Täuschend echt: Welche Möglichkeiten die Unreal Engine 5 eröffnet

Großstädte, in deren Glasfassaden sich das Sonnenlicht tausendfach spiegelt. Zerklüftete Canyons, von deren Felswänden das Gestein bröckchenweise herabrieselt. Computerspiel-Charaktere, die kaum noch von echten Menschen zu unterscheiden sind ... all das war schon in Tech-Demos zu sehen, seit die Unreal Engine 5 die Entertainment-Branche erobert. Seit dem Launch der Vollversion Anfang April können Devs so richtig mit der Game-Engine von Epic loslegen. Die Erwartungen sind hoch, nicht selten ist gar von einer „Revolution“ die Rede. Wir haben zwei deutsche Spielestudios befragt, wie sie jetzt schon mit der UE5 arbeiten.
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Screenshot Youtube
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Momentan vergeht kaum eine Woche ohne eine neue, atemberaubende UE5-Demo. Mit Begeisterung laden Devs und Modder neue Videos ihrer Kreationen auf Youtube hoch. Ob filmreife Monsterkämpfe, Hochglanz-Remakes von RDR und Vice City, ein nachgebautes Orgrimmar für WoW-Fans oder ein gruseliger S-Bahnhof in Japan: Beim Betrachten der Demos kommt man aus dem Staunen kaum heraus – und muss teils schon sehr genau hinschauen, um Unterschiede zur Realwelt zu entdecken. Epic Games selbst hat schon in der Early-Access-Phase der UE5 mehrere brillante Demos vorgelegt, die einen Vorgeschmack auf die Leistungsfähigkeit der Engine bieten. In Valley Of The Ancient beispielsweise kraxelt eine Abenteurerin im Stil von Lara Croft durch Canyons und Tempelanlagen, die – zumindest auf den ersten Blick – kaum von realen Tälern und Gemäuern zu unterscheiden sind. Mit The Matrix Awakens brachte Epic schließlich sogar eine spielbare Demo auf die Konsolen – inklusive einer wilden Auto-Verfolgungsjagd, Schusswechseln mit Agent-Smith-Avataren und nicht zuletzt der Gelegenheit, Manhattan fliegend und zu Fuß zu erkunden. Ist das nun die Zukunft des Gaming?

Tim Sweeney sieht das jedenfalls so. „Wir versuchen, das Fundament für eine neue Generation von Games zu legen“, sagte der Epic-CEO in einem Interview mit gamesindustry.biz. „Die Unreal Engine 5 bringt uns dem Fotorealismus näher als jemals zuvor.“ Die Grafikpracht sei aber bei weitem nicht der einzige Vorteil der neuen Engine, so Sweeney weiter. „Das andere und wahrscheinlich noch größere Ziel ist, Content Creator noch produktiver zu machen, so dass sie Next-Gen-Games auch mit einem kleinen Team entwickeln können – und dabei qualitativ Hochwertiges auch ohne großes Budget produzieren.“ Technologische Hürden seien nur eines von mehreren Problemen der Industrie, betont Sweeney. Viele Produktionen fehle auch Zeit und Geld. Ziel von Epic sei, die Produktivität der Industrie zu erhöhen: „Damit ihr euch keine Sorgen mehr um Polygone machen müsst.“

Dem Fotorealismus näher als jemals zuvor

Polygone en masse
Eines der Vorzeige-Features der Unreal Engine 5 ist denn auch Nanite: Das Werkzeug erlaubt Entwicklern, 3D-Modelle mit enorm hoher Polygondichte in die Engine zu importieren. Anders als früher müssen die hochauflösenden Strukturen nicht mehr vorab gerendert werden – aufwendiges „Baking“ und „Normal Mapping“ gehören der Vergangenheit an. Stattdessen holt man sich die Polygonstrukturen direkt aus Tools wie ZBrush oder der Quixel Megascans Library, die Epic mittlerweile gehört. Ein weiteres Vorzeige-Feature nennt sich Lumen und kümmert sich um die Beleuchtung der Spielwelten. Ob nun die untergehende Sonne, eine Taschenlampe oder der Schein eines Lagerfeuers: Lumen setzt sämtliche Lichtquellen dynamisch in Szene, inklusive der mehrfachen Spiegelung auf Oberflächen unterschiedlicher Struktur. Dieses Ray Tracing sorgt – in Kombination mit der Detailfülle von Nanite – für genau jenen Grad von Realismus, der Spielefans und Kreative gerade so begeistert.

