Wer dieses Jahr eifrig Neuerscheinungen gespielt hat, der hat womöglich auch einige Zeitreisen absolviert. Vielleicht war es ein Abstecher ins Sizilien des beginnenden 19. Jahrhunderts (Mafia: The Old Country), ins böhmische Mittelalter (Kingdom Come: Deliverance II) oder in japanische Kulturen des späten 16. oder frühen 17. Jahrhunderts (AC Shadows, Ghost of Yōtei ). Womöglich ging die Zeitreise auch geradewegs in den Kalten Krieg der 1960er Jahre (MGS Delta: Snake Eater Remake), den Widerstand gegen die Nazis (Indiana Jones and the Great Circle) oder eine kriminalitätsverseuchte US-Ostküstenstadt der 1980er Jahre (The Precinct). Vielleicht hat man auch eben mal die gesamte Menschheitsgeschichte durchgezockt und dabei seine ganz eigene Version gewählt. Ist in Civilization VII ja problemlos möglich.
Breite Resonanz
Die Beispiele zeigen: Historische Settings und Narrative sind bei Spielefans außerordentlich beliebt. Die Darstellung historischer Ereignisse und Kulturtechniken wird tendenziell auch immer aufwendiger – eben weil die Fans oft genau diese Sorgfalt und Hingabe schätzen. Klassische Fantasy- und Sci-Fi-Szenarios haben auch weiterhin ihre treuen, riesigen Zielgruppen. Doch wer heutzutage ein Action-, Strategie- oder Rollenspiel mit geschichtlichem Hintergrund herausbringt, kann ebenfalls auf breite Resonanz hoffen. Immer vorausgesetzt natürlich, das Entwicklerstudio findet einen Zugang, der Geschichte weder als reine Staffage noch als kunterbunte Kirmes fehlinterpretiert – und auch nicht in die Bräsigkeit rein faktischer Geschichts-Nachbeterei verfällt.
Zu den prominentesten „Geschichtsspielen“ des Jahres zählt zweifellos Anno 117: Pax Romana. Das Aufbauspiel von Ubisoft Blue Byte wird am 13. November für PC und Konsolen erscheinen – und schon jetzt scharren Anno-Fans gewaltig mit den Hufen. Der Untertitel „Pax Romana“ deutet es schon an: Das neue Anno spielt in einer Zeit, in der das Römische Reich einigermaßen stabil und friedlich war. Produktion und Handel florierten, der Reichtum floss in prachtvolle Bauwerke – und der kulturelle Einfluss Roms wuchs auch in entlegenen Provinzen wie dem keltischen Albion. Kurzum: Diese rund 200 Jahre umfassende Phase war so etwas wie das „Goldene Zeitalter“ der Römer. Für Ubisoft Blue Byte eignete sich die Pax Romana besonders gut als Anno-Backdrop. Aus Umfragen sei bekannt gewesen, dass „Rom einfach ein Lieblings-Setting der Fans ist“, schreibt Game Director Jan Dungel im offiziellen Devblog. „Viele Menschen kennen Rom und die Römer – sogar so weit, dass Teile dieses Wissens als Stereotypen betrachtet werden könnten.“ Für den Entwickler berge dies sogar ein gewisses Risiko, so Dungel: „Wir brauchten unsere eigene Sichtweise, die Anno-Sichtweise, auf das von uns gewählte Setting.“
Spielspaß im Fokus
In einem weiteren Devblog-Eintrag erläutert Dungel die Herangehensweise von Blue Byte genauer. Der allgemeine Geschichtsrahmen, den das Spiel aufspannt, „sollte unter Historikern keine großen Debatten auslösen“, schreibt er. Gleichwohl müsse man sich „die Rosinen herauspicken“ und Freiheiten bei der Geschichte nehmen, damit das Spiel Spaß macht. Dungel gibt ein Beispiel: Anno sei eine Welt der Inseln, ohne reale Ortsnamen, reale Menschen oder ein genaues Zeitmaß. „So entsteht sofort das Bild eines Paralleluniversums, das sich nicht unbedingt an die Regeln unserer Welt halten muss – und sich trotzdem real anfühlt!“. Die im Spiel vorkommenden römischen Gebäude seien von den KünstlerInnen sorgfältig recherchiert worden, seien aber auch ein Produkt künstlerischer Freiheit und gestalterischer Vorgaben. „Was die keltischen Gebäude angeht, so kann die Vermutung eines Künstlers manchmal genauso gut sein wie die eines Historikers“, betont Dungel. „Wir müssen uns immer vor Augen halten, dass wir es mit einer Epoche der Geschichte zu tun haben, über die es oft nur wenige Belege gibt.“ Auch an anderen Stellen habe man sich gewisse Freiheiten in der Darstellung genommen, so der Game Director. „Wir haben zum Beispiel beschlossen, dass Frauen in unserer parallelen Version der Geschichte eine größere Rolle spielen sollen als in der römischen Zeit“ – denn diese sei zutiefst patriarchalisch geprägt gewesen. Gleichwohl bemühe man sich auch hier, glaubwürdige Rollendarstellungen zu finden. Dungels Fazit: Man muss sich auch vom Realismusanspruch lösen können – nämlich dann, wenn „eine bessere Version des Spiels es erfordert“.
