„Cyberpunk 2077“-Star Keanu Reeves gehört zu bekanntesten, noch immer aktiven (und obendrein quicklebendigen) Schauspiel-Marken der 80er- und 90er-Jahre. Einer Zeit, in der nicht nur Firmen und fiktive Labels, sondern vor allem Personen aus Fleisch und Blut eine echte Marke sein können. Und nicht selten Millionen Zuschauer ins Kino locken. In einem cineastischen Zeitalter, in dem 300 Mio. Dollar ein überaus beachtliches Einspiel-Ergebnis sind – und nicht wie heute ein Beinahe-Flop. Denn richtige Milliarden-Hits gibt es noch keine: Bis Camerons „Titanic“ 1997 mit einem revolutionären Einspielergebnis von 1,8 Mrd. US-Dollar endgültig den Damm bricht. Bis dahin führen Spielbergs erster „Jurassic Park“ (1993, 912 Mio. Dollar) und Disneys „König der Löwen“ (1994, 858 Mio. Dollar) die (nicht Inflations-bereinigten) Box-Office-Charts an.
Allerdings beginnt sich bereits während dieser frühen Blockbuster das Verhältnis von Produktionskosten und Erträgen zu verzerren: Je mehr Geld die Studios verdienen wollen, desto mehr müssen sie in die Hand nehmen. Eine ähnliche Entwicklung gibt es bereits während der 50er- und 60er-Jahre, als überteuerte Monumental-Produktionen manch eine Film-Firma in die Pleite reiten, um dann – während der 70er – in eine Phase zu münden, in der die meisten Produktions-Fabriken auf Sparflamme kochen müssen. Zumal der Siegeszug des jungen TV-Mediums dem Kino immer stärker zu schaffen macht. Trotzdem landet man mit dieser Strategie einige bemerkenswerte Erfolge: Darunter zum Beispiel Spielbergs „Der weiße Hai“, der 1975 mit unglaublichen 471 Mio. US-Dollar mehr als 67 mal so viel einspielt wie er gekostet hat und damit als Initialzündung für einen neuen Kino-Frühling in die Filmgeschichte eingeht. Nicht ganz so imposant, aber immer noch eindrucksvoll gibt sich zwei Jahre später George Lucas’ „Star Wars“: Der Sternenkrieg kostet elf Millionen US-Dollar und holt an den Kassen stattliche 307 rein. Ungefähr das gleiche Budget/Box-Office-Verhältnis schafft übrigens die im selben Jahr gestartete Burt-Reynolds-Klamotte „Ein ausgekochtes Schlitzohr“: Die kostet bei einem Box-Office-Einschlag von 126 Mio. gerade mal 4,3 Mio. US-Dollar.
Zum Vergleich: Der letzte „Avengers“-Film „Endgame“ führt mit einem gigantischen Ergebnis von 2,7 Mrd. US-Dollar zwar für eine ganze Weile die Box-Office-Listen an, kostet dafür aber auch stattliche 356 Mio. Und ist damit – für sich allein betrachtet – weit weniger wirtschaftlich produziert als das Schlitzohr. Zumal der Vertrieb von Filmen im Jahr 1977 – das wird gerne vergessen – wesentlich aufwendiger ist als heute. Bis vor wenigen Jahren muss jedes Kino pro Film mit einer beschränkten Anzahl Zelluloid-Kopien auskommen. Heute dagegen sind die meisten Lichtspielhäuser digital eingerichtet und können die per Online-Transfer gelieferten Filme deshalb auf beliebig vielen Leinwänden gezeigt werden.
Je mehr Geld die Studios verdienen wollen, desto mehr müssen sie in die Hand nehmen
Nach oben gekämpft
Ähnliche wirtschaftliche Erfolge hat ein Keanu Reeves zwar nicht vorzuweisen, aber auch er arbeitet sich während der späten 80er- und insbesondere 90er-Jahre hartnäckig nach oben: 1989 wird der trashige, aber charmante Star in „Bill und Teds verrückte Reise durch die Zeit“ (Budget: zehn Mio. Dollar, Einspielergebnis: 40,5 Mio.) erstmals einem Nischen-Publikum bekannt, bevor er 1991 an der Seite von Patrick Swayze in dem Surfer-Streifen „Gefährliche Brandung“ (Budget: 24 Mio. Dollar, Einspielergebnis 83 Mio.) eine breitere Zuschauer-Basis erreicht. Oder 1994 in „Speed“ (28 Mio. gegenüber 121 Mio. Dollar) mit 50 Bus-Meilen auf die Top-Ränge zusteuert. Kleines Detail am Rande: Jeder dieser Filme spielt ungefähr viermal so viel ein, wie er gekostet hat. Immerhin.
