Anpassungsfähig: IGM-Serie: eSports-Trends, Teil 1

2020 war auch für eSports ein turbulentes Jahr – nicht nur wegen der Absage etlicher Publikumsveranstaltungen. Doch gerade in der Corona-Krise hat die Branche die Chance, ihre Anpassungsfähigkeit unter Beweis zu stellen. Wie wird das den digitalen Sport mittelfristig prägen? In einer zweiteiligen Serie erörtern wir die wichtigsten eSports-Trends – und zeigen, wo die Schwerpunkte der Branchenvertreter im neuen Jahr liegen.
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Zuhause zocken – dafür hatten die meisten Spielefans im vergangenen Jahr ordentlich Zeit. Für den Umsatz der Games-Branche war das natürlich gut – auch wenn die Pandemie für etliche Verzögerungen in der AAA-Produktion sorgte. Für eSports sah es in der Pandemie zunächst jedoch alles andere als rosig aus: Schon das IEM Katowice musste im März ohne Vor-Ort-Zuschauer stattfinden, im Frühjahr und Sommer wurden zahlreiche Großturniere abgesagt.

Pünktlich zur Online-gamescom veröffentlichte Deloitte ihre Studie "Let's play! 2020", zu deren Auftraggebern der Bundesverband game zählt. 2019 sei ein weiteres Wachstumsjahr für eSports gewesen, so Stefan Ludwig, Leiter der Sport Business Gruppe bei Deloitte. Doch gehe die Pandemie nun keineswegs spurlos an der Branche vorbei. Sebastian Steinbach, beim game für eSports zuständig, fasste es folgendermaßen zusammen: "Aufgrund der Schutzmaßnahmen haben viele Menschen in den vergangenen Monaten mehr Zeit zuhause verbracht und dort wurde auch mehr eSports geschaut. [...] Die Branche ist trotzdem kein Krisengewinner, da sich eine gestiegene Nutzung nicht direkt in parallel dazu steigende Umsätze übersetzen lässt." Immerhin sei die Branche bisher recht gut durch die Krise gekommen. "Hierbei kommt ihr speziell ihr dynamischer und innovativer Charakter zugute", heißt es in der Pressemitteilung. "Im eSports wurde schon immer viel experimentiert und die Marktteilnehmer lernen schnell."

Publisher müssen neue Erfahrungen bieten

Steigender Konsum
"Dynamisch", "innovativ", "experimentell": Man darf durchaus skeptisch sein, wenn sich solche Vokabeln in einer Pressemitteilung ballen. Hat eSports wirklich die Pandemie-Kurve gekriegt, wir man hier nahelegt? Ein Blick in die Deloitte-Studie zeigt, dass der eSports-Konsum in Deutschland in den ersten Pandemie-Monaten bis Juni 2020 zugenommen hatte: 32 Prozent der 1.500 Befragten gaben an, mehr eSports zu konsumieren – also online oder im Fernsehen zu verfolgen. In Ländern wie Spanien und Italien war der Zuwachs noch deutlich größer. Auf die Frage, ob sie auch mehr Geld für eSports ausgeben würden, antworteten 33 Prozent der Befragten in Deutschland mit "ja" – was wirklich vielversprechend klingt. Allerdings macht Deloitte hier auch gleich deutlich, dass sich Absichtserklärungen nicht automatisch in Umsatzgewinne ummünzen lassen: "Während einige Firmen direkt von der erhöhten Sichtbarkeit des eSports in der Krise profitieren konnten", heißt es in der Studie, "konnten andere ihre Einnahmequellen nicht aufrechterhalten" (Übersetzung: IGM). Am stärksten seien die Ticket-Verkäufe bei eSports-Turnieren und die Werbeeinnahmen betroffen, so Deloitte. Das liegt auch nahe, wenn man die zahlreichen Event-Absagen betrachtet. Doch wie hat sich das Ökosystem eSports in der zweiten Jahreshälfte weiterentwickelt? Wie gehen Teams, Event-Veranstalter, Publisher, Werber, Broadcaster und Sponsoren mit der neuen Situation um? Welche Trends setzen sich fort, welche wurden ausgebremst? Um das herauszufinden, hat IGM mit mehreren Branchenvertretern gesprochen – und dabei durchaus Ermutigendes vernommen.

