Spiele­entwickler unter Druck: Welche Wege führen aus der Misere?

Ob seitens des Publishers, der Investoren, der Fans oder der Presse: Spiele­entwickler sind konstantem Druck und oft schwierigen Arbeitsbedin­gungen ausgesetzt. IGM skizziert Beispiele für dieses Phänomen und analysiert mögliche Wege aus der Misere – unter anderem im Gespräch mit Jan Klose, Managing Director des deutschen Entwicklerstudios Deck13 in Frankfurt.
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© tiero/stock.adobe.com, © rangizzz/stock.adobe.com
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Los Angeles im Juni 2018: Nach vielen Jahren des Wartens zeigt CD Projekt RED sein kommendes Science-Fiction-Rollenspiel Cyberpunk 2077 erstmals hinter verschlossenen Türen auf der weltgrößten Spiele-Neuheitenmesse E3. Die knapp einstündige Präsentation ist perfekt durchgeplant, stets bis auf den letzten Sitzplatz gefüllt und aufgrund der hohen inhaltlichen und optischen Qualität eines der damaligen Messe-Highlights. Medienvertreter überschlagen sich mit Lobeshymnen und treten damit einen Hype rund um Cyberpunk 2077 los, den der polnische Entwickler in den nächsten Jahren mit weiteren gelungenen Messeauftritten, vielen professionell inszenierten Hochglanz-Trailern und streng limitierten Werbe-Goodies immer weiter anheizt. Schon bald ist die Erwartungshaltung der meisten Fans gigantisch – nicht zuletzt, weil die Polen mit The Witcher 3: Wild Hunt schon einmal ein extrem erfolgreiches Rollenspiel abgeliefert haben.

Die Erwartungs­haltung der Fans ist gigantisch

Am 10. Dezember 2020 – nach insgesamt drei offiziellen Verschiebungen – ist es schließlich soweit. Cyberpunk 2077 kommt auf den Markt und CD Projekt RED, die Fan-Community und zum gewissen Grad auch die gesamte Spielebranche erleben eine bis dato ungeahnte Achterbahnfahrt der Gefühle. Zunächst dominiert Freude, zumal die Wertungen der PC-Fassung durchweg positiv ausfallen. Streckenweise gibt es gar extrem euphorische Rezensionen. Sei es nun God is a Geek, Meristation, IGN Japan oder Windows Central – 100er-Wertungen sind bei vielen internationalen Medien keine Seltenheit. Aber auch etliche deutschsprachige Magazine zücken Höchstwertungen für die PC-Version, allen voran GameStar mit 91 von 100 Punkten. Zumindest auf dem PC scheint Cyberpunk 2077 der erhoffte Hit geworden zu sein.

Das Problem: Als kurz darauf erste Testergebnisse der sehr spät verschickten Konsolenfassung die Runde machen und mehr und mehr Details zum fragwürdigen technischen Zustand der PlayStation-4- und Xbox-One-Versionen bekannt werden, steuert der einstige "Hypetrain" auf eine dramatische Entgleisung zu. Die Folgen lassen nicht lange auf sich warten: Während viele enttäuschte Konsolenkunden ihrem Frust im Netz freien Lauf lassen, gehen auch zahlreiche Medien und Influencer immer skeptischer an die Sache heran, laden Technik-Analyse-Videos auf YouTube hoch, lassen sich zu verstärkten Faktencheck-Berichten hinreißen, relativieren anfängliche Bewertungen, und so weiter.

Der Aktienkurs von CD  Projekt RED gerät ins Wanken, und kurze Zeit später zieht sogar Sony die Reißleine, entfernt die fehlerbehaftete Konsolenversion aus dem PlayStation Store und bietet den Kunden eine Erstattung des Kaufpreises an. Doch damit nicht genug: Ein Investor nimmt den schlechten technischen Zustand des Spiels sowie die in seinen Augen irreführende Kommunikation der Entwickler zum Anlass, Klage gegen CD Projekt RED einzureichen. Binnen weniger Wochen wird der einstige Shooting-Star der europäischen Entwicklerszene zum Sorgenkind – trotz mehr als 13 Millionen verkaufter Exemplare von Cyberpunk 2077. Ein Sorgenkind, das einige Analysten bereits als Übernahmekandidaten einstufen und das sich seit Anfang Februar 2021 zu allem Übel auch noch mit einem Hackerangriff konfrontiert sieht, der weiteres Unheil über das Unternehmen bringen könnte.