Ähnlich schnell wie die Zahl beeindruckender UE5-Demos wächst auch die Liste der AAA-Entwickler, die mit der neuen Engine arbeiten. Neben dem Epic-Flaggschiff Fortnite werden nun unter anderem auch das neue Tomb Raider, der neue Witcher, der Koop-Shooter Redfall und das Abenteuer Senua’s Saga: Hellblade 2 mit der Unreal Engine 5 entwickelt. Wie aber sieht es eigentlich mit den kleineren Studios aus, von denen Tim Sweeney ja auch spricht? Wie stark nutzen Indie-Entwickler schon jetzt die Toolbox der neuen Engine? „Als die Early-Access-Version der UE5 veröffentlicht wurde, waren wir sofort sehr interessiert und haben erste Versuche damit unternommen“, berichtet Michael Hengstmann, Lead Programmer von Spaceflower aus Nürnberg. Mit dem Start der Vollversion von UE5 migrierte Spaceflower sein Projekt Let Them Trade dann komplett auf die Engine. Hengstmann beschreibt das Spiel als eine „umgekehrte Öko- und Handelssimulation“: Als Schatzmeister des Königs  baut man Städte, die bestimmte Ressourcen benötigen – was dann wiederum computergesteuerte Handelsunternehmen, aber zum Beispiel auch Wegelagerer auf den Plan ruft. „Das Spiel soll eine gemütliche Brettspielatmosphäre bieten“, sagt Hengstmann. „Es soll wirklich so aussehen, als ob man in seinem Wohn- oder Esszimmer sitzt – und dann auf einem großen Tisch ein klassisches Tabletop-Game spielt.“ Die Spielfelder sollen aussehen wie aus echtem Holz – hier profitiert Let Them Trade stark von dem neuen Tool Nanite. „Es hilft, wenn man sehr detaillierte Modelle aus vielen Polygonen im Spiel nutzen möchte“, so der Programmierer. „Das war vorher einfach nicht möglich – die Modelle waren zu komplex, sie hatten zu viele Polygone, um ordentlich performant berechnet zu werden.“

Es soll wirklich so aussehen, als ob man in seinem Wohn- oder Esszimmer sitzt

In Let Them Trade kann man von der Kartenansicht bis fast in die First-Person-Perspektive der Spielfiguren hineinzoomen – und dank Nanite selbst kleinste Details bewundern. Auch Lumen kommt bei Let Them Trade zum Einsatz – zum Beispiel bei den Partikeleffekten, die immer dann entstehen, wenn SpielerInnen etwas erfolgreich gebaut haben. Auf dem Spielfeld stehen kleine Häuser, die sich mit Lumen ruckzuck illuminieren lassen. „Das Licht scheint dann aus den Fenstern heraus und beleuchtet die benachbarten Häuser. Früher war so etwas nur mit sehr aufwändigen Tricks möglich“, schwärmt Hengstmann. Mit Lumen hingegen müsse man nur die Oberflächen definieren – und dann die Position der Lichter und ihre Intensität bestimmen.

