Ein Grund zum Feiern? Der Brexit – eine Zwischenbilanz

Offiziell verließ Großbritannien bereits am 31. Januar 2020 die Europäische Union. Bis Ende 2020 galt allerdings noch eine Übergangsphase, in der die Regeln weitgehend unverändert blieben – so richtig „draußen“ ist UK seit gut einem Jahr. Zeit also für eine Bestandsaufnahme, wie sich der Brexit auf die Games-Branche auswirkt – zum Beispiel auf Personalverfügbarkeit, Datenaustausch und Handelslogistik.
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© karandaev/elements.envato.com
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Boris Johnson hatte sich das so schön vorgestellt: Mit dem Brexit werde sich UK aus den bürokratischen Fesseln der EU befreien – und wieder selbst über Grenzen, Geld und Gesetze bestimmen können. Für Großbritannien werde ein neues Zeitalter anbrechen: Mit neuen Bündnissen, neuen Handelsverträgen jenseits der EU – und mit der Chance, das eigene Potenzial endlich (!) richtig ausschöpfen zu können. Doch ein Jahr nach dem endgültigen Brexit hält sich die Begeisterung arg in Grenzen, zumindest, wenn man einer aktuellen Umfrage von Opinium glaubt. Rund 60 Prozent der Briten sind demnach der Meinung, der Brexit sei bisher schlecht – oder schlechter als erwartet – verlaufen. Immerhin 42 Prozent derjenigen, die 2016 für den Brexit stimmten, sehen ihn jetzt negativ. Tatsächlich hat sich der EU-Austritt im Leben vieler Briten bereits konkret bemerkbar gemacht: Nicht nur mit steigenden Lebenshaltungskosten, sondern auch mit unangenehmen Engpässen bei Lebensmitteln und Benzin. Boris Johnson versuchte unterdessen, die Veränderungen schönzureden – und zog bei Bedarf auch immer wieder die Pandemie als Sündenbock heran. Das Vertrauen seiner Landsleute hat der Exzentriker in Downing Street No 10 allerdings längst mit persönlichen Eskapaden und mit seiner irrlichternden Corona-Politik verwirkt. Quo vadis, UK?

Die Frage stellt sich natürlich auch für die britische Games-Branche: Auch sie ist ja von neuen Einwanderungs-, Datenschutz- und Handelsregeln betroffen. Allerdings hat die Games-Branche insofern eine Sonderstellung, als sie immer schon hochgradig digitalisiert war – im Gegensatz zu anderen Industriezweigen wie Landwirtschaft, Fischerei oder Maschinenbau. Hat der Brexit folglich überhaupt starke Auswirkungen auf die Spieleindustrie – oder gleitet sie geschmeidig durch die Transition? Um das herauszufinden, hat IGM sowohl mit britischen als auch mit deutschen Akteuren gesprochen. Zunächst aber schauen wir uns an, wie es der britischen Games-Branche grundsätzlich geht. Betrachtet man den Consumer-Markt, dann kann die Antwort nur lauten: blendend! Die neuesten Zahlen des Branchenverbands Ukie stammen zwar von März 2021, weisen aber eine klare Tendenz nach oben aus. 2020 generierten Games in UK einen Gesamtumsatz von rund 7 Milliarden Pfund Sterling – nach heutigem Wechselkurs sind das 8,36 Milliarden Euro. Insgesamt lag das Wachstum bei Soft- und Hardware-Ausgaben satte 29,9 Prozent über dem des Vorjahrs. Klar, ein Teil des Booms hat mit der Pandemie zu tun, in der die Menschen zuhause einfach mehr zocken. Aber auch auf Herstellerseite strotzt die britische Games-Branche nur so vor Kraft – ob das nun Rockstar North (Take 2), Codemasters (EA) oder Sumo (seit kurzem: Tencent) sind. Gerade erst hat der britische Entwicklerverband TIGA die Ergebnisse seines Business Opinion Survey veröffentlicht – und auch der belegt eine positive Grundstimmung. So planen beispielsweise 68 Prozent der teilnehmenden Firmen, schon bald zusätzliches Personal einzustellen. Außerdem sagen 60 Prozent, ihr Business laufe „sehr gut“ oder „gut“. „Der Business Opinion Survey belegt die Widerstandsfähigkeit vieler Games-Firmen in der Pandemie“, sagt TIGA-CEO Richard Wilson im IGM-Interview. „71 Prozent der Befragten gaben an, ihr Nettogewinn sei 2021 gestiegen oder gleich geblieben.“

