Ein Stück vom Kuchen: Neue Player auf dem Spielemarkt, Teil 2: Amazon

Viele Jahre lang ging es für die First-Parties Sony, Microsoft und Nintendo vor allem um eines: sich gegenseitig KundInnen ab­zujagen. Die nicht ganz friktionsfreie Übernahme von Activision Blizzard durch Microsoft zeigt, dass auch weiterhin hart um Marktanteile gekämpft wird. Doch zunehmend mischen sich auch „nicht-endemische“ Player wie Netflix, Amazon und YouTube ins Geschäft ein – und wollen selbst ein großes Kuchenstück er­gat­tern. In einer zweiteiligen Serie erkundet IGM, wie die Chancen dafür stehen. Teil 1 (IGM 12/2023) widmete sich Netflix, der vorlie­gende Teil 2 dreht sich um Amazon. Was kann der Handels­riese im Games-Geschäft bewegen?
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Nicht-endemische Akteure sind eine existenzielle Bedrohung für die etablierten Spielefirmen: So lautete die Botschaft, die Shawn Layden Ende August bei der PAX West verkündete. Der frühere Sony-Manager und heutige Tencent-Berater hielt in Seattle die Keynote des GamesIndustry.biz Investment Summit – und fand markige Worte für das, was er derzeit als Branchentrend sieht. „Momentan sagen alle großen Akteure: ‚Oh, Games? Die bringen uns jedes Jahr Milliarden von Dollar ein? Davon will ich auch etwas abhaben“, paraphrasierte Layden. „Google, Netflix, Apple und Amazon wollen folglich alle einen Anteil und versuchen, die Branche durcheinanderzuwirbeln.“

Layden gab zu bedenken, was Apple in der Musikindustrie verändert habe – nämlich „alle davon zu überzeugen, dass 99 Cent für einen Song eine gute Idee ist“. Vergleichbares habe Netflix als Content-Schleuder für Filme und Serien angerichtet. Zwar sei eine Tech-Firma nicht automatisch in der Lage, ein ordentliches Spiel zu produzieren, so Layden – doch die etablierten Player müssten der drohenden Disruption etwas entgegensetzen, sich am besten selbst umkrempeln. Die Barbaren stünden bereits vor den Toren, warnte Layden – es sei höchste Zeit zu handeln.

Fuß in der Tür
In der Tat haben Firmen wie Netflix und Amazon zuletzt immer energischer versucht, einen Fuß in die Gaming-Tür zu bekommen. In IGM 14/2023 haben wir bereits beschrieben, welche Strategie Netflix dabei verfolgt – nämlich unter anderem mit eigenen Spielestudios, Cloud Gaming und verstärkter Präsenz auf Messen wie der gamescom. Doch was macht eigentlich Amazon? Lassen wir doch kurz Revue passieren, was der Handelsriese schon alles in Sachen „Gaming“ unternommen hat. Die Bemühungen reichen recht weit zurück: Schon 2012 gründete der Konzern seine Tochter „Amazon Game Studios“ (heute: „Amazon Games“), um Spiele für Smartphones und Social-Media-Plattformen zu entwickeln. Dafür rekrutierte die Firma auch einige prominente Personen aus Branche, zum Beispiel Kim Swift (Portal), Clint Hocking (Far Cry 2) sowie frühere Entwickler von System Shock 2. Der damalige Studio-Vize Mike Frazzini verkündete, man wolle Games vom Kaliber eines Minecraft und The Walking Dead produzieren. Bei der TwitchCon 2016 gab die Konzerntochter dann die Entwicklung von drei Spielen bekannt: Man arbeite am Multiplayer-Brawler Breakaway, am Third-Person-Shooter Crucible und an New World, einem MMO mit übernatürlichen Elementen und einem Kolonialzeit-Setting.