Die Rosinen herauspicken
Eine ähnliche Herangehensweise an die Darstellung von Geschichte hat das Studio Sucker Punch Productions bei Ghost of Yōtei. Das Action-Adventure, seit Anfang Oktober auf dem Markt, spielt rund 300 Jahre nach dem Vorgänger Ghost of Tsushima, im anbrechenden 17. Jahrhundert. Schauplatz ist die Umgebung des Mount Yōtei – also die japanische Insel, die heute Hokkaido heißt. SpielerInnen schlüpfen in die Rolle der Söldnerin Atsu, die sich auf einen Rachefeldzug gegen die Mörder ihrer Familie begibt. „Unser Spiel ist stark von der Geschichte inspiriert, aber wir bauen das Hokkaido des Jahres 1603 nicht Stein für Stein nach“, sagte Co-Creative Director Nate Fox in einem Interview mit videogameschronicle.com. Ghost of Yōtei sei ein fiktionales Werk, so Fox weiter. „Dennoch wollen wir, dass sich die Welt authentisch anfühlt – und dass wir den Kulturen mit großem Respekt begegnen, die es dort gab.“ Zum Glück habe man – als Teil von Sony – etliche japanische KollegInnen, die bei der geschichtlichen Einordnung des Spiels geholfen hätten. Ziel sei unter anderem gewesen, der Ainu-Kultur Hokkaidos in der Darstellung möglichst gerecht zu werden. „Deshalb haben wir BeraterInnen, die unser Spiel und unsere Skripte prüfen – und damit sicherstellen, dass wir die im Spiel porträtierten Gruppen respektvoll behandeln“, berichtet Fox. „Und dass unser Werk – auch wenn es Fiktion ist – ein Gefühl von Authentizität vermittelt.“ Fox‘ Co-Creative Director Jason Connell betonte, man wolle mit Ghost of Yōtei ein Entertainment-Erlebnis schaffen, „das die ganze Welt genießen kann“. Um das respektvoll und klug zu tun, sei die Beratung durch Fachleute so wichtig.
Balance-Akt
Die Balance zwischen historischem Anspruch und Unterhaltung muss also bei jedem Spiel neu gefunden werden. Dass es dabei aber nicht um haarkleine Authentizität gehen muss, betont Stephan Bliemel aka Steinwallen – Games & History, Deutschlands bekanntest Content Creator für historische Games. „Und zwar deshalb, weil Games keine Museen sind“, sagt Steinwallen im IGM-Interview. „Games sind Unterhaltungsmedien, manchmal auch Kunstwerke, aber grundsätzlich haben sie fiktionalen Charakter.“ Sie hätten denn auch die Freiheit, mit historischen Stoffen spielerisch umzugehen – genau wie das auch bei Literatur, Malerei, Musik oder Filmkunst möglich sei. „Etwas schwieriger wird es, wenn die Spiele von sich selbst behaupten, dass sie historisch authentisch sind“, sagt Bliemel. „Dann sollte man genauer hinschauen und dann kann auch die Debatte anders geführt werden.“
Persönlich am spannendsten findet der DCP-Preisträger („Spieler des Jahres 2025“) Europa Universalis V, das am 4. November erscheint. „Ich habe schon seit einigen Wochen Zugriff auf das Spiel, daher habe ich schon einen guten ersten Eindruck“, berichtet Bliemel. „EU5 ist ein größenwahnsinniger, aber auch faszinierender Versuch, Weltgeschichte vom 14. bis zum 19. Jahrhundert in einem Umfang und in einer Komplexität zu simulieren, wie es bisher noch nicht versucht wurde.“ Das Spiel sei auch nur der Auftakt für eine jahrelange Weiterentwicklung und Vertiefung. Seit Paradox Interactive ihm Zugang zu EU5 gewährt hat, steht Steinwallen – wie andere Creator auch – in regem Discord-Austausch mit den Entwicklern. „Ein paar Tage vor Release werde ich die Möglichkeit haben, das Spiel öffentlich zu zeigen und zu spielen“, sagt er. „Vermutlich werde ich in diesem Rahmen auch ein Sponsoring von Paradox dafür annehmen.“ Das Geld werde er aber – wie gewohnt – für einen gemeinnützigen Zweck spenden, „da ich mich nicht durch Sponsorings finanziere“. Bei der Finanzierung seiner Content-Produktion setzt Bliemel auf Crowdfunding, Spenden, Merchandise und Werbeeinnahmen aus der (mittlerweile beträchtlichen) Social-Media-Reichweite.
