„Ein Neubeginn“: Vertigo Games im Interview

Vor kurzem hat die Embracer Group wieder zugeschlagen – und Vertigo Games übernommen. Das Besondere: Die niederländische Firma ist auf Virtual Reality spezialisiert. Als Entwickler, Publisher und Distributor für Location-based Entertainment gehört Vertigo Games zu den erfolgreichsten Multiplatform-VR-Firmen: Ihr Zombie-Game Arizona Sunshine ist ein Bestseller, schon bald soll mit After The Fall ein weiterer VR-Blockbuster erscheinen. Wir haben mit Kimara Rouwit (Director of Business Development) und John Coleman (Marketing Director) über den Embracer-Deal, VR-Besonderheiten und Eis-Kreaturen in After The Fall gesprochen.
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IGM: Kimara, John, was habt ihr von Arizona Sunshine gelernt, das ihr auf euer neues Spiel After The Fall anwenden könnt?

Kimara Rouwit: Wir haben von Arizona Sun­shine gelernt, was Gamer von einem Action-Spiel in einer postapokalyptischen Welt erwarten. Arizona Sunshine ist unsere Version dessen, wie eine Zombie-Apokalypse unter "realistischen" Bedingungen aussehen würde. Aber After The Fall ist ein großer Schritt davon weg. Es ist so etwas wie ein Neubeginn, eine neue Welt, in der alles wieder möglich wird – und in der wir die Regeln umschreiben können.

IGM: Inwiefern?

Rouwit: In der Welt von After The Fall ist die Zivilisation zum Stillstand gekommen – in den 80er Jahren. Die Handlung des Spiels setzt 20 Jahre später ein. Man spielt eine Figur, die vielleicht die Apokalypse erlebt hat – aber das ist nicht ihre heutige Realität. Im Spiel ist man daran gewöhnt, zu überleben – sich an die Überreste der Zivilisation zu klammern und die Menschheit am Leben zu erhalten. Die Waffen jedoch basieren auf 80er-Jahre-Technologie. Zum Beispiel gibt es ein Gerät, das stark von einem Walkman inspiriert ist, einem ikonischen Stück Hardware der 80er Jahre – das aber als Raketenwerfer fungiert. Das ist zwar nicht realistisch, macht beim Spielen aber enorm viel Spaß – denn damit kann man dutzende Zombies gleichzeitig in Schach halten. Übrigens sprechen wir nicht von "Zombies", sondern von "Snowbreed" – denn es handelt sich um menschenähnliche Kreaturen, die sich durch ständige Kälte und Designer-Drogen weiterentwickelt haben. Diese Geschöpfe sind sehr vielfältig, was das Gameplay auflockert und die Regeln der Realität bricht – aber in einer guten Weise, als schnelles, action-reiches Spiel.

IGM: Welche Lehren habt ihr noch aus Arizona Sunshine gezogen?

Rouwit: Eine weitere Lehre ist, dass die Leute so viel Freiheit wie möglich in den VR-Gameplay-Settings haben wollen. Denn was bei einem VR-Spieler funktioniert, funktioniert bei einem anderen nicht. Nehmen wir als Beispiel die Wahl zwischen Teleporting und freier Bewegung. Das ist eine sehr persönliche Entscheidung, weil man sich in VR stärker im eigenen Körper fühlt als bei herkömmlichen Games. Von diesen Auswahlmöglichkeiten gibt es viele. Zum Beispiel, ob man sich lieber bücken möchte, um etwas aufzuheben – oder ob man das durch Range-Picking tun will. Das hängt vom User ab – und auch von der Plattform, für die wir das Spiel bauen. Wir ermöglichen also zweierlei Zugang: Komfort oder Immersion. Dabei gibt es viele Möglichkeiten, das Gameplay anzupassen – in Richtung kompletter Komfort oder in Richtung komplette Immersion. Zwischen beidem muss ja abgewogen werden, nicht wahr? Aus Arizona Sunshine haben wir auch gelernt, dass die Spieler sehr hungrig auf Multiplayer-Content sind – Spielabschnitte zu wiederholen, sich dadurch erneut ins Spiel hineinziehen zu lassen. In After The Fall gibt es einen Singleplayer-Modus, der wirklich cool ist. Im Mittelpunkt steht allerdings der Vier-Spieler-Koop-Modus. Was wir noch gelernt haben: Die Leute wollen ihren eigenen Kampfstil wählen. Sie wollen voll in den Nahkampf gehen – denn sie spielen ja nicht ohne Grund VR: Sie wollen die komplette Immersion. Dazu gehört, dass sie in ihrer Umgebung Dinge aufheben können, um damit – als letztes Mittel – Zombies abzuwehren. So etwas ist in After The Fall möglich. Also: Obwohl After The Fall und Arizona Sunshine postapokalyptische Geschöpfe haben, sind es zwei sehr unterschiedliche Spiele.