 

Versuchen, die Branche durcheinanderzuwirbeln

 

Nun, der Erfolg war eher durchwachsen. Breakaway wurde 2018 gecancelt, bei Crucible zog Amazon 2020 den Stecker. New World erschien ein Jahr später und legte einen Blitzstart hin – mit nahezu einer Millionen concurrent players auf Steam. Zwar hat sich das MMO inzwischen bei täglich knapp 30.000 SpielerInnen eingependelt, doch wird es nach wie vor rührend mit neuen Inhalten versorgt – im April etwa mit der Season „Kameradschaft und Feuer“. Personelle Neuerungen gab es beim Amazon Games ebenfalls: Bereits 2018 stieß der Deutsche Christoph Hartmann – einst Mitgründer des Publishers 2K Games – zum Unternehmen; er bekleidet dort seitdem die Position des Vice President von Amazon Games. Hartmanns offensichtliche Hauptaufgabe ist, ein MMO auf Basis von Der Herr der Ringe umzusetzen. Amazon Games kooperierte dafür zunächst mit der chinesischen Firma Leyou, die dann aber von Tencent aufgekauft wurde – was wiederum das Projekt beendete. Inzwischen werkelt Amazon Games hausintern an einem neuen LotR-MMO; für das Projekt verantwortlich ist Amazon Games Orange County, eines von insgesamt vier hausinternen Entwicklerstudios. (Die anderen drei befinden sich in Seattle, Montreal und San Diego.) 2022 veröffentlichte Amazon Games zudem Lost Ark – ein Fantasy-MMO, das die Firmen Tripod Studio and Smilegate zunächst für den koreanischen Markt entwickelt hatten. Auch Lost Ark war zunächst sehr erfolgreich und erreichte in der Startwoche auf Steam sage und schreibe 1,3 Millionen concurrent players. Inzwischen hat sich das Ganze aber auch hier auf einem vergleichsweise niedrigen Niveau – mit 37.000 SpielerInnen pro Tag – eingependelt. Wie geht es für Amazon also weiter – und kann es tatsächlich die Barbarenrolle spielen?

Behutsame Strategie
Aus Sicht von Joost van Dreunen ist das gar nicht so abwegig. Der SuperData-Gründer, der heute als Investor, Buchautor („One Up“) und Universitätsdozent tätig ist, beobachtet Amazons Aktivitäten mit großem Interesse – und stimmt Shawn Laydens Barbaren-Metapher auch grundsätzlich zu. „Die Größenordnung von Unternehmen wie Amazon, Google und Apple ist eine direkte Bedrohung für etablierte Plattformbetreiber wie Sony und Nintendo“, sagt van Dreunen. „Sony beispielsweise hat eine Marktkapitalisierung von knapp über 100 Milliarden Dollar, während Amazon 1,3 Billionen Dollar wert ist. Das bedeutet, dass diese großen nicht-endemischen Unternehmen kapitalkräftig genug sind, um neue Dienste und die Entwicklung von Inhalten auf absehbare Zeit zu subventionieren.“ Amazon verfolge in Sachen Games mittlerweile eine sehr behutsame Strategie, weil das Unternehmen schon mehrfach auf die Nase gefallen sei – unter anderem mit einigen nicht sehr durchdachten Akquisitionen. Auch wenn Amazon gewaltiges Subventionskapital habe, seien seine Geschäftspraktiken nicht unbedingt mit der Games-Branche kompatibel, gibt van Dreunen zu bedenken: „Twitch beispielsweise ist ein sehr wertvolles Asset im Gaming-Bereich, bleibt aber als Amazon-Tochtergesellschaft fatalerweise isoliert.“ Van Dreunen prophezeit deshalb, dass Amazon früher oder später einen großen Publisher wie EA oder Ubisoft übernehmen werde – mit dem Ziel, ein Content-Portfolio aufzubauen.

Für Piers Harding-Rolls ist der Erfolg der „Barbaren“ keineswegs beschlossene Sache. „Auf den ersten Blick haben Firmen wie Apple, Amazon, Google und Netflix so große Möglichkeiten, dass es schwer wäre, sie nicht als potenzielle künftige Konkurrenz für Games-Publisher und -plattformen zu betrachten“, räumt Harding-Rolls ein, der als Head of Games Research bei der britischen Firma Ampere Analysis arbeitet. Die bisherige Bilanz der Tech-Riesen zeige jedoch, wie schwierig es sei, den Consumer-Markt entscheidend zu beeinflussen. Auch Harding-Rolls sieht Content als die fehlende Zutat, mit der sich die neuen Player einen Namen machen können. Zudem spielten Apple, Google und Amazon „bereits eine wesentliche Rolle in bestimmten Bereichen der Gaming-Wertschöpfungskette, zum Beispiel durch Cloud-Dienste oder Ladengeschäfte“. Harding-Rolls glaubt also durchaus, dass solche nicht-endemischen Firmen irgendwann zu ernsthaften Konkurrenten der eta­blierten Spielefirmen aufsteigen könnten.  „Aber bis dahin wird es möglicherweise noch viele Jahre dauern. Ich glaube nicht, dass sich der Status Quo in den nächsten drei bis fünf Jahren dramatisch ändern wird“, sagt er.