Let‘s Play als Rollenspiel
Wenn er historische Games porträtiert, wählt Steinwallen eine spezielle Herangehensweise: Er übernimmt eine Rollenspielposition. „Es geht dabei darum, dass man nicht immer nur daran denkt, zu gewinnen oder das Optimale aus einer Lage herauszuholen, sondern dass man sich auch die Geschichte – im Sinne von Story – einlässt, die man auch in Strategiespielen erleben kann“, sagt er. Momentan spielt Bliemel noch den Vorgänger Europa Universalis IV, und zwar als Hochmeister des Deutschen Ordens – eines katholischen Ritterordens. „Meine ZuschauerInnen dürfen mitentscheiden, wie es weitergeht – und oft geht es bei den Entscheidungen nicht um die rechnerisch beste Lösung, sondern darum, aus der Perspektive eines christlichen Ordens zu handeln“, erläutert er. Es gehe hier nicht darum, irgendwelche Punkte oder Achievements zu sammeln – sondern darum, die politische Agenda des Deutschen Ordens möglichst originalgetreu zu verfolgen.
Mitentscheiden, wie es weitergeht
Wirklich beeindruckt hat Bliemel in diesem Jahr noch ein weiteres Spiel: The Darkest Files, das Detektiv- und Gerichtsspiel von Paintbucket Games aus Berlin. Hier schlüpft man in die Rolle einer Nachwuchs-Staatsanwältin im Deutschland der 1950er, die im Team von Fritz Bauer mögliche Verbrechen aus der Nazi-Zeit aufklärt und vor Gericht bringt. „Die Geschichten des Spiels sind sehr detailliert recherchiert und eindrücklich erzählt“, lobt Bliemel. „Gleichzeitig funktioniert das Spiel auch als Detektivspiel hervorragend.“ Nur selten sei er bisher von Spielen so tief in eine komplexe historische und moralische Gemengelage – also Nazizeit und Nachkriegszeit – hineingezogen worden, „ohne dass es offensichtlich didaktisch oder moralisierend wirkt“.
Wohnung als Zeitzeugin
Hochinteressant ist auch ein Game, das am 17. November auf Steam erscheint: The Berlin Apartment erzählt die Geschichte einer Berliner Altbauwohnung über den Verlauf eines ganzen Jahrhunderts. Als Rahmenhandlung dient die Arbeit eines Handwerkers in der Jetztzeit, der die Wohnung renoviert – und dabei etliche Relikte aus vergangenen Zeiten findet. „Wir wollen das Spiel sowohl Menschen näherbringen, die Berlin bereits kennen, als auch solchen, die mit der Stadt und ihrer Geschichte gar nicht vertraut sind“, umschreibt Marina Díez die Zielgruppen. Díez ist Game-Designer beim Entwicklerstudio btf und Game-Director bei Blue Backpack, einem neu gegründeten Indie-Publisher von btf. „Aufgrund der Spielmechaniken und Erzählweise könnte das Spiel gleichermaßen für Menschen interessant sein, die sich vor allem für die Geschichte der Stadt interessieren – wie auch für jene, die Adventure- und narrative Spiele mögen“, sagt sie. „Wir erzählen außerdem gerne Geschichten mit universellen Themen in sehr lokalen Umgebungen – und vielleicht liegt genau darin ein Teil der Magie unserer Spiele.“
Bei der Recherche für The Berlin Apartment hat btf keine Mühen gescheut. „Wir haben viele verschiedene Dokumentationen angeschaut und eine große Menge an Bildmaterial von Orten in der Stadt gesammelt, die uns bedeutend oder interessant erschienen“, berichtet Díez. Außerdem habe man etliche Dokumente und Zeitzeugenberichte berücksichtigt – laut Díez „eine wahre Fundgrube für Inspiration und Recherche“. Die Game-Designerin erzählt, dass viele Dialoge aus der 1945er-Episode des Spiels direkt auf Berichten über Weihnachtsfeiern nach dem Krieg basieren: „Das Essen von Zahnpasta, der zwielichtige Nachbar, der ständige Hunger usw.“ Im Zuge der Recherchen besuchte das Entwicklerteam auch mehrere Museen, etwa das Berliner Zille-Museum. „Außerdem haben wir für jede Epoche mit entsprechenden BeraterInnen zusammengearbeitet“, sagt Díez. Bei der Episode aus dem Jahr 1933 sei das beispielsweise die Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus gewesen. Weil ein Großteil des btf-Teams in Berlin lebt, flossen auch viele persönliche Erfahrungen und Erinnerungen in die späteren Episoden ein.