Sie unterstützen uns mit viel Erfahrung und Expertise

IGM: Sprechen wir über euer Unternehmen. Vertigo Games wurde kürzlich von der Embracer Group gekauft. Welche neuen Möglichkeiten ergeben sich daraus für euch?

Rouwit: In den letzten Jahren ist VR als Medium sehr stark gewachsen. Wir haben uns wirklich viel Mühe gegeben, damit mehr VR-Games Erfolg haben. Als Publisher haben wir auch schon etliche VR-Titel veröffentlicht – von unserem eigenen Studio, aber auch von externen Studios. Für die kommenden zwölf Monate haben wir sechs weitere VR-Spiele in der Pipeline. Wir sind da sehr ehrgeizig. Indem wir Teil der Embracer Group werden und uns Koch Media anschließen, können wir unser Wachstum beschleunigen und unsere Ziele schneller und besser erreichen – denn sie unterstützen uns mit viel Erfahrung und Expertise. Die können wir so für unser Unternehmen nutzen, wie wir es für unser Wachstum brauchen.

IGM: Ihr werdet also mehr Leute einstellen?

Rouwit: Das ist eine von mehreren Sachen, die wir definitiv in Betracht ziehen.

John Coleman: Wir können auch auf weitere Ressourcen der Firma zurückgreifen. An der Embracer Group mögen wir zum Beispiel, dass das nicht verlangt wird – sondern dass wir diese Ressourcen nutzen können, wenn sie einem Spiel zugute kommen. Bei PSVR-Games beispielsweise können wir die physische Distribution nutzen, was super hilfreich ist. Es gibt noch viele weitere Ressourcen, die unser Wachstum beschleunigen helfen – auf die wir zurückgreifen können, anstatt entsprechendes Personal selbst anzuheuern.

Rouwit: Uns gefällt sehr gut, dass Koch Media im Herzen eine Gaming-Firma ist. Sie haben tolle Produkte und eine DNA, die der unsrigen sehr ähnelt.

IGM: Metro zum Beispiel. Das könnte auch als VR-Game funktionieren, oder?

Rouwit: Sie haben eine Menge toller IPs, die in VR funktionieren könnten. Wir sind gerade noch dabei, unsere neuen KollegInnen kennenzulernen. Es ist noch zu früh zu sagen, was alles möglich ist.

Vertigo ist der VR-Publisher innerhalb der Unter­neh­mensgruppe

IGM: Was könnt ihr über die Games sagen, die in den kommenden Monaten erscheinen sollen?

Rouwit: Dazu kann ich jetzt noch keine Details nennen. Was ich sagen kann, ist: Wir erschließen dadurch komplett neue Zielgruppen. Diese Herangehensweise an VR ist eher am Mainstream orientiert.

IGM: In welchen anderen Bereichen werdet ihr mit Koch Media zusammenarbeiten? Man denke nur an das – bereits angesprochene – riesige Distributionsnetzwerk.

Rouwit: Das werden wir uns sicher genau anschauen. Als physischer Distributor sind sie führend. Wie John bereits erwähnte, macht es auf jeden Fall Sinn – besonders bei VR-Games –, das Potenzial zu erkunden und zu schauen, was das zu unserem Produkt beisteuert. Es ist toll, dass wir diese Möglichkeiten innerhalb der eigenen Firmengruppe haben. Und dass sowohl unser eigenes Studio als auch externe Entwickler diese Möglichkeiten nutzen können.