Arbeitsvisa-Aufwand
Also alles Friede, Freude, Eierkuchen? Tatsächlich fördert die TIGA-Umfrage auch anderes zutage. So räumen 72 Prozent der TeilnehmerInnen ein, der Brexit habe ihrem Geschäft geschadet. 16 Prozent sehen keinerlei Auswirkungen auf ihr Business; nur 4 Prozent konstatieren positive Auswirkungen. Wir fragen Richard Wilson, was aus TIGA-Sicht die einschneidendsten Brexit-Konsequenzen sind. „Der Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU bedeutet das Ende der Personenfreizügigkeit“, so der CEO. „Das wiederum erschwert Unternehmen, qualifiziertes Personal aus der EU anzuwerben.“ Zwar könne man über das neue Arbeitsvisa-System der Regierung ausländisches Personal anwerben. Allerdings muss dieses Personal dafür hoch qualifiziert sein – und der Arbeitgeber muss ein jährliches Mindestgehalt von 25.600 Pfund zahlen. Laut Business Opinion Survey ist der Mangel an hochqualifizierten Fachkräften für immerhin 40 Prozent der befragten Unternehmen eine Business-Bremse. Auch der Branchenverband Ukie sieht hier eine grundsätzliche Herausforderung. „Dem UK Games Industry Census von 2020 zufolge stammten fast 20 Prozent der britischen Arbeitskräfte aus Europa“, berichtet Ukie-CEO Jo Twist. „Der Brexit hat die Verpflichtung europäischen Personals schwieriger gemacht.“ Im Großen und Ganzen habe die Branche den Brexit in dieser Hinsicht aber bislang gut gemeistert, so Twist: „Die britische Shortage Occupation List umfasst eine Reihe games-spezifischer Berufe. Das gewährleistet, dass wir auch weiterhin vergleichsweise leichten Zugang zu Nachwuchskräften in aller Welt haben.“

Das Ende der Personenfreizügigkeit

Doch wie wird die Personalsituation von jenen beurteilt, die unmittelbar in der Rekrutierung arbeiten? Kim Adcock betreibt mit OPMjobs eine international tätige Personalberatung mit Sitz in London; ihre Firma hat bereits KandidatInnen aus 37 Ländern in alle Bereichen der interaktiven Unterhaltungsindustrie vermittelt. Kurz nach dem Brexit hätten viele europäische Fachkräfte das Gefühl gehabt, in UK nicht mehr willkommen zu sein, berichtet Adcock. „Und das war herzzereißend.“ Allerdings habe sich dieses Grundgefühl mittlerweile wieder verflüchtigt, die Bewerbungen von Europäern nähmen wieder zu. „Die Herausforderungen liegen beim Visum – bei Zeit und Kosten“, bestätigt Adcock, sagt aber auch, die Pandemie habe „weitaus größere Auswirkungen auf die Rekrutierung für die britische Games-Branche gehabt als der Brexit“. Generelle habe OPMjobs „noch nie so viele offene Stellen verzeichnet wie jetzt – mit einem Anstieg von 50 Prozent in den letzten 18 Monaten. „Großbritannien war immer schon ein sehr attraktiver Standort für Games-Fachkräfte – und wir haben diese Anziehungskraft während der Pandemie aufrechterhalten“, freut sich Adcock. „Der National Health Service bietet eine kostenlose Gesundheitsversorgung, und das ist wichtiger als je zuvor.“ Am stärksten von der Branche nachgefragt würden übrigens ProgrammiererInnen: „Sie machen 37 Prozent unserer offenen Stellen aus.“

Auch Ukie-Chefin Jo Twist zeichnet insgesamt ein sehr positives Bild: „Das politische Umfeld von Games ist in den letzten Jahren im Großen und Ganzen konstant geblieben“, so die CEO. „Das kommt den britischen Spielefirmen zugute. Der Video Game Tax Relief, der UK Games Fund, die SEIS/EIS-Investitionsunterstützung und ein allgemein unternehmensfreundliches Umfeld lassen die britische Industrie florieren. Der wirtschaftliche Beitrag, den die Industrie leistet, hat sich zwischen 2016 und 2019 verdoppelt.“ Die Bedenken, der Brexit würde den freien Datenfluss einschränken, hätten sich ebenfalls nicht bewahrheitet: Ein entsprechendes „Angemessenheitsabkommen“ zwischen EU und UK gewährleiste auch künftig einen reibungslosen Datenaustausch.

