Der Event-Kalender steckt voller Überraschungen! So könnte man – leicht euphemistisch – die mangelnde Vorhersehbarkeit beschreiben, die das Event-Geschehen in Q1/Q2 2022 kennzeichnet. Die CES im Januar fand physisch statt, die Nürnberger Spielwarenmesse Anfang Februar nahm kurzfristig die Abzweigung Richtung Online-only. Die GDC im März soll wiederum auch physisch stattfinden, alldieweil die E3 für Juni bereits ein Online-only-Event angekündigt hat.
Die kleine Auswahl zeigt: Event-Organisatoren treffen ihre „Entscheidungen unter Unsicherheit“ höchst unterschiedlich – wobei die Unsicherheit aus der Frage resultiert welche Wellen und Varianten uns Covid in nächster Zeit noch beschert. Man kann jetzt natürlich viel darüber diskutieren, wie es pandemisch in den nächsten Monaten weitergehen wird. Spannender ist aber die Frage, welche Ideen die Event-Branche in der Pandemie hervorgebracht hat. Die Dauer-Ausnahmesituation hat einen Innovationsdruck erzeugt, der sich in neuen, hybriden Formaten niederschlägt. Und diese Formate werden auch dann zum Einsatz kommen, wenn die Pandemie irgendwann ausgetrudelt sein sollte. Also: Was haben die Veranstalter in petto?
Zielgruppenansprache
Bevor wir uns die einzelnen Formate genauer anschauen, sind ein paar Vorüberlegungen angebracht. Der Versuch, ein originär physisches Events online zu spiegeln, kann die Marke auch verwässern – siehe die gamescom-Diskussion in Teil 1 dieses Specials. Die zentrale Frage lautet also: Welches Format passt zu welcher Zielgruppe? „Der heilige Gral ist noch nicht gefunden worden“, sagt dazu Tobias Kopka, Gründer von Curatomic. „Jede Zielgruppe und jede Community funktioniert anders.“ Kopka gehört zu den erfahrensten Event-Experten der Games-Branche: Als Konzeptberater und Programmplaner hat er unter anderem schon für Reboot Develop, gamesweek Berlin, gamescom congress, Next Level, Ludicious, Respawn, devcom und Quo Vadis gearbeitet. „Wie bei physischen Events auch müssen sich die Veranstalter sehr genau überlegen, welche Erfahrung sie den TeilnehmerInnen auf welchem Kanal mit welchem Zweck und Ziel vermitteln wollen“, beschreibt Kopka die Herangehensweise an Online-Formate. „Ich muss mir genau überlegen, welche Eindrücke eine BesucherIn, eine SpeakerIn, eine JournalistIn, eine SponsorIn oder eine PartnerIn in jeder der Phasen eines Events erfährt – von der Einladungs-E-Mail über die Ankunft in einer virtuellen Lobby und das Kern-Event bis hin zum Networking und zur Verabschiedung.“ Wie bei physischen Events könne man bestimmte Schwerpunkte setzen – oder eine stimmige Gesamterfahrung schaffen. „Wenn man aber auf das vergangene Jahr schaut, muss man klar einräumen, dass wir in der Format-Entwicklung noch in den Kinderschuhen stecken“, zieht Kopka eine nüchterne Bilanz. „In den meisten Fällen wurden dann doch die klassischen Formate Talk, Workshop, Roundtable und Ausstellung mal mehr, mal weniger in den virtuellen Raum transferiert – und eine anfängliche Experimentierstimmung ist einer gewissen Katerstimmung zu virtuellen Events gewichen.“ Allerdings glaubt Kopka, dass diese Katerstimmung ein ausgezeichneter Nährboden für Experimente ist: „Denn der Bedarf, sich physisch und remote verbinden zu können, ist riesengroß.“
Der heilige Gral ist noch nicht gefunden worden
Eine Marke, die sich in der Pandemie bereits stark gewandelt hat, ist die devcom. 2017 als offizielles Entwickler-Event der gamescom gestartet, musste sie auf die neuen Corona-Realitäten reagieren – und tat das auch mit einiger Kreativität. „Nachdem 2020 die gamescom und somit auch die devcom zum ersten Mal komplett digital und online stattfand, hat unser Team schnell realisiert, dass es langfristig nicht mehr ausreicht, sich auf ein großes Event im Jahr festzulegen“, sagt Robin Hartmann, zuständig für Brand, Communication & Marketing. „Online“ bedeute eben auch, immer verfügbar sein zu können – und sich nicht mehr an eine Location und einen Termin binden zu müssen. „Besonders im vergangenen Jahr haben wir daher viele neue Formate getestet und etabliert – alle mit dem Ziel, die devcom zu einem Ganzjahreserlebnis zu machen. Und das nicht nur für Partner, sondern besonders mit Fokus auf Community bzw. Personen aus der Spieleindustrie.“ Eine der wichtigsten Neuerungen waren regelmäßige Live-Shows auf Twitch, berichtet Hartmann. „Nicht nur aus unserem Studio in Hürth, sondern auch aus dem Homeoffice hosten wir wöchentlich unterschiedliche Shows.“ Zu den insgesamt sieben Twitch-Formaten zählen unter anderem „Industry Insiders“, ein regelmäßiger ExpertInnen-Talk zu bestimmten Themen, aber auch „Early Access“, eine Morning-Show mit Gaming- und Industrie-News. „Insgesamt sind wir im vergangenen Jahr fast 200 Mal live gewesen und haben über 12,1 Millionen geschaute Minuten erreicht – das sind knapp 49 Jahre“, freut sich Hartmann.