 

Die Flexibilität, Spiele mitzuentwickeln oder als Publisher aufzutreten

 

Erste Früchte
Harding-Rolls billigt Amazon die ausgefeilteste Games-Strategie von allen großen Tech-Firmen zu. Diese Strategie trage auch durchaus schon Früchte, so der Experte: „Abgesehen von all den Assets und Fähigkeiten, mit denen sich das Unternehmen stark positioniert, macht es solide – wenn auch langsame – Fortschritte im wirklich wichtigen Bereich ‚Content‘.“ Mittlerweile verfolge Amazon einen sehr pragmatischen und variablen Ansatz, so Harding-Rolls. „Das bedeutet: Es hat die Flexibilität, Spiele mitzuentwickeln oder als Publisher aufzutreten. Das hilft ihm, sich zu etablieren.“ Zudem geht Amazon Kooperationen ein, um seinen Streaming-Dienst Amazon Luna auf immer mehr Endgeräte zu bringen: LG Electronics etwa verkündete im August, dass seine KundInnen den Cloud-Gaming-Dienst auf ausgewählten Smart-TV-Modellen unmittelbar abrufen können.

Derweil zieht Amazons hauseigenes LotR-Game – kein Wunder – die größte mediale Aufmerksamkeit auf sich. Im Mai 2023 veröffentliche die GameStar ein Interview mit Christoph Hartmann, in dem der Vice President von Amazon Games sehr ausführlich über das Projekt sprach. Der Release des Spiels sei noch einige Jahre entfernt, so Hartmann – man wolle sich aber auch Zeit lassen, um etwas wirklich Gutes vorzulegen.

In einem begleitenden Podcast (ebenfalls GameStar Plus) sprachen die Redakteure dann mit dem Unternehmensberater Human Nagafi über Hartmanns Äußerungen. Auch IGM hat Nagafi, der für die Firma 1789 Innovations in Frankfurt/Main arbeitet, zu den Erfolgsaussichten von Amazons Gaming-Strategie befragt. Kurz als Hintergrund: 1789 Innovations hat als Unternehmensberatung Kunden aus verschiedenen Branchen – aus Handel und Konsumgüterindustrie genauso wie aus Private Equity und IT-Services. Momentan arbeitet die Firma an einem internen Forschungsprojekt, um Crunch-Strukturen der deutschen Spieleentwicklung zu analysieren und auf dieser Basis Gegenmaßnahmen zu entwickeln. Human Nagafi kennt sich folglich sowohl in herkömmlichen Industriezweigen wie auch in der Games-Branche bestens aus – das macht ihn zu einem spannenden Gesprächspartner, wenn es um die Bewertung von Amazons Gaming-Strategie geht. Zunächst wollen wir von ihm wissen, ob Amazon – von der Unternehmenskultur her – überhaupt zur Games-Branche passt. „Amazon ist im Kern kein Tech-Unternehmen, sondern ein Handelsunternehmen“, betont der Experte. „Es ist extrem consumer-orientiert und zielt auf inkrementelle Verbesserungen. Also darauf, an einer Stelle 0,1 Prozent mehr rauszuholen, die bei ihrer Größe und Warenumschlag große Skaleneffekte in der Kosteneinsparung und Umsatzerhöhung bringen.“ Diese Herangehensweise sei ausgesprochen datenorientiert – und sorge auch dafür, dass wenig erfolgversprechende Projekte schnell mal wieder eingestampft würden.