Baustelle Games-Förderung
Das alles klingt ganz gut – besonders die Spieleförderung scheint in UK gut zu funktionieren. Richard Wilson gibt allerdings zu bedenken, dass der Wegfall beliebter EU-Fördertöpfe durchaus Konsequenzen hat: „Der Zugang zu Finanzierungsquellen kann besonders für kleine Spielestudios eine Herausforderung sein.“ Laut TIGA-Umfrage seien einige Games-Firmen durchaus besorgt, keinen Zugang mehr zu EU-Förderprogrammen wie Creative Europe oder Horizon 2020 zu haben. Allerdings hat auch Wilson lobende Worte für die Förderpolitik der britischen Regierung übrig – speziell für den seit 2014 geltenden Video Games Tax Relief (VGTR). Dieser trage „dazu bei, die Kosten der Spieleentwicklung zu senken – und fördert auch Investitionen und die Schaffung von Arbeitsplätzen. Seit der Einführung des VGTR im Jahre 2014 liegt das durchschnittliche jährliche Personalwachstum in Großbritannien bei 8,9 Prozent“. Für Ukie-Chefin Twist ist es wichtig, die positive Games-Politik noch weiter auszubauen: „Länder wie Irland und Australien haben kürzlich Steuernachlässe für Games eingeführt, die wettbewerbsorientierter sind als die derzeitigen britischen Sätze. Außerdem muss die jüngste Übernahmewelle in der britischen Industrie – die grundsätzlich eine willkommen Stärkung ist – durch die Unterstützung wachsender Unternehmen ergänzt werden.“ Grundsätzlich unternehme die Branche eine ganze Menge, um Gaming-Start-ups gebührend zu fördern. Ukie beispielsweise kooperiere mit Creative UK und The Tentacle Zone bei diversen Accelerator-Programmen. Zudem habe die britische Regierung im Herbstbudget 2021 eine Weiterfinanzierung des UK Games Fund bewilligt. „Wir hoffen, dass die Regierung diesen Ehrgeiz auch künftig an den Tag legt“, so Twist.

Der Österreicher Thomas Reisenegger leitet seit 2017 die Agentur Future Friends Games in London. Seine Firma hat sich auf die Promotion und das Co-Publishing von Indie-Games spezialisiert: Zum Leistungsportfolio zählen unter anderem die Optimierung von Steam-Seiten, klassische Pressebetreuung, das Pitchen bei Influencern und auch Consulting zu Themen wie Community-Management, Trailern und Social-Media-Plattformen. Reisenegger berichtet, der Brexit sei bislang vor allem indirekt spürbar – nämlich bei den Preisen für Energie und Lebensmittel. Future Friends habe seine Preise und Gehälter denn auch etwas angehoben, um die steigenden Lebenshaltungskosten der MitarbeiterInnen abzufedern. In puncto Rekrutierung sieht Reisenegger durchaus mögliche Nachteile durch den Brexit: „Längerfristig könnte es schwieriger sein, gute Leute aus dem Ausland anzustellen. Zum einen, weil es schwieriger ist und mehr Papierkram erfordert. Und zum anderen, weil der Brexit UK als Heimatland für viele unattraktiver gemacht hat.“ Auch einige Dinge aus dem Business-Alltag seien mit dem Brexit schwieriger geworden, so der Agenturchef: „Zum Beispiel Dinge per Post nach Europa zu schicken – wie Einladungen für Partner, Spielepakete und Merchandise für Influencer und so weiter. Das braucht jetzt länger und ist teurer.“