Joost van Dreunen möchte grundsätzlich nichts beschönigen. "Aus naheliegenden Gründen war 2020 für eSports ein furchtbares Jahr", sagt der Mitgründer von SuperData und heutige Start-up-Berater, der in seinem neuen Buch "One Up" die wichtigsten Trends im Games-Business beleuchtet. Gerade in der Krise habe eSports jedoch seine Stärke bewiesen, konstatiert van Dreunen: Die Branche habe etliche neue Initiativen hervorgebracht, "die sich auf den Augenblick vorbereiten, an dem die Welt wieder offensteht. Anstatt die Hände in den Schoß zu legen, haben sie sich an die Arbeit gemacht – und mich freut, wenn sie mit voller Kraft durchstarten können." Grundsätzlich habe eSports in diesem Jahr an Professionalität zugelegt: "Die Widrigkeiten von Covid-19 haben Teams und Firmen dazu gebracht, ihre Geschäfte und ihre Schwerpunkte genau zu überprüfen. Publisher müssen neue Erfahrungen bieten, die sich zwischen On- und Offline bewegen." Als Beispiel nennt van Dreunen den Rennsport-Titel F1 2020: So habe Codemasters eine Reihe innovativer Online-Events gehostet, in denen Gamer gegen professionelle Formel-1-Fahrer antreten durften. Mit solchen Ideen sei Codemasters gelungen, in einem schwierigen Jahr die Zahl der zeitgleich aktiven Spieler zu verdoppeln. "Und nicht nur das: Der Bieterkrieg zwischen Electronic Arts und Take-Two ging bis zu einem Kaufpreis von 1,2 Milliarden US-Dollar."

Den Schalter umgelegt
Der schnelle Umstieg auf Online-Events ist auch für Dorian Gorr eine beachtenswerte Leistung. "Ich fand es spannend zu sehen, wie nahtlos es die gesamte eSports-Industrie geschafft hat, sich der allgemeinen Weltlage anzupassen und auf komplett digital umzuschalten", sagt der Managing Director, CMO und Mitgründer von Veritas Entertainment (vgl. IGM 09/2020). Um bei den Studio- und Home-Produktionen ohne Live-Zuschauer dennoch Fans aktivieren zu können, seien neue Ideen gefragt gewesen, so Gorr. Als Beispiel nennt er Fan-Cams, mit denen sich Zuschauerreaktionen in den Live-Stream integrieren lassen. "Die aktuellen Fan-Cams sind zwar noch sehr basic", sagt Gorr. "Sie deuten aber an, wo die Reise hingehen kann, wenn wir auch weiterhin nur aus der Ferne zuschauen können." Wie wichtig die Einbindung der Anhänger gerade in Zeiten fehlender Live-Turniere ist, betont auch Joost van Dreunen: "Für die Teams drehte sich dieses Jahr alles darum, ihre Verbindung mit den Fans zu stärken. Ich habe mit einigen Teams gesprochen. Und die meisten von ihnen haben daran gearbeitet, neue Verbindungen zu den Fans herzustellen – und ihnen gleich viel oder mehr zu bieten, als wenn sie zusammenkommen könnten." Van Dreunen rechnet damit, dass diese neuen Communities in den kommenden Monaten noch ausgebaut werden.