Keine Geschichtsstunde
Wie aber sieht btf die bereits erwähnte Balance zwischen Anspruch und Unterhaltung? „The Berlin Apartment ist als Kunstwerk und Unterhaltung gedacht, nicht als Geschichtsstunde – und das erlaubt uns, Letzteres zu priorisieren“, betont Díez. Dennoch gebe das Festhalten an historischen Fakten und Motiven der Geschichte eine gewisse Glaubwürdigkeit und mache das Setting interessant. „Da es sich aber in erster Linie um ein Spiel und um Unterhaltung handelt, haben wir natürlich manchmal künstlerische Freiheiten genutzt oder Grenzfälle aufgegriffen, um die Geschichten zu erzählen, die wir erzählen wollten“, berichtet die Expertin. Als Beispiel nennt sie das Telefon im Spiel. Tatsächlich sei es ja nicht besonders wahrscheinlich, dass eine Berliner Wohnung seit den 1930er Jahren durchgehend ein Telefon hatte. „Also haben wir es eingebaut, weil es half, die Geschichten in jeder Episode zu erzählen.“ Beim Sichtbarmachen von The Berlin Apartment setzt btf stark auf Social Media. „Wir finden, dass Instagram, Bluesky und TikTok derzeit die besten Plattformen sind, um die Faszination und den Inhalt des Spiels zu vermitteln“, sagt Díez. Die meisten Interaktionen erzeuge man über Videos; Content Creator seien grundsätzlich sehr wichtig – und auch diverse Game-Festivals, auf denen btf das Spiel präsentieren könne – etwa im Sommer auf der gamescom.
Berlin scheint ein gutes Pflaster für Indie-Studios zu sein, die sich historischen Stoffen widmen. Jedenfalls ist auch Tarock Interactive aus Berlin-Oberschöneweide gerade dabei, ein solches Spiel zu produzieren. „Lost Legions ist ein Open-World-Survival- und Crafting-Spiel, das wir mit viel Leidenschaft für die Genrefans entwickeln“, berichtet Jens Kortboyer, der das Studio zusammen mit Felix Dreyfus gegründet hat. „Besonders spannend wird es durch unser Setting: Wir greifen ein selten behandeltes, historisches Thema auf – die Schlacht im Teutoburger Wald – und sprechen damit sowohl Survival-Spielenden als auch Geschichtsinteressierte und Rom-Enthusiasten an.“ Ein konkretes Release-Datum gibt es für das Spiel zwar noch nicht, allerdings sei die Community jetzt schon sehr international, sagt Kortboyer. „Der größte Teil ist englischsprachig, gefolgt von deutschsprachigen Spielenden und – für uns überraschend – einer großen japanischen Fangemeinde.“ Die Kernzielgruppe von Lost Legions seien Core Gamer mit einem leistungsfähigen PC; man entwickle das grafisch aufwendige Spiel mit der Unreal Engine 5. Lost Legions richte sich an Leute, „die sowohl Survival und Crafting mögen als auch Freude an historisch inspirierten Szenarien haben“. Den „Player Zero“ beschreibt Kortboyer als „männlich, 30 plus, Survival-Fan, geschichtlich interessiert, PC-Spieler“. Diese Kategorisierung sei natürlich etwas überspitzt, gibt er zu. Im Grunde entwickle man jedenfalls exakt das Spiel, das man selbst gerne spielen wolle. „Aber genau das erlaubt uns, authentisch zu bleiben und unserer Intuition zu vertrauen.“
Mythologisch angereichert
Wie wichtig ist nun Tarock Interactive die geschichtliche Authentizität? Die Schlacht im Teutoburger Wald gibt ja einiges her, allerdings ist Lost Legions auch ein – zwangsläufig verdichtetes – Action-Game. „Unser Ziel ist es, ein historisch fundiertes, aber auch mythologisch angereichertes Spiel zu schaffen“, betont Kortboyer. „Im Vordergrund steht dabei immer das Spielerlebnis.