IGM: Physische Distribution nutzt aber nur den PSVR-Titeln. Die anderen VR-Plattformen sind ja digital-only.

Rouwit: Ja, ich denke, PSVR ist hierfür am besten geeignet.

Coleman: Das ist aber nur eine von vielen Möglichkeiten der Zusammenarbeit – wenn man berücksichtigt, welche Infrastruktur sie haben. Sie haben interne Studio Services, außerdem können ihre Regionalbüros PR betreiben, die sich stärker an Outlets auf regionaler Ebene orientiert – und mit denen wir üblicherweise nicht zu tun haben. Es gibt also im Marketing und im Spieleverkauf als Publisher viele Möglichkeiten der Zusammenarbeit. Außerdem können wir dank der Kooperation als Studio etwas schneller arbeiten.

IGM: Bis jetzt hat sich Vertigo Games auf VR-Spiele konzentriert. Plant ihr auch, Nicht-VR-Spiele zu produzieren?

Coleman: Wir konzentrieren uns auf VR. Auch im Hinblick auf Koch Media und Embracer ist das unsere Strategie: Vertigo ist der VR-Publisher innerhalb der Unternehmensgruppe und auch auf die Produktion von VR-Games fokussiert. Das wird auch weiterhin so sein.

IGM: VR findet auf vielen verschiedenen Plattformen statt: Auf Steam, in den Oculus Stores, auf Viveport und auf der PlayStation. Consumer haben es womöglich nicht ganz leicht, die Plattform zu finden, die am besten zu ihnen passt. Außerdem sind etliche Games nur auf ganz bestimmten Plattformen verfügbar. Wäre ein ganzheitlicher Ansatz nicht besser?

Coleman: Publisher konzentrieren sich nicht so sehr auf Exklusivtitel. Entwickler, die in VR oft kleiner sind, konzentrieren sich stärker auf ganz bestimmte Plattformen – und nehmen sich dann genügend Zeit, um das Spiel auf weitere Plattformen zu portieren. Spiele, die auf dem PC sehr erfolgreich waren, werden beispielsweise auf die Quest portiert. Ich glaube, dass es im Zuge des Wachstums von VR häufiger so laufen wird. Firmen wie Vertigo werden dazukommen und Third-Parties bei der Spieleentwicklung unterstützen, so dass die Titel simultan auf mehreren Plattformen erscheinen können. Ich glaube, das wird regelmäßiger der Fall sein. So können sich VR-KundInnen auch besser für eine bestimmte Plattform entscheiden. Denn sie wissen: Alle Games, die sie spielen wollen, werden auf dieser Plattform verfügbar sein.

IGM: Andererseits könnten die Plattformbetreiber mehr Wert auf Exklusivtitel legen.

Coleman: Ich beobachte, dass die First-Parties mehr Wert auf ein Wachstum des gesamten Marktes legen. Es geht ihnen nicht so sehr um Exklusivtitel, sondern um die Frage, wie sich VR insgesamt voranbringen lässt. Der Fokus liegt stärker auf dem Multiplayer-Modus, besonders auf Crossplay. In Multiplayer-Games war es immer schon eine Herausforderung, genügend Spieler für ein Match zusam­menzubekommen. Die First-Parties wollen VR insgesamt voranbringen – so dass jemand, der auf der Quest, der PSVR oder auf einem PC-Headset spielt, immer auch jemanden zum Mitspielen findet. Für die gesamte Industrie ist das besser, als auf Exklusivtitel zu setzen.

IGM: Haben die Firmen versäumt, VR schon früher massentauglich zu machen? VR gibt es ja jetzt schon einige Jahre – aber es fristet immer noch ein Nischendasein.