Wir hoffen, dass die Regierung diesen Ehrgeiz auch künftig an den Tag legt

Längere Vorlaufzeiten
Der deutsche Distributor NBG verzeichnet bisher keine Beeinträchtigungen durch den Brexit. NBG-Geschäftsführer Markus Biehl glaubt aber auch, „dass der Großteil der englischen Firmen den Brexit-Aufwand unterschätzt hat und es täglich noch zu neuen Herausforderungen wegen des Brexits kommt“. Fragen wir also beim britischen Publisher Sold Out nach, mit dem NBG seit Jahren eng zusammenarbeitet. Deren Account Director Andy Hoskin sieht relativ geringe Anpassungsprobleme. „Wir mussten gleich zu Beginn jemanden bestimmen, der sich um den Warenimport aus Europa kümmert und den Zolldurchlauf optimiert. Das war mit Kosten verbunden – für spätere Importe waren sie aber sehr gering“, berichtet Hoskin. „Die einzige bleibende Auswirkung ist, dass wir jetzt fünf statt zwei Tage Lieferzeit einplanen, was in unseren Produktionsplänen berücksichtigt wird.“ Grundsätzlich würden alle Sold-Out-Waren in Europa hergestellt und zusammengefügt, so Hoskin. „Deshalb ist der Großteil unserer täglichen Warenbewegungen nicht betroffen – zumindest nicht, was die wichtigsten Gebiete betrifft.“ Die Waren würden vom Hersteller direkt zu ihrem Ziel auf dem europäischen Festland geliefert – ohne dabei britischen Boden zu berühren. „Kleinere Lieferungen von UK nach Europa müssen jetzt zusätzlich dokumentiert werden“, sagt Hoskin. „Aber sobald die Basis-Unterlagen erstellt wurden, ist das ein relativ einfaches Procedere.“ Sein Fazit: „Wir konnten uns vergleichsweise leicht an die Veränderungen anpassen, ohne dass das unser Geschäft nachhaltig beeinflusst hätte.“

Nun ist zum jetzigen Zeitpunkt natürlich noch nicht absehbar, welche Auswirkungen der Brexit mittel- und langfristig auf die Games-Branche haben wird. Im IGM-Interview verweist game-Geschäftsführer Felix Falk denn auch auf die vielen Übergangsregelungen, die momentan noch in Kraft seien. Schon jetzt gebe es Beispiele dafür, wie schwierig eine künftige Zusammenarbeit in bestimmten Bereichen werden könne, so Falk: „Das gilt insbesondere für Reisen von und nach Großbritannien sowie bei verschiedenen Steuerthemen und dauerhaften Aufenthalten in Großbritannien. Insbesondere letztere haben sich deutlich verkompliziert, sodass einige Expertinnen und Experten der Games-Branche ohne britische Staatsbürgerschaft Großbritannien bereits verlassen haben.“ Falk sieht das Thema „Fachkräfteaustausch“ also etwas anders als seine Branchen-KollegInnen Jo Twist und Kim Adcock. Aber auch in anderen Bereichen würden die Brexit-Auswirkungen künftig noch deutlicher zutage treten, prognostiziert Falk: „Schon jetzt deutet sich an, dass Großbritannien sich vom EU-Recht stärker abgrenzen wird – etwa in den Bereichen Verbraucherschutz, Urheberrechte und Jugendschutz. Hier wird es wohl zu deutlicheren Unterschieden kommen – und folglich werden die Unternehmen größere Anpassungen vornehmen müssen, wenn sie in beiden Märkten aktiv sein möchten, was wiederum zu höheren Kosten führen wird.“

Konkrete Forderungen
Die größten Baustellen der britischen Games-Branche sieht Ukie-Chefin Twist vor allem im Kommunikationsbereich. „Wir müssen sicherstellen, dass wir als verantwortungsvoller Teil der Gesellschaft wahrgenommen werden – und nicht als etwas, über das man sich sorgen oder vor dem man sich fürchten muss“, so Twist. „Das bedeutet, die Branche muss ihre großartige Arbeit fortsetzen – was Inklusivität angeht, was sicheres und vernünftiges Spielen für alle Altersgruppen betrifft, und auch in Bezug auf unsere gesellschaftliche Verantwortung, zum Beispiel für die Zukunft dieses Planeten.“ Twists Kollege Richard Wilson hat derweil ganz konkrete Forderungen an die britische Regierung. Erstens solle sie den Video Games Tax Relief optimieren, indem sie den Steuernachlass von 25 auf 32 Prozent erhöhe. Zweitens solle sie einen Video Games Investment Fund (VGIF) einführen, um Entwicklerstudios besser zu fördern: „Der VGIF würde Games-Firmen eine Kofinanzierung von bis zu 500.000 Pfund ermöglichen.“ Die dritte große Herausforderung ist laut Wilson der Nachschub an gut ausgebildeten Fachkräften aus dem Inland – etwa durch einen Skills Investment Fund.

Halten wir also fest: Die britische Games-Branche zeigt sich trotz Brexit und Pandemie sehr robust. Herausforderungen wie den Fachkräftemangel wird sie jedoch künftig stärker in den Fokus nehmen müssen. (Achim Fehrenbach)

IGM 02/22
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