Hit-driven business
Wie also passen Amazon und Games zusammen? „In der Games-Branche gibt es seit vielen Jahren einen Trend in Richtung Service-Games, die dann auch inkrementell verbessert werden können“, erläutert Nagafi. Allerdings handele es sich nach wie vor um ein hit-driven business: „Das sind sehr kreative Prozesse, die nicht einfach so über klassische Effizienz und Produktivität und Optimierung funktionieren.“ Die Strategie vieler Publisher funktioniere nach dem Motto „Zwei Spiele finanzieren zehn Spiele“, so Nagafi. „Das heißt, sie denken sehr viel über Risikoverteilung nach und gestalten ihr Portfolio nach der Streuungslogik.“ Nagafi glaubt, dass Christoph Hartmann diese Logik ein Stück weit bei Amazon implementieren konnte und kann. Der Markt für ein MMO wie LotR sei auch durchaus vorhanden, so der Unternehmensberater. „Allerdings ist der Markteintritt mit sehr hohen Kosten verbunden. Und es ist auch sehr schwierig, ein solches Spiel dauerhaft erfolgreich zu betreiben.“

 

Als Amazon redet man ja nicht wie ein mittelgroßer Publisher

 

Schon ein bisschen gewundert hat sich Nagafi über die Tatsache, dass Hartmann im GameStar-Interview kaum über Amazons Gaming-Strategie sprach. Stattdessen habe er sehr ausführlich über Lord of the Rings und die Pläne für das MMO gesprochen – und den Ball damit schon sehr auffällig flach gehalten. „Als Amazon redet man ja nicht wie ein mittelgroßer Publisher, der sagt: ‚Ok, wir sollten erstmal ein gutes Spiel rausbringen‘“, wundert sich Nagafi. „Wie Hartmann das formuliert hat, klang es schon sehr demütig – so als wären sämtliche Versuche in der Vergangenheit komplett in die Hose gegangen.“ Natürlich habe das Unternehmen aber eine große Strategie in der Hinterhand, so Nagafi: „Amazon gibt sich ja nicht damit zufrieden, ein erfolgreiches Spiel veröffentlicht zu haben. Das macht keinen Sinn.“ Wie also könnte eine solche Strategie aussehen? Nagafi glaubt, dass die Kombination aus Games und Streaming der entscheidende Impuls wäre: „Damit das Ding fliegt, brauchen sie eigene Spiele und ein eigenes Spiele-Abo-Modell.“ Amazon könnte Games-Streaming zunächst gratis oder als Teil eines Premium-Abos anbieten, so der Experte – vorausgesetzt, die Spiele seien hinreichend attraktiv. „Über Twitch bekäme das Ganze dann noch zusätzliche Reichweite.“

Wolkige Aussichten
Die Cloud ist ohnehin eine der größten Stärken von Amazon – und damit auch ein wichtiger Eckpfeiler der Gaming-Strategie. Nicht ohne Grund waren die Amazon Web Services mit einem großen Stand auf der gamescom 2023 vertreten – dort wurden unter anderem Use Cases von diversen Spielestudios gezeigt. „Die Amazon Web Services sind der weltweit größte Cloud-Dienstleister, noch vor Azure von Microsoft“, betont Nagafi. „Das ist natürlich eine spannende Position, wenn man bedenkt, dass die Cloud die Konsolen nach und nach ersetzt.“ Mit dem Ausbau von Glasfaser und 5G könne Cloud Gaming den Spielemarkt ziemlich durcheinanderwirbeln, so der Unternehmensberater. Auch Sony und Microsoft forcieren ja übrigens gerade ihre Cloud-Gaming-Aktivitäten. „Die Industrie wird in den nächsten Jahren eine neue Stufe erreichen, wenn das Cloud-Gaming da ist und man damit komplett neue Märkte erschließen kann“, prophezeit Nagafi – und nennt als Beispielmärkte Indien und Südamerika. „Wenn also jeder mit seinem Smartphone eine Spielkonsole in Händen hält – dann wird das, glaube ich, der nächste Kicker.“

Fassen wir also kurz zusammen: Die Barbaren stehen – wie Shawn Layden es formuliert hat – bereits vor den Toren der Games-Branche. Um aber die Festung zu stürmen, müssen sie selbst überzeugenden Content bieten – und den dann auch mit ihren Erlösmodellen und ihrer Infrastruktur verzahnen. Ein Szenario, das nicht ganz abwegig erscheint – auch wenn der Weg dahin womöglich noch weit ist. Sony, Microsoft und Co. sollten jedenfalls eines tunlichst vermeiden: die Barbaren zu unterschätzen. (Achim Fehrenbach)

IGM 14/23
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