Digitales Matchmaking
Den Wechsel vom punktuellen zum „Ganzjahreserlebnis“ hat die devcom also hinbekommen – die Developer Conference zur gamescom wanderte ebenfalls ins Digitale. Darüber hinaus veranstaltete devcom online auch mehrere Executive Summits sowie einige themenbezogene Summits, nämlich „Call for Change“ (Diversity), „Accessibility“, „Tech & Tools“ sowie „Art & Animation“. Das Format „Pitch it!“ wolle man dieses Jahr noch weiter ausbauen, sagt Hartmann. „Das ist übrigens auch ein tolles Beispiel für Weiterentwicklung, denn wir versuchen hier nicht einfach nur übliches Matchmaking digital umzusetzen. Stattdessen fertigen wir – dank zahlreicher Informationen, die wir von den Teilnehmenden erhalten – individuelle Meeting-Vorschläge an, welche die Qualität der Gespräche spürbar erhöhen und den Teilnehmenden Arbeit abnehmen.“ Abgerundet wird das Ganze von diversen Podcasts und Youtube-Highlights, in denen devcom die Summits zusammenfasst. „Kurz gesagt, wir probieren vieles aus und wollen uns nicht nur bei Themen, sondern auch Technologie und Plattformen divers aufstellen“, betont Hartmann. „Eben so, wie es auch unsere Industrie ist. Was gut funktioniert, bauen wir aus, was nicht klappt, fahren wir zurück – oder versuchen, es zu verstehen und zu verbessern.“
Einen wahren Boom erleben in der Pandemie virtuelle Messestände. Besonders hervorgetan hat sich hier die Hamburger Firma Super Crowd Entertainment, die unter anderem die Indie Arena Booth bei der gamescom organisiert. Weil wuselige Indie-Stände nicht so wirklich corona-kompatibel sind, nahm Super Crowd digitale Messewelten ins Programm. „Mit dem Start der Pandemie begannen wir, unser eigenes Framework zu entwickeln, das Ausstellenden erlaubt, ihren eigenen Stand virtuell zu bauen“, berichtet Valentina Birke, Director Indie Arena Booth & DreamHack Beyond. „Mittlerweile bieten wir das gesamte Worldbuilding und vereinfachte Standpakete an, was dem Produkt sehr zuträglich ist.“ Das Framework gewährleiste ein einheitliches Erscheinungsbild, „das Ausstellenden aber weiterhin die volle Freiheit über ihre Inhalte lässt“. Das sei wichtig, weil Super Crowd nicht nur Kunden aus der Entertainment-Branche habe, sondern auch aus anderen Industrie- und Business-Bereichen. „Seit Beginn der Pandemie hat es viele Online-Events gegeben – aber nur wenige haben es geschafft, die sozialen Aspekte von Events erfolgreich zu berücksichtigen“, konstatiert Birke. „Während einige sich auf eine Mischung aus Streaming und Discord-Servern verlassen haben, hat Super Crowd eine soziale, MMO-ähnliche Plattform geschaffen.“ Das neue Format sei browserbasiert und damit für alle User zugänglich. „Wir schaffen ein gamifiziertes Community-Gefühl, in das die Kunden wunderbar eingefügt werden, mit einem Welt-Design, das Usern eine Geschichte erzählt“, sagt Birke. Was das konkret bedeutet, ließ sich beispielsweise bei der virtuellen Indie Arena Booth auf der gamescom 2021 bewundern. Das „Summercamp of Doom“ bot nicht nur eine gepflegt postapokalyptische Atmosphäre (Autowracks, ranzige Container, Cyberpunk-Tech), sondern auch die Möglichkeit, mit dem selbst designten Avatar virtuelle Indie-Stände abzuklappern.
