zu etwas Besonderem macht, ist die Interaktivität“, so der Psychologe. „Aus dieser ergeben sich Emotionen, die sich durch andere Medien nur schwer hervorrufen lassen.“ Man handele durch einen anderen Charakter und könne sich mitunter in ihn hineinprojizieren: „Wir sind bis zu einem gewissen Grad verantwortlich für sein Handeln – und mit diesem Handeln kommt eine Palette von Emotionen.“ Das könne etwa ein Gefühl von Schuld sein, wenn man als Spielfigur etwas Falsches getan habe und nun mit den Konsequenzen leben müsse. „Das sind Erfahrungen, die überhaupt nur dieses Medium durch seine Interaktivität effizient zustande bringen kann.“

 

Mit diesem Handeln kommt eine Palette von Emotionen

 

Komplexe emotionale Erfahrungen lassen sich also besonders gut aus dem Gameplay-Loop heraus entwickeln. Hoberg nennt dafür ein weiteres Beispiel: „In Beholder 3 sind wir ein Spitzel und müssen andere Mieter eines Hauses überwachen und gegebenenfalls denunzieren. Da liegt es natürlich an uns, wie denunziantenhaft wir uns verhalten – und welche möglicherweise negativen Konsequenzen wir für andere in Kauf nehmen.“ Solche moralischen Dilemmata können Spielende zum Nachdenken und Nachfühlen anregen – und damit vielleicht auch ihre Einstellungen beeinflussen. Gleichwohl sollten sich Game-DesignerInnen immer auch der Tatsache bewusst sein, dass ein Spiel völlig unterschiedlich gespielt werden könne, betont Hoberg: „Man kann auch eine diebische Freude empfinden, andere zu denunzieren. Das ist auch ein möglicher Outcome des Game-Designs. Es wird wahrscheinlich nicht wenige Leute geben, die Beholder 3 genau deswegen spielen.“

Mangelndes Wissen
Laut Hoberg mangelt es im Game-Design häufig an Wissen über den Menschen und seine Emotionen. „Das ist genau die Lücke, in die wir mit unserem Projekt stoßen“, so der Psychologe. „Wir klären Game-Devs über unterschiedliche Typen von Spielenden auf, über relevante Persönlichkeitseigenschaften.“ Höchst wichtig seien dabei auch Aspekte wie die Spielmotivation und das Erleben von Flow. „Im Zentrum steht die Frage: Welche Erfahrung wird mit dem Spiel kreiert?“, so Hoberg. „Alles andere ist nur Mittel zum Zweck. Die Grafik eines Spiels kann beliebig simpel aussehen. Wichtig ist, was die Leute erfahren, wenn sie das Spiel spielen.“ Gelingt es dem Game-Design nicht, die Bedürfnisse der Spielenden zu befriedigen, dann kann das Gefühle von Frustration oder sogar Aggression befördern, warnt Hoberg: „Im schlimmsten Fall führt es dazu, dass die Leute das Spiel innerhalb des Reklamationszeitraums zurückgeben. Der ökonomische GAU, den jedes Studio vermeiden sollte.“

Mit seiner Beratungstätigkeit hilft Behind the Screens diversen Entwicklerstudios,  solche Klippen zu umschiffen. Momentan etwa berät das Team die Kölner Firma Mellow Games bei der Entwicklung des Spiels Blueberry. „Es behandelt unter anderem schwierige Themen wie etwa Suizid eines Familienangehörigen“, erläutert Hoberg. Die Darstellung solcher Themen gehe mit ethischen Fragen einher – etwa der, wie viel man den Spielenden zumuten könne. „Wie kann ich die Themen sensibel darstellen? Welche Maßnahmen sollte ich treffen, um die Spielenden damit emotional nicht zu überfordern?“, beschreibt Hoberg die Herausforderungen, die Behind the Screens bei der Beratung antrifft. In Blueberry etwa hadert die Protagonistin mit ihrer Mutterrolle und führt an einer bestimmten Stelle im Spiel einen Dialog mit ihrem inneren Dämon. „Der will ihr einreden, sie sei als Mutter nicht geeignet“, sagt Hoberg. Spielende hätten aber die Möglichkeit, dem – bis zu einem gewissen Grad – etwas entgegenzusetzen, etwa durch eine hoffnungsvollere oder zumindest ausgewogenere Perspektive, nach dem Motto: ‚Ich bin vielleicht nicht die perfekte Mutter, aber ich mache meinen Job, so gut ich kann.‘“ Beim Design der Dialog-Optionen komme es sehr stark auf einzelne Wörter und darauf an, welche Perspektiven transportiert werden, betont der Experte. „Wir haben viel darüber nachgedacht, wie wir diese Perspektiven und die dahinterstehenden emotionalen Haltungen punktgenau rüberbringen können.“