“ Die Grundregel laute deshalb, dass alles Übernatürliche für die Figuren im Spiel plausibel wirken müsse. „Deshalb orientieren wir uns stark an den Überlieferungen der Edda, der wichtigsten Quelle der nordischen Mythologie“, berichtet der Game-Designer. Übernatürliches geschehe stets den Spielenden, sie wirkten es aber nicht selbst. „Keine Sorge“, beruhigt Kortboyer: „Feuerball-schleudernde Legionäre wird es bei uns nicht geben.“ Ein vieldiskutiertes Thema sei die Wahlmöglichkeit zwischen männlichen und weiblichen Avataren. „Historisch gab es natürlich keine römischen Soldatinnen“, sagt Kortboyer. „Da Lost Legions aber ein Koop-Spiel für bis zu vier Personen ist, wollten wir die Option anbieten.“ In der Spiellogik erklärt Tarock Interactive dies damit, dass die weiblichen Avatare aus dem zivilen Tross stammen, der eine Legion begleitete. „Dieser Spagat zwischen Gameplay und Geschichtstreue wurde viel diskutiert – in der Community wie im Team“, berichtet Kortboyer. „Die Realität zeigt aber: Weibliche Avatare werden sehr gerne gespielt, und genau das zählt für uns am Ende.“
Feuerball-schleudernde Legionäre wird es bei uns nicht geben
Grundsätzlich, so Kortboyer, behandle man Geschichte wie eine bekannte Marke, etwa Star Wars oder Harry Potter. Will heißen: „Es gibt klare Regeln, was geht und was nicht.“ Um diese „Epocheregeln“ zu definieren, habe man sich einen Experten ins Boot geholt: Lukas Grüning, Archäologe und Absolvent des Winckelmann-Instituts der Humboldt-Universität. Grüning habe das Entwicklerteam in der Konzeptionsphase eng begleitet und versucht, sämtliche offenen Fragen zu beantworten – von der Alltagskultur über die Architektur bis hin zu Rüstungsdetails. „Lukas hat uns geholfen, einen fundierten Wissenskatalog zu erstellen“, freut sich Kortboyer. Die Fragen seien teils allgemein und teils sehr spezifisch gewesen, beispielsweise: „Welche Rüstungen gab es wirklich? Wie sahen germanische Siedlungen aus? Wie ernährten sich Legionäre? Welche Rolle spielte der Glaube?“ Lukas‘ Aufgabe sei oft gewesen, die Mythen von den Fakten zu trennen. „Gerade zur germanischen Seite gibt es nur wenige Quellen, und die sind nicht immer zuverlässig“, gibt Kortboyer zu bedenken. „Oft mussten daher mehrere Indizien kombiniert und in eine ‚bestmöglich informierte‘ Annahme übersetzt werden.“ Besonders hilfreiche Quellen seien für Grüning Fachliteratur und Bildbände über die Heere von Arminius und Varus gewesen – diese hätten dann auch als Grundlage für die Charakter- und Weltgestaltung gedient. Dazu kamen wissenschaftliche Datenbanken wie etwa JSTOR. Laut Kortboyer konnte man auf diese Weise viele Elemente nicht nur glaubwürdig, sondern auch visuell ansprechend ins Spiel übertragen.
Reger Dialog
Auch der Dialog mit der Community war und ist für Tarock Interactive sehr wichtig. Dieser findet vor allem auf Discord und in Steam-Foren statt, aber auch über Social-Media-Kanäle wie TikTok und X. „Viele Spieler legen großen Wert auf Authentizität, und Lukas hat uns dabei unterstützt, fundiert und nachvollziehbar auf kritische Fragen zu reagieren“, so Kortboyer. In der nächsten Phase will Tarock Interactive auch mit Content Creators und Streamern zusammenarbeiten, um mehr Sichtbarkeit für das Spiel zu erzeugen. „Gerade Creator mit einem Fokus auf historische Settings sind dabei für uns besonders spannend, weil sie genau die Brücke schlagen, die Lost Legions ausmacht: Gameplay mit geschichtlichem Tiefgang“, sagt Kortboyer.
Ob Antike, Mittelalter oder Neuzeit: Die Nachfrage nach historischen Settings wächst offensichtlich – und damit auch das Angebot der Studios. Für Spielefans steigt in jedem Fall das Angebot an digitalen Zeitreisen. (Achim Fehrenbach)