Begehrte Expertise
Einen Namen hat sich in den vergangenen Jahren auch Booster Space gemacht, die Firma des Berliner Networkers Michael Liebe. Ursprünglich auf physische Events spezialisiert, musste sich Booster Space in der Pandemie ebenfalls neu orientieren – und tat das auch mit verschiedenen Formaten. „Während der gamesweekberlin ging der Dev Booster, unser Pitching-Contest, in die dritte Runde – und fand seinen Höhepunkt in dem Live-Finale auf Twitch“, sagt COO Lena Alter. „Zusammen mit unserem Partner MeetToMatch haben erneut deren Online-Plattform für ein erfolgreiches Online-Business-Networking genutzt.“ Booster Space engagiere sich auch stark in Sachen Klimaschutz, so Alter. „Im Rahmen der Green X unterstützen wir die Initiativen Plantaciones Edelman sowie den gamesforest.club – und sehen auch in der künftigen Ausgestaltung weiterer Online-Formate die Möglichkeit, hier unseren Beitrag zur Erreichung der aktuellen Klimaziele auszubauen.“ In diesem Jahr wird Booster Space bereits etablierte Formate fortführen – und gleichzeitig neue Formate etablieren. „Die Womenize! wird auch in 2022 mit dem wöchentlichen Interview Format ‚Womenize! – Inspiring Stories‘ weiterhin die verschiedenen weiblichen Role-Models des Games-Industrie vorstellen“, kündigt Alter an. „Weiter fest geplant für 2022 ist die Formatreihe ‚Most Wanted: Roommates‘, die wir zusammen mit Factory-C auf Twitch produzieren. Das Format wird zwischen März und Juli einmal im Monat stattfinden.“ Die Online-Expertise von Booster Space werde gerade stark nachgefragt, berichtet Alter. Man arbeite unter anderem mit dem Konzerthausorchester Berlin, dem Umweltbundesamt und dem Fraunhofer-Instituts für Solare Energiesysteme ISE zusammen.
Herausforderung für die Kommunikationsarbeit
Achim Quinke ist ein Urgestein der deutschen Games-Branche: Seine Kommunikationsagentur Quinke Networks feierte 2021 ihr 20-jähriges Jubiläum – und begleitet zahlreiche Branchen-Events, etwa den Deutschen Computerspielpreis, den Deutschen Entwicklerpreis, den gamescom congress und das Next Level – Festival for Games. Wie aber reagiert ein solch erfahrerener Organisator auf die Herausforderung Corona? „Alle Veranstaltungen mussten seit Beginn der Pandemie ihre bestehenden Formate anpassen, teils sogar neu erfinden“, sagt Quinke. „Im Mittelpunkt dabei stand immer die Erweiterung oder der vollständige Switch auf digitale Events. Die Lernkurve war bei allen Events sehr steil und 2021 ist vieles besser gelaufen als im Jahr zuvor.“ Laut Quinke sind reine Online-Events eine besondere Herausforderung für die Kommunikationsarbeit: „Kein roter Teppich beim DCP, keine Pressekonferenzen oder Interviews vor Ort – das alles erschwert den Austausch mit JournalistInnen. Entsprechend mussten auch wir unsere Arbeit anpassen – nicht immer zum Nachteil, wenn ich auf die erzielten Reichweiten schaue.“ Quinke Networks setzt dabei vor allem auf interaktive Streaming-Formate, die – je nach Event – ganz unterschiedlich ausfallen können. „Beim DCP stehen die Ehrungen der besten Spiele und ihrer MacherInnen im Mittelpunkt“, so Quinke. „Entsprechend geht es darum, dass die Preisverleihung auch im digitalen Raum glanzvoll und würdigend sein muss – und zugleich eine unterhaltsame Show für alle ZuschauerInnen im Live-Stream.“ Eine andere Herausforderung biete indes der gamescom congress: „Hier geht es um die Vermittlung von teils sehr komplexen Themenfeldern rund um die Potenziale von Games in verschiedenen Sessions. Hier stehen daher der kompakte Informationsaustausch und Interaktionsmöglichkeiten mit den Usern im Stream im Fokus.“ Beides sei im letzten Jahr auch sehr gut gelungen, bilanziert der Kommunikationsprofi.