Dass die Branche in Corona-Zeiten ihre Krisenfestigkeit unter Beweis gestellt hat, glaubt auch Peter Mucha, der COO von G2 Esports: "Die Pandemie war auch ein Anlass für uns, kreativer als je zuvor zu sein, um mit dieser nie dagewesenen Situation umzugehen." Corona habe "das Bedürfnis nach zwischenmenschlicher Interaktion verstärkt", so Mucha: "Das Wiederaufleben des Party-Spiels und des Just-Chat-Bereichs auf Twitch sind gute Beispiele dafür." Auch Alexander Müller, Chef von SK Gaming, berichtet von großen Anpassungsleistungen im vergangenen Jahr. "Für uns war das Wichtigste sicherlich die Umstellung von Offline-Events – ob in großen Stadien oder im TV-Studio – hin zu reinen Online-Produktionen", so Müller. "Das hat uns stark in Beschlag genommen und beschäftigt." Müller ist der Meinung, dass die Umstellung gelungen sei: "Stand jetzt würde ich behaupten, dass wir das zu 100 Prozent umsetzen konnten – und dass wir jeden Tag dazulernen. Das hatte auch alles Einfluss auf unsere Vermarktung, ganz klar. Wir haben gelernt, mit unseren Partnern zusammen entsprechende Anpassungen vorzunehmen – und haben dabei stark auf Online-Inhalte gesetzt." Für SK Gaming ist die Produktion solcher Inhalte denn auch die wichtigste Aufgabe im neuen Jahr. "Hier wollen wir einen weiteren großen Schritt nach vorne machen und neben den kompetitiven Strukturen auch solche für Content aufbauen", berichtet Müller. "Es ist uns gelungen, tolle Talente für 2021 zu gewinnen – und wir freuen uns hier auf die Ergebnisse."

Bedürfnis nach zwischen­menschlicher Interaktion

Mehrgleisig unterwegs
Team Liquid (vgl. IGM 11/2020) zählt zu den erfolgreichsten eSports-Clans der Welt: Kurz nach der Jahrtausendwende in Utrecht gegründet, hat die Firma heute ein Roster von über 100 AthletInnen. Miteigentümer Victor Goossens berichtet von einem herausfordernden, aber auch erfolgreichen Jahr 2020: "Selbst inmitten der globalen Pandemie sind wir in 18 verschiedenen eSports-Disziplinen hochgradig wettbewerbsfähig geblieben. Wir haben unsere zweite Alienware Training Facility in Utrecht eröffnet, unsere Bekleidungsmarke weiter aufgebaut, unseren Einflussbereich in Südamerika und Asien erweitert und im Dezember unseren zwanzigsten Geburtstag gefeiert. Ich bin stolz darauf, was wir erreicht haben – und ich freue mich auf ein noch stärkeres 2021." Auch Goossens sieht den Umstieg auf virtuelle Turniere als die größte Herausforderung des vergangenen Jahres. Zudem sei Team Liquid 2020 in Games wie Valorant und Rocket League eingestiegen. "Das hat uns massive Zuwächse gebracht", freut sich Goossens. "Bei Apparel, bei der Produktion von Inhalten und bei der Einbindung von Fans – was unsere Zielgruppe erweiterte." Als wichtige Erfolgsbausteine nennt Goossens die Marke Liquid Apparel, den Content-Produzenten 1UP Studios, das eSports-Wiki Liquipedia sowie Liquid+, eine neue Plattform zur Einbindung von Fans. (Mehr dazu in der kommenden Ausgabe.)

Der Riot-Games-Titel Valorant zählt zu den wichtigsten Neuveröffentlichungen im e­Sports-Sektor. Dorian Gorr bezeichnet das Spiel (VÖ: Juni 2020) als "mit Sicherheit prägend für die Branche: Ein Shooter der League-of-Legends-Macher, der bereits mit eSports im Hinterkopf entwickelt wurde". Aus Sicht von Gorr hat Riot mit Valorant so ziemlich alles richtig gemacht: "Fokus auf Community-Turniere, aus diesen eigene Learnings ziehen und dann den eigenen Turnier-Circuit starten." Langfristig werde sich Valorant natürlich beweisen müssen, so Gorr. "Aber die ersten Zuschauerzahlen sowie das Interesse seitens Community und Teams lassen hoffen." Ale­xander Müller nennt Valorant ebenfalls als wichtigen Branchenimpuls. Zudem habe Riot Games mit League of Legends: Wild Rift ein hochinteressantes Mobile Game für eSports vorgelegt. Müllers Kollege Peter Mucha bezeichnet es als wichtigen Schritt nach vorne, "dass große Akteure wie Riot Games oder Epic Games in den Handy-Markt mit Videospielen einsteigen". Mucha sieht hier ein riesiges Potenzial für die Zukunft mobilen e­Sports: "Auch wenn mobile Endgeräte in Europa nicht die beliebteste Plattform sind, um eSports zu schauen, profitieren bereits einige Hotspots auf dem Globus – wie Indien und Südostasien – davon massiv. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis sich dies auch in Europa widerspiegelt."