Dann kommt 1995 mit dem Cyberpunk-Thriller „Johnny Mnemonic“ der erste echte Ausreißer nach unten (26 Mio. Dollar Budget bei schmalen 19 Mio. Einspielergebnis) – aber wenigstens kann sich Reeves mit der Verfilmung von William Gibsons literarischer Vorlage schon mal ins Cyberpunk-Fach einarbeiten. Ein Genre, das seinen weiteren Werdegang maßgeblich beeinflussen soll: 1999 hebt der noch junge Action-Darsteller mit der „Matrix“ endgültig ab. Der verschlingt mit 63 Mio. Dollar für späte 90er-Verhältnisse zwar kein kolossales, aber doch recht stolzes Budget und stellt damit für die Produktionsfirma von Action-Profi Joel Silver („Lethal Weapon“, „Predator“) ein nicht unbeträchtliches Risiko dar – zumal die Regie-führenden Wachowski-Brüder noch Newcomer sind. Zum Glück geht die Rechnung für alle Beteiligten auf: „The Matrix“ spielt 463 Mio. US-Dollar ein und verpasst damit zwar die Position des erfolgreichsten Film des Jahres (diese Ehre geht an „Star Wars: The Phantom Menace“), löst aber ein weltweites popkulturelles Erdbeben aus. Ein Erdbeben, das seine Schockwellen von der Film- bis in die benachbarte Games-Branche schickt: Das extra für den Film erfundene „Bullet-Time“-Verfahren, bei dem eine Szene eingefroren und dann von allen Seiten gezeigt wird, ist auf einmal omnipotent. Und sogar in knuffigen Spielen wie „Rayman 3“ zu finden. Inzwischen werden die „Matrix“-typischen, grünen Glyphen auf schwarzem Grund zum Sinnbild für das Beiseite-Streifen des digitalen Vorhangs und das Betreten des Cyberspaces.
Mein Name ist Silverhand
Nur logisch, dass der durch die „John Wick“-Filme wieder prominent gewordene Keanu Reeves in einer ähnlich angelegten Spiele-Rolle zu sehen ist: Für „Cyberpunkt 2077“ hat das polnische Studio CD Projekt den mittlerweile 57-jährigen Kanadier in die Rolle des toten Rock-Revolutionärs Johny Silverhand verfrachtet. Während der Spieler aus der Ego-Perspektive das virtuelle Megalopolis „Night City“ durchfährt, durchwandert und durchballert, begleitet ihn Silverhand als digitales Konstrukt, weil er zu Spielbeginn einen Chip in den Schädel verpflanzt bekommt. Die andauernde Zwiesprache zwischen Spieler und Silverhand entwickelt sich zu einer futuristischen Variante von Henry Kosters kultiger James-Stewart-Komödie „Mein Freund Harvey“. Nur, dass der Protagonist hier nicht mit einem menschengroßen Hasen, sondern dem aus Datenströmen bestehenden „Geist“ eines toten Gitarren- und Bleipusten-Akrobaten spricht, den nur er sehen kann. Ein Szenario, das ebenso für süffisante Gags wie für interessante Spannungen sorgt – und Keanu Reeves regelrecht auf den Leib geschrieben wurde.
Bemerkenswert ist außerdem, dass hier zwei Labels und Strömungen aufeinandertreffen, die ihre Wurzeln beide in den 80er-Jahren haben: Keanu Reeves als überwiegend im Cyberpunk-Fach beheimatete „Mensch-Marke“ sowie eine digitale Umsetzung des Pen-and-Paper-Rollenspiels „Cyberpunk 2020“ (1988 bei Talsorian Games), das auf William Gibsons „Neuromancer“-Trilogie (1984) zurückgeht. Die wiederum gilt zusammen mit der vielsagend betitelten Kurzgeschichte „Cyberpunk“ als Geburtsstunde desjenigen Sub-Genres, das klassische Science-Fiction mit Film-Noir-Elementen kombiniert und dabei auf die Modifikation des Menschen mithilfe von High-Tech-Prothesen oder digitalen Implantaten fokussiert. Durch diese Verschmelzung wird Keanu Reeves selber digitalisiert und seine „Marke“ buchstäblich vercybert – ein bemerkenswerter Prozess, der nicht ohne eine gewisse Ironie daherkommt.