Coleman: Diese Henne-Ei-Diskussion findet man in vielen Artikeln über VR. Braucht VR bessere Spiele oder bessere Hardware? Die First-Parties haben diese Herausforderung immer angenommen: Sie haben Headsets herausgebracht – auch dann, wenn die Technologie noch nicht existierte, um sie kleiner und günstiger zu machen. Man muss aber auch ein Ökosystem erschaffen – mit Entwicklern, mit Spielen und mit weiteren Inhalten. Irgendwann verbindet sich das alles so, dass große Gaming-IPs entstehen, dass die Qualität der Games insgesamt besser wird – und dass sich gleichzeitig die Installed Base vergrößert, weil man jetzt bessere Technologie zur Verfügung hat. Meiner Meinung nach entsteht aus der Zusammenarbeit von Entwicklern, Publishern und First-Parties eine Aufwärtsdynamik, die das gesamte Wachstum fördert. Zu Beginn mag es noch ein wenig ruckeln, schließlich ist die Industrie noch jung. Es ist aber ermutigend, wie sie sich bisher entwickelt hat und in welche Richtung sie jetzt geht. VR ist kontinuierlich gewachsen – bei den Game-Verkäufen genauso wie bei den Hardware-Verkäufen.

IGM: Wie wichtig ist Location-based Entertainment für Vertigo?

Coleman: Für uns ist das sehr wichtig. Der größte Umsatzanteil kommt von Home Users, weil das einfach der größere Markt ist. Location-based Entertainment ist aber in vielerlei Hinsicht sehr wichtig. Zum Beispiel kann man spannende Experiences entwickeln, die sich in dieser Form nie zuhause erleben ließen. Dabei geht es um einen größeren Spielbereich: Eine Version von Arizona Sunshine läuft beispielsweise auf 6 x 6 Metern, mit vier SpielerInnen auf der selben Spielfläche. Dabei gibt es weder Teleporting noch Locomotion – man läuft buchstäblich durch das Level. Wir haben auch andere Versionen entwickelt, zum Beispiel mit 4DFX – man kann also mehr Immersionsabstufungen bieten, als das zuhause möglich wäre. Wir finden, es macht Spaß, damit herumzuprobieren. Besitzt man ein Headset für zuhause, dann hat man immer noch einen Grund, rauszugehen – und eine ganz bestimmte Experience oder ein Spiel auszuprobieren. Abgesehen davon ist das für viele Leute auch eine gute Gelegenheit, VR überhaupt erst kennenzulernen. Vielleicht will ich ja keine 300 Dollar für eine Quest 2 ausgeben, weil ich noch nicht weiß, ob ich VR überhaupt mag. Ich kann aber 30 Dollar in eine halbe Stunde oder eine Stunde Gameplay investieren und herausfinden, ob ich das mag. Wir glauben also, dass LBE die Industrie wachsen lässt. Auch aus Marketing-Sicht ist es toll, wenn mehr Menschen ein bestimmtes Spiel oder eine Marke kennenlernen. Mit der Zeit werden die VR-Arcade-Besucher sagen: Ich will eine Quest oder eine PSVR für zuhause – weil ich Arizona Sunshine oder A Fisherman's Tale bereits kenne und mag.

Die First-Parties wollen VR insgesamt voranbringen

IGM: Wie sind bei LBE die Perspektiven?

Coleman: Wir sind uns im Klaren darüber, dass bei VR-Arcades auf Dauer eine gewisse Coin-op-Dynamik entstehen könnte. Aber auch dann werden wir unsere LBE-KundInnen weiterhin mit Experiences versorgen können, die zuhause nicht umsetzbar wären – zum Beispiel mit anderen Peripherals und mit Premium-Experiences. KundInnen, die eine PSVR gekauft haben, werden deshalb auch weiter in Arcades gehen. Vielleicht wegen einer einzigartigen Story aus einem Spiel, das sie lieben – und die zuhause nicht verfügbar ist. Aus unserer Sicht ist das ein sehr positiver Kreislauf aus Marketing, User-Engagement und Experiences. Für Gamer ist es eine Motivation, VR auszuprobieren. Und für uns eine Gelegenheit, rund um unsere Marken noch vielfältigere Welten zu erschaffen.

IGM: VR ist im Aufwind, wartet aber noch auf den Durchbruch. Wie könnte die Situation in einem oder in zwei Jahren aussehen?

Rouwit: Ich glaube, schon dieses Jahr ist für VR sehr wichtig. Die Quest hat den Markt wirklich verändert. Wenn das so weitergeht, werden wir wahrscheinlich kabelloses VR als die dominante Spielvariante erleben – sei es nun Standalone-VR oder sogar VR-Streaming. (Achim Fehrenbach)

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