Neue Schwerpunkte
Mehr Online-Inhalte, mehr Interaktivität, breitere Zielgruppen und neue, komplett auf eSports zugeschnittene Games: So lassen sich einige der wichtigsten Trends zusammenfassen. Doch was versprechen sich die Branchenvertreter vom neuen Jahr – und was sind ihre Schwerpunkte? "Zunächst bedeutet der Jahreswechsel nicht automatisch, dass die Herausforderungen aufgrund der Pandemie plötzlich wegfallen", sagt Alexander Müller von SK Gaming. "Wir sind immer noch mitten drin und müssen mit großer Sorgfalt arbeiten – das wird uns sicher noch bis ins dritte Quartal beschäftigen. Unabhängig davon freuen wir uns darauf, mit dem Spiel Wild Rift Konzepte und Kampagnen umzusetzen." Peter Mucha verfolgt mit G2 Esports mittelfristig zwei Ziele: "Erstens: Die Ansiedlung und Entwicklung von G2 in den USA, um die wirklich erste transatlantische eSports-Organisation zu werden. Zweitens: Die Reichweite unserer Marke und unsere Zuschauer aus der ‚Hardcore-eSports-Nische' herauszuholen – und unsere Art von Unterhaltung zum Mainstream-Publikum zu bringen." Um beides zu erreichen, will G2 Esports seinen Influencer-Roster weiter ausbauen – und damit auch das Content-Angebot.

Als Betreiber von Gaming-Locations – zum Beispiel in Berlin – hat Veritas Entertainment natürlich einen etwas anderen Fokus als klassische eSports-Firmen. "Wir bereiten gerade den globalen Rollout für unsere LVL-Marke vor", kündigt Dorian Gorr an. "Bis Q1 2021 wollen wir alles festgezurrt haben – für mindestens zwei weitere LVL-Locations auf neuen Kontinenten." Aber auch Veritas Entertainment setzt immer stärker auf die Content-Produktion: "Teils für Partner, Marken und andere Player am Markt, aber zu weiten Teilen auch für unsere eigenen Kanäle", berichtet Gorr. "LVL als eine Lifestyle-, Venue- und Content-Marke zu etablieren ist unser großes Ziel für 2021." Gorr glaubt, dass sich eSports in diesem Jahr beweisen muss: "Die allgemeine Wirtschaftslage ist angespannt, die Marketing-Kohle ist häufig das erste, was herausfliegt." Sponsoren würden künftig ganz besonders genau prüfen, wohin ihr Geld fließen soll. Aus Sicht von Gorr hat das auch seine gute Seite: "Wir werden den Einstieg etlicher großer Marken miterleben, aber im Zweifel mit Aktivierungen, die etwas durchdachter, holistischer sind als in den vergangenen Jahren."

Wir werden den Einstieg etlicher großer Marken miterleben

Silberstreif am Horizont
Für Branchenkenner Joost van Dreunen zeigt sich 2021 ein Silberstreif am Horizont. "Lange herrschten überzogene Erwartungen, die Industrie wurde von billigem Geld überschwemmt. Ich glaube, das hat die Industrie davon abgelenkt, was ihre eigentlichen Aufgaben sind – und wie sie Geld verdienen kann." Das vergangene Jahr habe ganz neu definiert, wie man ein Team promotet, eine Community aufbaut und spannende Events organisiert. Der Experte rechnet damit, dass sich diese Trends 2021 fortsetzen. "Wir sind noch nicht über den Berg", sagt van Dreunen, "das IEM Katowice 2021 wird beispielsweise ohne Publikum vor Ort stattfinden." Dies sei zwar eine Enttäuschung. "Aber es schmälert nicht die Liebe, die diese Industrie antreibt." (Achim Fehrenbach)

In Teil 2 unseres Specials (IGM 02/2021) beleuchten wir weitere eSports-Trends: Zum Beispiel das zunehmende Engagement branchenferner Sponsoren, die Entwicklungen im Apparel-Sektor und den Versuch, die Fans mit Plattformen wie Liquid+ noch stärker einzubinden.

IGM 01/21
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