Kein Erfolg ohne 80er-Erbe
Allerdings hätte dieser Prozess niemals funktionieren können, wenn der Mensch Keanu Reeves und Cyberpunk als Genre oder Pen-and-Paper-Spiel nicht über viele Jahre organisch gewachsen wären. CD Projekt hat diese Elemente zwar kunstvoll miteinander kombiniert, aber der Erfolg dieser Verschmelzung hätte nicht ohne die Mühe und den Schweiß funktionieren können, die vorher in die Evolution eines literarischen Subgenres und in die Karriere eines Stars geflossen sind. Ein Phänomen, das für unsere Zeit typisch zu sein scheint: Ob Spiel oder Film – die größten und meist am Marketing-Reißbrett entstandenen Erfolge unserer Zeit basieren auf einer vergleichsweise natürlichen Marken- und Hit-Evolution, die Jahrzehnte vorher stattgefunden hat und bei der man sich nun besonders üppig bedient. Eine Entwicklung, die – zumindest gefühlt – ein bisschen was von kreativer Endzeit hat.
Das gilt für die Games-Branche genauso wie für den Film – nur, dass sich diese Entwicklung anhand des cineastischen Beispiels akkurater zeichnen lässt. Weil der Film als seit vielen Jahrzehnten akzeptierte Medien- und Kunstform transparanter kommuniziert und dementsprechend präziser vermessen wird. Und natürlich aufgrund des ernüchternden Umstands, dass Videospiele noch immer damit beschäftigt sind, der Filmwelt und ihren Marken hinterherzulaufen. Weil der durchschnittliche Film mehr Persönlichkeit und Profil hat als das durchschnittliche Spiel und der cineastische Marken-Zirkus bereits wachsen und gedeihen konnte, während unser Medium noch immer damit beschäftigt war, seine ideale Darstellungsform zu finden. Und damit, dem Traum eines spielbaren Films nahezukommen: Einmal im Tie-Fighter durch den Todesstern-Graben fliegen – oder als Indiana Jones versunkene Schätze heben. Hollywood macht die Träume – und Spiele-Hersteller sind damit beschäftigt, ihre ikonischen Bilder auf der interaktiven Ebene erlebbar zu machen.
Wer Spiele-Marken verstehen will, muss zwangsläufig auf die Filmbranche schielen
Vorbild Film … immer noch
Das bedeutet nicht, dass die Wurzeln funktionierender Spielmechanismen in der Filmwelt fußen würden – aber die Bilder dafür werden seit Mitte der 70er-Jahre auf der Leinwand geprägt. Ähnliches gilt übrigens für Vermarktungs-, Finanzierungs- und Vetriebsmodelle. Wer Spiele-Marken verstehen will, muss deshalb fast schon zwangsläufig auf die Filmbranche schielen. Zumal die Lizenzierung von Filmstoffen durch Disneys wuchernden Franchise-Kosmos wieder zusehends in Mode kommt: Vor Jahrzehnten im Film- oder Comic-Kosmos entstandene Produkte wie „Star Wars“, Marvel, „Alien“ und „Planet der Affen“ gehören jetzt Micky Maus – und Hersteller wie Square Enix oder Electronic Arts wollen ein Stück vom Kuchen. Auch wenn sie sich manchmal ganz schön daran verschlucken.
Dabei ist Disney nebst angegliederter Studios und Lizenzmaschine eher Marken-Verwalter als Marken-Versteher. Die ursprünglichen Schöpfer dieser Kosmen sind oft schon lange aus dem Rennen – darum wird jetzt schlimmstenfalls nur noch wiederholt oder – etwas besser – neu interpretiert. Mal mehr, mal weniger pointiert. Die unterdessen heranwachsende Konsumenten-Generation wird zum willfährigen Marken-Gefolge erzogen, das idealerweise alles schluckt, was dem Kaugummi-farbenen Franchise-Pool entsteigt.