Cyberpunk 2077 ist kein Einzelfall
Keine Frage, CD Projekt RED hat es derzeit wirklich nicht leicht und kämpft verbissen an unterschiedlichsten Fronten, um die bestehenden Probleme in den Griff zu bekommen. Rückblickend betrachtet ist Cyberpunk 2077 allerdings nur die Spitze einer Evolution, die sich bereits in den Jahren zuvor regelmäßig beobachten ließ. Denn auch viele andere, vermeintliche Top-Titel schürten im Vorfeld teils schwindelerregende Erwartungen, die dem harten Realitätscheck am Release-Tag letztendlich nicht oder nur eingeschränkt standhalten konnten.

Siehe No Man's Sky: Als Publisher Sony das All-Abenteuer von Indie-Entwickler Hello Games im Rahmen der E3 2014 erstmals in Form eines mehr als drei Minuten langen Gameplay-Trailers präsentiert, sind dort unter anderem riesige Weltraumflotten sowie rasante Schiffsverfolgungsjagden nahe einer Planetenoberfläche zu sehen. Die Community jubelt, ist dann jedoch umso enttäuschter, weil eben diese und leider auch zahlreiche andere, vorab suggerierte Features in der Release-Fassung fehlen.

In eine ähnliche Kerbe schlägt das Schicksal des schon etwas älteren Ego-Shooters Aliens: Colonial Marines von Gearbox Software. Mit viel Tamtam und einer für damalige Verhältnisse in der Tat beeindruckenden Grafik wird der Titel auf der E3 2011 von Firmenchef Randy Pitchford höchstpersönlich vorgestellt. Fans und Fachpresse sind voller Euphorie, wundern sich beim Launch am 12. Februar 2013 aber umso mehr, dass Präsentation und Stabilität bei Weitem nicht dem entsprechen, was damals in Los Angeles gezeigt wurde.

Fallout 76 (2018) von Bethesda, Overkill's The Walking Dead (2018) von Starbreeze sowie Anthem (2019) von Bioware sind weitere prominente Beispiele von heiß ersehnten Titeln, die zum Start auf die ein oder andere Weise eine spektakuläre Bruchladung hinlegen. Analysiert man die bisher genannten Beispiele im Detail, fällt meist eine interessante Gemeinsamkeit ins Auge: der enorme Erwartungsdruck, dem die Macher während der Entwicklung ausgesetzt waren.

Der Druck selbst findet dabei in der Regel auf unterschiedlichsten Ebenen statt, die sich zum Teil gegenseitig beeinflussen und verstärken. "Während wir auf den Launch von No Man's Sky hinarbeiteten, hätte ich mir vermutlich meinen Arm abschlagen lassen, um mehr Zeit zu haben", gesteht beispielsweise Hello-Games-Mitbegründer Sean Murray im Sommer 2018 in einem Interview mit dem britischen Guardian. "Wir waren unter enormem Druck von der Community und externen Kräften. Wir hatten kein Geld mehr. Wir arbeiteten hart, zu hart."

Nicht selten kommt eben dieser Druck aber auch vom Publisher selbst. So berichtete der renommierte US-Spielejournalist Jason Schreier im Zusammenhang mit dem MMO-Shooter Anthem schon Anfang 2018 von Entwicklern bei Bioware, die anonym über einen immensen Druck seitens Electronic Arts klagten. Denn EA erwartete nicht weniger als einen würdigen Konkurrenten für das erfolgreiche Destiny von Halo-Erfinder Bungie. Das Problem: Bedingt durch den verkorksten Start von Biowares Mass Effect: Andromeda im März 2017 hingen einige Teams des Studios weit hinter ihren Zeitplänen zurück. Die Motivation vieler Mitarbeiter war verschwindend gering. Nicht zuletzt, weil einige Kollegen bereits Nervenzusammenbrüche erlitten hatten und wochenlang krankgeschrieben waren. Dazu gesellte sich der Umstand, dass Bioware Montreal im August 2017 mit EA Motive zusammengelegt worden war. Seither befürchteten zahlreiche Bioware-Angestellte, den Teams in Austin und Edmonton könnte ein ähnliches Schicksal drohen, wenn Anthem kein Hit wird.

Präzises Projektmanagement ist Trumpf
Zeitdruck, Erwartungsdruck, Konkurrenzdruck – unzählige Entwickler in der Spielebranche sehen sich mit solchen Problemen konfrontiert. Doch wie könnte ein Ausweg aus diesem Dilemma aussehen? Wie kann Druck vom Kessel genommen werden, damit letztlich alle Parteien gewinnen? Geht's nach Jan Klose, Managing Director bei Deck13 in Frankfurt und Spieldirektor von Titeln wie Lords of the Fallen (2014) und The Surge (2017), können gleich mehrere Ansätze Früchte tragen.