Mehr Mut gefragt
Auch Christian Denk zählt zu den erfahrensten Orga-Experten der hiesigen Games-Branche: Von 2006 bis 2014 war er Event-Manager DACH bei SCED, anschließend für vier Jahre Senior Brand Activation Manager GSA bei SIED; derzeit berät er unter anderem die Senior eSports AG aus der Schweiz. In Teil 1 unseres Specials hatte Denk ja bereits klar Position bezogen, was die Sinnhaftigkeit einer digitalen gamescom angeht. Eine stärkere Auseinandersetzung mit der Zielgruppe wäre notwendig gewesen, um die Marke gamescom weiterzuentwickeln, so Denk: „Hier gehört für mich auch der Mut dazu, die gamescom in der aktuelle Situation ein- oder vielleicht auch mehrmals bewusst abzusagen. Als Statement – und um den Markenkern zu erhalten und zu stärken.“ Wo aber sieht Denk die Zukunft von Games-Messen – gerade, wenn es um Erlebnisse geht, die sich digital kaum reproduzieren lassen? „Das haptische Erleben und Ausprobieren von Hardware spricht natürlich den schwierigsten Bereich von Online-Events und einen der größten USPs der Offline-Events an“, sagt Denk. So könne man den haptischen Controller oder das VR-Headset aktuell nur ‚in echt‘ richtig erleben. „Influencer können hier natürlich mit Unboxing und Beschreibung helfen – und das hat sicher auch seine Berechtigung, kann aber das Live-Erleben und -Ausprobieren nicht ersetzen“, sagt Denk. „Wer weiß, was hier die Metaverse-Zukunft bringt, aber aktuell sehe ich da keine adäquate Möglichkeit, das haptische Hardware-Erlebnis zu kompensieren.“ Spannend findet Denk aber, was sich in puncto Endorsement-, Bemusterungs- und Hands-on-Modelle für Consumer tut. „Die könnte man beispielsweise im Rahmen von alternativen, gegebenenfalls kleineren dezentralen Event-Formaten mit entsprechenden Online-Komponenten darstellen“, sagt Denk. „Von solchen Modellen könnten – sofern man sie richtig ausgestaltet und konzeptioniert – sowohl Hersteller und innovative Event-Veranstalter als auch Consumer profitieren.“
Verschiebung in Richtung Hybrid
Grundsätzlich, glaubt Denk, habe die Branche nach wie vor ein großes Bedürfnis nach analogen Begegnungen: „Ob es nun die ‚alte‘ gamescom ist, die zurückkommt, oder gänzlich neue Formate – das halte ich aktuell noch für sehr schwer zu prognostizieren.“ Denk ist jedoch davon überzeugt, das sich die Formate verändern und weiterentwickeln müssen: „Das wird auch eine Verschiebung in Richtung Hybrid beziehungsweise Online mit sich bringen. Die erfolgreichen Zukunftsformate werden einen guten und harmonischen Mix aus Off- und Online-Parts haben müssen. Aber ich gehe auch davon aus, dass die Events insgesamt in Sachen Owned Content, Entertainment-Faktor und Consumer-Fokus deutlich zulegen müssen.“ Denk fordert, Event-Veranstalter müssten künftig mutiger auftreten: „Aus meiner Sicht gilt es die Attitüde ‚Irgendwann wird alles wieder wie vor der Pandemie, man muss nur abwarten‘ abzulegen. Weil sie auch unabhängig davon, ob das so passiert, ein schlechter Ratgeber ist, obwohl ich leider aus eigener Erfahrung sagen kann, dass sie noch sehr weit verbreitet ist.“
Weltweite Vernetzung
Ähnlich sieht das auch Tobias Kopka. „Der virtuelle Geist ist aus der Flasche, und das ist auch gut so“, sagt er. „Das Spektrum an weltweiten Verbindungsmöglichkeiten ist durch digitale Events zweifelsohne erhöht worden, und insbesondere ist die Barrier-of-Entry weggefallen, die durch Reiseprivilegien und die damit verbundenen Budgets bei klassischen Events zweifelsohne vorhanden sind.“ Kaufkraftunterschiede, politische und kulturelle Hürden, Sprachbarrieren und vieles mehr ließen sich online deutlich besser überwinden, so Kopka. Gleichwohl hätten digitale Events ihre Grenzen, auch sei der Bedarf nach physischer Nähe, Reisen und gemeinsamer Erfahrung sogar gestiegen. „Physische Events, die eine eigene Identität haben, werden auch wieder besucht werden“, sagt Kopka. „So wird es beispielsweise für die letzte Meile von High-Class-Events nach wie vor einen Bedarf geben – oder auch die Anbahnung von Erstkontakten ein wiederkehrendes Thema bleiben.“ Robin Hartmann glaubt, dass die Branche sich wieder nach „echten“‘ Terminen sehnt: „Die ‚Online-Event-Fatigue‘ ist bei vielen Event-Besuchern schon sehr spürbar.“ Es gebe Bereiche von Veranstaltungen, die sich einfach nicht komplett digital umsetzen ließen. „Meetings und Netzwerken fühlen sich virtuell eben anders an, aber wir haben auch gelernt, was wir effektiv nutzen können.“
Warten wir ab, was die Zukunft bringt. Und verfolgen derweil interessiert, welche neuen Event-Formate die Branche hervorbringt. (Achim Fehrenbach)