Kolumne Lea Irion: Papa und ich, damals und für immer

Papa und ich suchen seit Jahren ein Videospiel, das uns mehr verbunden hat als wir je erahnen konnten. Eine Zeitreise.
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Papa und mich trennen mehr Dinge als uns verbinden. Trotzdem war das Verbindende immer stärker als alles, was zwischen uns stand. Es waren die Stunden, in denen wir zusammen kicken waren, gelacht und Erinnerungen geschrieben und die Tage genossen haben, als würden wir für immer 11 und 46 Jahre alt bleiben und das Leben uns nicht Stück für Stück voneinander lösen.

Es spielt keine Rolle, warum das so war. Dieser Text handelt von dem, was uns verbindet. Was zwischen uns stand, steht dort noch immer. Aber ich habe es akzeptiert. Ich habe gelernt, dem Verbindenden mehr Wert zu geben. Und das war unter anderem dieses eine Videospiel, das wir noch immer verzweifelt suchen, das wir nicht benennen können, weil uns der Titel über die Jahre abhanden gekommen ist.

Papa war schon immer der coole Zockerdad, mit dem man vor den Grundschulfreunden angeben konnte. Er hatte einen PC, der auf einem riesigen, schwarzen Schreibtisch stand, drumherum waren viele Ordner mit langweiligem Inhalt, graue Lautsprecher zierten links und rechts den quadratischen Bildschirm, und darunter waren so viele Kabel, dass ich immer Angst hatte, meinen Fuß darin zu verheddern und einen Stromschlag zu kriegen.

Moorhuhn, Mahjong, Minesweeper
Papas Bürostuhl war genauso cool wie er selbst. Wenn ich alleine drauf saß, versank ich fast vollends im dunklen Kunstleder und wenn ich mich weit genug nach hinten geworfen habe, hat die Lehne fast den hellblauen Teppichboden berührt. Papas Büro war mein verbotener Rückzugsort. Lange durfte ich ja nie drin sein, ich war schließlich noch sehr klein und wollte die von Mama angedrohten viereckigen Augen nicht riskieren. Eine Stunde war in Ordnung, viel zu kurz natürlich. Aber manchmal, wenn Papa Zeit hatte, hat sich die Stunde verdoppelt. Dann saß er auf dem großen Bürostuhl und ich auf seinem Schoß, dann waren meine Füße sicher vor der riesengroßen Kabelschlange und Papa konnte sowieso viel besser mit Maus und Tastatur umgehen.

Anfangs haben wir oft Lemmings gespielt, oder haben Moorhühner abgeknallt, oder haben Hugo durch lebensbedrohliche Savannen navigiert. Manchmal haben wir auch Mahjong gespielt, manchmal Poker, manchmal Minesweeper. Im Grunde war mir egal, was wir gespielt haben. Die Hauptsache war, dass Papa und ich auf seinem Bürostuhl saßen und außer Tastaturgeklacker und unserem Lachen nichts anderes zählte als dieser Moment.

 

Nichts anderes zählte als dieser Moment

 

Gefangen im Gedankenkarton
Eines Tages haben wir ein größeres Spiel angefangen. Eines, das nicht in ein paar Leveln oder Runden wieder von vorne begann. Es war ein Point-and-Click-Adventure, so viel wissen wir noch. Zumindest glauben wir, das zu wissen. Das Spiel hatte etwas Mysteriöses an sich, Musik war Mangelware, Soundeffekte wie Grasgeraschel und pfeifende Windzüge bestimmten das Gameplay.

Das war für mich als Kind einerseits sehr gruselig, andererseits fesselte es Papa und mich an den Bildschirm. Unser Protagonist schien alleine in dieser Welt gestrandet zu sein. Er kletterte in dschungelartiger Umgebung auf Baumhäuser, sammelte wohl Briefe oder Notizen in verlassenen Hütten. Wie das Spiel ausging? Wissen wir nicht. Die Pointe? Keine Ahnung. Die Story? Vergessen. Alles, was wir Jahre später noch wussten, war, dass man viel klicken musste, dass alles so geheimnisvoll, mystisch, ja gar okkult daherkam.

Die Tage verstrichen, wir wurden älter. Ich beherrschte Maus und Tastatur irgendwann alleine, habe Sonic Adventure immer und immer wieder durchgespielt. Ich war jetzt auch größer. Papas Beine sind eingeschlafen, wenn ich auf seinem Schoß sitzen wollte. Also hat Papa stehend dabei zugesehen, wie ich als blauer Igel durch Pixel- und Polygonwelten flitzte und die Bosse selbst besiegte. Mein Erwachsenwerden drängte sich zwischen uns, ohne uns voneinander zu lösen. Dafür waren später andere Faktoren verantwortlich.