Wir arbeiteten hart, zu hart

Ganz oben auf seiner Liste steht dabei gutes Projektmanagement. "Wenn man alles gut plant, dann geht auch weniger schief. Ich glaube allerdings auch, dass das gerade bei linearen Spielen einfacher zu handhaben ist. Bei komplexen Rollenspielen hingegen ist es am schwierigsten. Gerade weil der Spieler jedwede Handlung ausführen kann und er mit jedweder Handlung vielleicht auch das Spiel kaputtmachen kann", sagt Klose.

Des Weiteren findet er es sinnvoll, mehrmonatige Pufferzeiten einzuplanen, weist jedoch gleichzeitig auf die damit verbundenen Hürden hin. "Pufferzeiten sind die beste Lösung, um einen Release zu halten und ein möglichst fehlerfreies Produkt rauszubringen. Die Frage ist allerdings, wie viele Unternehmen sich das wirklich leisten können. Denn beispielsweise drei Monate nach der Fertigstellung mit einem Team aus 50, 100, 200 oder vielleicht sogar 400 Leuten auf Standby zu stehen – das braucht natürlich ein unglaublich großes finanzielles Backing. Das sind viele, viele Millionen Euro, die da bereitstehen müssen. Wenn das ganze Projektbudget jedoch nur einige Millionen sind, wird es schwierig, das einzuhalten."

Gefragt nach Problemthemen wie dem gefürchteten Crunch, hat Klose ebenfalls eine klare Meinung: "Wir müssen die Crunch-Zeiten runterkriegen. Aus diesem Grund versuchen wir bei Deck13 mittlerweile relativ früh zu schauen, wo wir über dem zeitlichen Budget liegen. Wo kriegen wir etwas nicht mehr hin? Was müssen wir rausschmeißen? Zudem versuchen wir das Feature-Set, schon während wir das Spiel planen, sehr klein zu halten. Nehmen wir als Beispiel The Surge 2: Das sollte ursprünglich mal eine sehr lebendige Welt bekommen. Später haben wir auf sehr viel Lebendigkeit verzichtet, indem wir die Story zeitlich so ansiedelten, dass schon vieles im Szenario kaputt ist. Da fuhr nichts mehr auf den Straßen. Da liefen auch keine Leute mehr rum. Von diesem Punkt ausgehend versuchten wir dann, wieder mehr Lebendigkeit reinzukriegen. Ich glaube, das hat ganz gut funktioniert. Aber teilweise hat den Leuten natürlich auch was gefehlt. Speziell dieses ‚passt nicht mehr' versuchen wir relativ oft und relativ ehrlich in unseren Projekten sowohl zu analysieren als auch auszusprechen und dann zu gucken, was es für den Rest des Spiels bedeutet."

Ergänzend dazu plädiert Klose für zeitnahe Probierversionen: "Wir versuchen sehr früh, einen Prototyp zu erstellen. Und dann natürlich einen sogenannten Vertical Slice, der sozusagen einmal durch den Kuchen durchschneidet und alle Features anklingen lässt. Dadurch wissen wir schon früh in der Entwicklung, was worauf hinausläuft und wofür wir vermutlich zu lange brauchen werden. Das alles sind Projektmanagement-Punkte, um die Kreativität so zu lenken, dass am Schluss etwas Brauchbares herauskommt und nicht alle nach dem Projekt tot umfallen."

Mitarbeiter motivieren und absichern
Cleveres und realistisches Projektmanagement sind ein zentraler Themenkomplex, um Druck während der Entwicklung zu minimieren. Vieles kann allerdings auch durch gezielte Mitarbeiterführung entzerrt werden. "Du musst ehrlich mit deinem Team sein. Es mag cool erscheinen, wenn Mitarbeiter um zehn Uhr morgens oder später ins Büro kommen. Das allerdings führt auch dazu, dass sie erst ab 18:30 Uhr oder später gehen", erklärt Caspar Field, ehemaliger Chef der britischen Wish Studios und heute Leiter einer Entwickler-Consulting-Agentur in einem Interview mit Gamesindustry. "Aus diesem Grund hatten wir bei Wish einen Standard-Arbeitstag von 9 Uhr morgens bis 17:30 Uhr am Nachmittag – mit einer Stunde fürs Mittagessen, zu der wir jeden ermutigten. Nur so kommen die Leute mal raus aus dem Büro und weg von ihren Bildschirmen. Gleichermaßen gilt: Spät arbeiten, während man Pizza isst, heißt oft, dass man eigentlich gar nicht richtig arbeitet. Und seien wir mal ehrlich: Code, der spät am Abend geschrieben wird, hat oft mehr Fehler als Code, der zu normalen Arbeitszeiten entsteht."