Willkommen in der Welt der Mega-Marken
Auch hier hilft zwecks besserem Verständnis für die damit einhergehenden Risiken der Blick ins Kino und seinen so wunderbar transparenten Datenschatz: So werden die ersten 20 Box-Office-Ränge des letzten Prä-Corona-Jahres 2019 fast ausschließlich von großen Franchises (die meisten davon in Disney-Hand) gestellt, während sich eigentlich bedeutendere Werke wie Tarantinos „Once upon a Time in Hollywood“ mit weit weniger attraktive Plätzen begnügen müssen. Resümee: Die Blockbuster-Architektur hat endgültig übernommen und ihre erfolgreichsten Produkte verteilen sich auf einen stetig schrumpfenden Pool aus multimedialen Mega-Companies. Dem Szenario aus „Cyberpunk 2077“ übrigens nicht unähnlich. Denn auch hier geht es im Kern um den Kampf gegen eine von Mega-Konzernen dominierte Gesellschaft und die Befreiung aus ihrem alles erstickenden Würgegriff.
Passenderweise gehört Entwickler und Hersteller CD Projekt zu den letzten vergleichsweise kleinen Spiele-Firmen, die sich eine gewisse Eigenständigkeit bewahren konnten und dennoch imstande sind, auf Blockbuster-Niveau zu liefern. Aber offenbar hat auch diese Eigenständigkeit ihren Preis: Um konkurrieren zu können, muss man den Lohn-Level niedrig und die Crunch-Times brutal halten, während das finale Projekt – obwohl im Grunde grandios – zu früh und unfertig veröffentlicht wird. Um die Geschäftsziele zu erreichen und die Investoren zufriedenzustellen. Die gehen anschließend trotzdem auf die Barrikaden, weil man das gesetzte Qualitätsziel nicht erreicht hat. Zumindest nicht auf allen Zielplattformen.
Dabei sind sowohl „Cyberpunk 2077“ selber als auch seine Investoren das Opfer eines Medien-Marktes, der sich nicht nur in immer stärkere Abhängigkeit des Blockbuster-Modells, sondern vor allem seiner Marken begibt. Weil man sie für eine sichere Bank hält. Also zaubert man alte Bekannte aus dem Hut – von „Star Wars“ über Marvel, DC und „Final Fantasy“ bis hin zu verschollen geglaubten 80er-Schätzen wie den „Ghostbusters“. Das Problem dabei ist nicht mal der Blockbuster selber – denn geschliffene und protzig präsentierte Produkte fungieren als Antriebsmotor für ihr jeweiliges Medium. Und sind damit quasi alternativlos.
Wenn man dieses Modell – aus der verständlichen Furcht vor Verlust – aber mit der Sorte Marken-Stagnation paart, wie wir sie aktuell Medien-übergreifend beobachten, dann ergibt sich daraus unweigerlich ein gewisses Gefahren-Potential. Denn auf Dauer können jedes Medium und die aus ihm erwachsenden Geschäftsmodelle nur dann überleben, solange sie auch ein gewisses Maß an Diversität bieten.
Walled Franchise-Garden
Wenn man aber schlimmstenfalls zulässt, dass sich die dominanten Marken zu untereinander rivalisierenden Ökosystemen entwickeln, von denen jedes eifersüchtig seine Kunden und Fans hütet (wie beim wachsenden Angebot aus TV-Streaming-Diensten der Fall), dann hat man ein Problem. Und womöglich bald den Punkt erreicht, an dem diese Ökosysteme kaum noch lukrativ genug sind, um ihren bestehenden Marken-Fundus und dessen Mitarbeiter- oder Digital-Architektur zu unterhalten. Spätestens dann, wenn die Nutzer realisieren, dass weder ihr Zeit- noch ihr Bankkonto geduldig genug sind, um die meisten dieser Marken-Managen gleichzeitig zu besuchen.
Darum sollte man bei aller Vorsicht und Franchise-Gepoltheit nicht vergessen, dass es manchmal nicht ohne Risiko geht. Und den Mut, um in Neuerungen zu investieren und sie langsam gedeihen zu lassen. Während man unkontrolliert gewachsene Wucherungen stutzt, kleinere Projekte fördert und vor lauter Planbarkeit nicht das aus dem Auge verliert, was jedes Medium und jede Marke groß gemacht hat: Faszination. Denn an deren Vermittlung mangelt es gerade ganz gewaltig. Sicher, mitten in einer Pandemie ist das leichter gesagt als getan. Aber wir leben seit 2020 in einer neuen Welt – und auch unter diesen Umständen werden wir nicht umhin kommen, Innovationen zu liefern. Anstatt uns eifersüchtig in unseren eigenen, von hohen Zäunen umgebenen und in Marken-Starre gefangenen Ökosystemen abzuschotten. Das gilt für die digitale und multimediale Welt genauso wie für die echte. Vielleicht mehr denn je. (rb)