Flüssige Animationen
Auch Backwoods Entertainment setzt inzwischen auf die Unreal Engine 5. Das Essener Studio entwickelt gerade Resort (Arbeitstitel), ein surreales Abenteuer mit Anleihen bei Twin Peaks und Stranger Things. „UE5 kommt mit einigen Leuchtturm-Features, die heftig beworben und bestaunt werden“, sagt Backwoods-Mitgründer Marcus Bäumer. „Aber bevor das alles wirklich richtig geil in der Praxis funktioniert, müssen wir sicher noch ein paar Versionen abwarten.“ Aus Sicht von Bäumer sind eher andere UE5-Komponenten besonders interessant – zum Beispiel das Animationssystem für Charaktere, Performance-Features für offene 3D-Welten, das Physiksystem für Fahrzeuge und das Blueprint-Scripting-System, mit dem auch Artists direkt in der Engine arbeiten können. Besonders das Animationswerkzeug hat es Bäumer angetan: „Hier versteckt sich so viel verborgene Power, die vor allem für kleine Indie-Teams total wertvoll ist.“ Mit dem neuen Retargeting-System ließen sich viel einfacher als früher Animationen auf Skelette anderer Charaktere übertragen. Außerdem mache das Control-Rig-System für prozedurale Animationen die Charaktere wesentlich lebendiger. „Das war in der 4er-Version noch recht experimentell und ist jetzt total praktisch für uns“, freut sich Bäumer.

Auch Hengstmann glaubt, dass im Nanite- und Lumen-Trubel andere Features ein bisschen untergehen. Eines seiner Lieblings-Features nennt sich One File Per Actor – es ermöglicht, alle Objekte einer Spielszene in separaten Dateien zu speichern. „Bisher war eine Spielszene in einer Datei abgelegt“, erläutert Hengstmann. „Trotzdem hat man in einer Szene ja einzelne Objekte – zum Beispiel Spielfelder, Bäume oder Häuser.“ Waren mehrere Leute mit unterschiedlichen Objekten beschäftigt, führte das häufig zu Problemen – nun aber können sie kollisionsfrei nebeneinander arbeiten. Ein weiteres Lieblings-Feature von Hengstmann ist ein Algorithmus für prozedural generierte Level, das sogenannte Wave Function Collapse. „UE5 bringt dafür ein fertiges Plugin mit“, berichtet der Programmierer. Man müsse dem Algorithmus nur noch die Einzelbausteine für ein Level vorgeben, zum Beispiel Wasser, Gras und Steine – und dann noch definieren, welche Bausteine nebeneinander auftauchen dürfen. „Daraus generiert der Algorithmus dann eigenständig Level – und man muss dafür nichts mehr selbst programmieren.“

 

Hier versteckt sich so viel verborgene Power

 

Algorithmen füttern
Hengstmann glaubt, dass viele Hidden Features erst nach und nach von der Community entdeckt und zum vollen Einsatz gebracht werden. „Viele Features sind jetzt einfach da, man muss sie nur noch nutzen“, sagt er. „Dadurch wird es immer einfacher, Ideen umzusetzen, ohne gleich das Rad neu erfinden zu müssen.“ Aber auch mit der UE5 hätten Entwicklerteams immer noch genug zu tun, so Hengstmann: „Auch wenn es jetzt neue Algorithmen gibt, müssen immer noch Modelle gebaut und die Algorithmen mit Daten gefüttert werden. Außerdem ist immer noch viel Fein-Tuning notwendig.“ Auch Marcus Bäumer betont, dass die UE5 keine eierlegende Wollmilchsau ist: „Wer ernsthaft Spiele damit entwickeln will, braucht Zeit, Energie und viel Know-how.“ Für AnfängerInnen sei vielleicht sogar andere Software besser geeignet als die enorm vielschichtige Engine von Epic.

Wird die UE5 nun also die Spielebranche revolutionieren? Das größte Potenzial sieht Bäumer jedenfalls in der Verschmelzung von Film und Games. „Wir nutzen zwar meist ganz unterschiedliche Systeme der Engine, aber mit dem Sequencer schlagen sich jetzt schon alle rum“, sagt er. Animationsfeatures und Special Effects hätten viele Überschneidungen – und das könne in Zukunft „coole Kooperationen und neuartige Erfahrungen ermöglichen“. Auch Michael Hengstmann ist gespannt, was die Zukunft mit der UE5 bringt. Dass jetzt allerdings vollkommen neue Spielwelten entstünden, glaubt der Programmierer nicht: „Interessante Open Worlds sind vollkommen unabhängig von der Engine. Dafür braucht es vor allem gute Game-Designer.“ Wofür die UE5 allerdings eine überaus solide Technikbasis bietet. (Achim Fehrenbach)

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