Luke Timmins hingegen, langjähriger Programmierer bei Bungie, hat selbst über viele Jahre hinweg härtesten Crunch miterlebt, wie er 2017 im Rahmen eines Talks auf der Entwicklermesse Casual Connect zugab (https://www.youtube.com/watch?v=7rCJ96YXV8Y). "Der Crunch von Halo 2 hätte Bungie als Firma fast in den Abgrund gerissen. Noch nie zuvor habe ich Menschen in eineinhalb Jahren so viel arbeiten sehen. Es war brutal!" Seit diesem Ereignis jedoch fand bei Bungie nach und nach ein Umdenken statt. Sogenanntes "People Management" rückte über die Jahre zunehmend in den Mittelpunkt und damit einhergehend auch wöchentliche Gespräche, in denen das Wohlergehen der Mitarbeiter erfragt und diskutiert wurde.

Pufferzeiten sind die beste Lösung, um einen Release zu halten

Als sich Bungies Shared-World-Shooter Destiny seiner Fertigstellung näherte, fing man zudem an, gezielt Urlaub zu verordnen. "Viele Leute brennen aus, weil sie ihren Urlaub nicht in Anspruch nehmen. Als Manager musst du also sicherstellen, dass sie genau das tun. Es kann zum Teil Jahre dauern, bis die Mitarbeiter feststellen, dass es okay ist, wenn sie in den Urlaub fahren. Und dass ihnen nichts Schlimmes widerfährt, wenn sie aus dem Urlaub zurückkommen."

Dass Crunch auf lange Sicht zu nichts Gutem führt, haben viele Spielefirmen in den letzten Jahren erkannt. Dennoch muss die Branche zukünftig noch mehr tun, um das Problem in den Griff zu kriegen. Ein positiver Trend in diesem Zusammenhang ist sicherlich der zunehmende Wunsch von Spieleentwicklern, sich gewerkschaftlich zu organisieren. Laut einer auf der Game Developers Conference 2019 durchgeführten Umfrage waren immerhin 47 Prozent von 4000 Befragten an einer solchen Art von Interessengemeinschaft interessiert.

Die gute Nachricht: In einigen Ländern ist dieser Wunsch bereits Wirklichkeit geworden. In Helsinki etwa kämpfen die "Game Makers of Finland" bereits seit 2017 für die Rechte ihrer Schützlinge. Wer zahlendes Mitglied wird, erhält nicht nur eine Reise- und Unfallversicherung, sondern auch eine Haftpflichtversicherung, anwaltlichen Beistand in rechtlichen Belangen, Startup-Trainings sowie Unterstützung durch Karriere- und Gehaltsexperten. Nicht zu vergessen die Möglichkeit der Koko (https://kokokassa.fi/en/), dem größten Arbeitslosenfond des Landes, beizutreten.

Und was können Medien, Pressevertreter, Influencer etc. tun, um ihren Teil zur Besserung der Lage beizutragen? Eine Möglichkeit besteht zweifelsohne darin, sensibler und feinfühliger mit der gesamten Hype-Thematik umzugehen. Ist es wirklich sinnvoll, gerade erst angekündigte Spiele, von denen nur ein kurzer Gameplay-Trailer zu sehen war, mit Vorschusslorbeeren zu überhäufen? Rechtfertigen kurze Hands-off-Präsentationen oder 20-minütige Anspielrunden wirklich die Vergabe von "Best of"-Awards, wie man sie in den vergangenen Jahren im Rahmen bekannter Spielemessen wie der E3 oder der gamescom immer wieder gesehen hat?

Und natürlich: Wie kann das Thema "Arbeitsbedingungen" in Zukunft noch ausführlicher, differenzierter und vor allem regelmäßiger diskutiert werden? Geoff Keighley jedenfalls, seines Zeichens Organisator der publikumswirksamen Game Awards, hat bereits anklingen lassen, dass "Crunch-Times" bei zukünftigen Preisverleihungen durchaus negativ in die Abstimmung mit einfließen könnten. (soe/bpf)

IGM 03/21
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Er war schon Chefredakteur eines Spielemagazins und Games-Manager bei Amazon: Seit 2016 ist Jan Bismaier Publishing Director bei THQ Nordic.