37,2 Kilometer
Ich wurde 17, Papas Büro haben wir im alten Haus gelassen. Er wohnte jetzt woanders, hatte kein Büro mehr, der PC war sowieso zu alt geworden und landete im Wertstoffhof. Ich wandelte mich zur Konsolenspielerin, habe einen Monat vor meinem Abitur keine Sekunde mehr gelernt, weil da die Nintendo Switch rauskam und es dann einfach Wichtigeres gab als Karteikarten und Nachhilfekurse in Mathe. Papa zockte alleine auf einem Laptop in seiner Wohnung, exakt 37,2 Kilometer von meinem Sofa entfernt, auf dem ich jede Nacht zu lange saß.

Drei oder vier Stunden Schlaf waren gerade genug, um die ersten beiden Schulstunden mit einem lauwarmen Latte Macchiato aus der Mensa überleben zu können. Zocken fühlte sich jetzt anders an als auf Papas Schoß. Selbstbestimmter, aber einsamer. Da war niemand, der mich vor Kabelschlangen schützen konnte, der meine kleine Hand auf seine nahm und mit mir Moorhühner abknallte. Vor allem aber fehlte derjenige, mit dem ich wochenlang ein namenloses Spiel spielte, dessen Seltsamkeit weder mich, noch Papa losließ.

Wenn wir uns sahen, schwelgten wir so gerne in diesen Erinnerungen. Wir puzzelten die Bruchstücke zusammen, die wir in den staubigen Kartons unseres Unterbewusstseins gefunden hatten. Trotzdem scheiterten wir kläglich daran, dieses verdammte Spiel zu identifizieren. Was sollten wir schon googeln? „Point-and-Click-Adventure mysteriös Dschungel Baumhaus“? Das habe ich versucht und, na ja, es kam wie erwartet nichts dabei raus. Zugegeben, wir hätten uns mehr anstrengen können.

Geborgen im Vergessenen
Papa sagte, das Spiel sei schon installiert gewesen, als er den PC kaufte. Und es gibt Foren, die darauf spezialisiert sind, Spiele zu finden, deren Namen man nicht mehr kennt. Aber je öfter wir über dieses Spiel geredet haben, desto weniger wollten wir es kennenlernen. Im Gegenteil. Was hätten wir getan, wenn wir es gefunden hätten? Hätten wir uns das Spiel noch mal gekauft und es noch mal durchgespielt? Hätten wir wirklich riskieren wollen, unsere so wertvollen Erinnerungen achtlos durch neue, sehr viel unbedeutendere zu ersetzen? Natürlich nicht. Und das haben wir irgendwann realisiert.

Wir hatten stets die größte Freude, uns die Köpfe über dieses gottverdammte Videospiel zu zerbrechen. Es war wie ein Band, das uns trotz aller Steine, die zwischen uns lagen, zuverlässig beieinander hielt. Diese Steine liegen dort noch heute, aber Papa und ich haben gelernt, auf ihnen herumzuspringen und zu tanzen.

 

Wir haben uns nicht verloren

 

Jetzt und für immer
Es gab Zeiten, in denen wir uns so fern waren wie nie zuvor in unserem Leben, und trotzdem fühlte es sich nie so an, als hätten wir uns verlaufen. Heute weiß ich, dass die Erinnerungen dafür verantwortlich waren. Damals, ich 11, er 46, kickend, lachend, Erinnerungen schreibend. Wir sind entgegen unserer Hoffnungen älter geworden, Papa hat jetzt graue Haare und ich eine eigene Wohnung. Aber, und darauf bin ich sehr stolz: Wir haben uns nicht verloren.

Wir haben nach Papas Teppichbodenbüro nie wieder zusammen gezockt, wir haben unser mysteriöses Videospiel nie wieder gesehen. Aber das müssen wir auch nicht. Es ist seither eine von vielen Erinnerungen in unseren staubigen Gedankenkartons. Wenn ich könnte, würde ich alles genau gleich machen.

Papa sagt, er hatte nie das Gefühl, dass etwas zwischen uns stand. Ich schon, aber das tut nichts zur Sache. Wir sind das beste Gespann geworden, das wir in diesem Leben hätten werden können: der stolze Zockerdad und seine Konsolentochter, verbunden durch so viel mehr als nur dasselbe Lächeln, stur dem Leben trotzend, jetzt und für immer. [Lea Irion]

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