 

Je mehr wir also lernen, desto mehr Spaß haben wir – und andersherum

 

Riesiges Experiment
Georgios N. Yannakakis ist beim Thema „Emotionen in Games“ eine Koryphäe. Yannakakis ist Professor am Institute of Digital Games der University of Malta und forschte zuvor an der IT University of Copenhagen. „Ich beschäftige mich seit geraumer Zeit mit Emotionsforschung und Affective Computing – besonders mit der Anwendung von Emotionen in Spielen und den Herausforderungen und Möglichkeiten, die Spiele uns bieten, um Emotionen zu verstehen“, so der Wissenschaftler. Einer seiner Forschungsschwerpunkte ist dabei die Rolle künstlicher Intelligenz – speziell was Procedural Content Generation und Player Modeling betrifft. Auf dieser Basis hat Yannakakis auch das Start-up modl.ai mitgegründet – eine Firma, die Games-Entwicklung mit KI-Unterstützung verbessern will.  „Mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung spielt der­zeit täglich Games“, so Yannakakis. „Man könnte sagen, dass wir es mit dem größten Experiment menschlichen Verhaltens zu tun haben, das die Welt je gesehen hat.“ Emotionen in Games könne man untersuchen, um „den DesignerInnen zu helfen, den SpielerInnen bessere Produkte und Erfahrungen zu bieten“, betont der Forscher. Doch wie genau gehen ForscherInnen wie er das an?

Yannakakis betont, es gebe viele Theorien über gutes Game-Design, die sich auch mit Emotionen beschäftigen. Als Ausgangspunkt nennt er „A Theory of Fun for Game Design“ von Raph Koster. „Koster sagt, dass Spaß gleichbedeutend mit Lernen ist. Je mehr wir also lernen, desto mehr Spaß haben wir – und andersherum“, so Yannakakis. Präsentiere das Spiel uns ungenaue und schwer zu meisternde Muster, dann hörten wir mit dem Lernen auf. Das Gleiche gelte für Muster, die wir bereits beherrschten. „Man will nicht, dass sich Spielende zu sehr langweilen, man will nicht, dass sich Spielende überfordert fühlen“, erläutert der Wissenschaftler. „Man möchte, dass das Spiel Erfahrungen bietet, die irgendwo zwischen diesen beiden Gefühlszuständen liegen.“ In dieser Hinsicht ähnele Kosters Theorie dem von Mihály Csíkszentmihályi entwickelten Flow-Konzept, so Yannakakis. „Solange man also einen Spieler im ‚Flow-Kanal‘ halten kann, kann man ein optimales Erlebnis bieten.“ Das seien zwei der wichtigsten theoretischen Ansätze, um den Spaß in Spielen zu analysieren.

Zugleich gibt es in der Emotionsforschung aber auch stärker datengetriebene Ansätze, erläutert Yannakakis. „Dabei handelt es sich um Modelle, die auf der Analyse von Games basieren – und bei denen man im Wesentlichen verfolgt, was die Spielenden tun.“ Hier haben Yannakakis und KollegInnen einen vielversprechenden neuen Ansatz entwickelt: „In meinem Team versuchen wir, uns nur auf die Pixel auf dem Bildschirm und Interaktionsgeräusche zu verlassen“, berichtet der Experte. So könnten Computer-Vision-Systeme – wie etwa Convolutional Neural Networks – auf den Bildschirm schauen, zugleich den Ton aufzeichnen und aus all dem schließen, wie sich die Spielenden gerade fühlen. „Stellen Sie sich Ihren Spielbildschirm wie einen Spiegel Ihrer Gefühle vor!“, bringt es Yannakakis auf den Punkt. Klingt spannend!

In Teil 2 unserer Serie stellen wir die verschiedenen Mess- und Analysemethoden genauer vor, mit denen ForscherInnen die Emotionen der Spielenden zu entschlüsseln versuchen. (Achim Fehrenbach)

 

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