Kleine Kunstwerke: Über die Faszination handgezeichneter Spiele

Computer- und Videospiele sind mehr als Fotorealismus, Raytracing und 4K-Grafik. Manchmal ist „Handarbeit“ viel schöner. Gezeichnete Spiele bringen eine besondere Faszination mit, die sie vom Gaming-Mainstream abhebt.
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© DragonImages /stock.adobe.com
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„Kunst und Computerspiele sind eine ganz interessante Verbindung. Computerspiele sind natürlich zuerst einmal ganz wunderschön anzusehen, viele davon jedenfalls, und sie klingen ganz wunderbar“, erklärte Stephan Schwingeler, Kurator der Aachener Ausstellung „Digital Games“, bereits im Jahr 2017 gegenüber dem Deutschlandfunk.

Seitdem sind sechs Jahre vergangen: Eine neue Konsolengeneration, schnellere Grafikchips und Virtual Reality zogen ins Land. Doch an der Kernaussage ändert sich nichts. Denn digitale Spiele sind auch im Jahr 2023 noch herrlich facettenreich und warten immer wieder mit kunstvollen und gleichermaßen ausdrucksstarken wie individuellen Grafikstilen auf. So sehr sicherlich jeder auf Hochglanz getrimmtes Hollywood-Gaming à la „Hogwarts Legacy“ oder „The Last of Us Part II“ liebt, so sind es oftmals kleinere, nicht selten experimentelle Produktionen, die den Mainstream anschieben und ermutigen, mal etwas Neues zu probieren.

Die Grafik ist so etwas wie die Visitenkarte eines Spiel – der erste Eindruck, der die Wahrnehmung des Nutzers und auch dessen Erwartungen prägt. Von Hand gezeichnete Titel sind ein ungewöhnlicher Anblick und erfordern eine andere Herangehensweise an die moderne Videospielentwicklung. Im Gespräch mit der US-Webseite Polygon.com erklärte Francisco Santos, Lead Artist von „Out of Line“, seine Philosophie dahinter: „Für uns bedeutet von Hand gezeichnet, dass das Spiel einen andersartigen und persönlichen Art-Style besitzt – nah an dem traditionellen Stil bei Gemälden oder Zeichnungen etwa. (…) Meiner Meinung nach ist ein Spiel, das einen „handgezeichneten“ Stil umfasst, ein Spiel, das sich inspirieren lässt und versucht, einem eher „traditionellen“ Kunststil zu entsprechen – also viel näher an einer Zeichnung oder einer Animation für ein nicht digital erstelltes Medium. Das bedeutet auch, dass der Entstehungsprozess ähnlich ist.“ Dieser sei kreativer und freier, jedoch auch länger und weniger flexibel, aber mit dem Vorteil, dass das Ergebnis schlussendlich anders sei und der Vision des Künstlers näherkäme.

 

Kreativer und freier, aber auch weniger flexibel

 

Von Hand gemalt!
Nicht selten greifen bei Produktionen auch Artists und Entwickler selbst zum Stift – und das nicht nur in der Konzeptphase. Handgezeichnete und digitalisierte Grafiken verleihen Spielen stets einen ganz eigenen Charme – siehe etwa das knallharte Bullet-Hell-Game „Cuphead“ (2017). Entwickler StudioMDHR lehnte sich an die Cartoons der 1930er-Jahre wie „Bettie Boop“ oder „Steamboat Willie“ an. Alltagsgegenstände, Pflanzen und auch Tiere werden hier grob überzeichnet und teils sogar verzerrt. Während die Figuren im Vordergrund mit einer dunklen Outline und kräftigen Farben gut zu erkennen und voneinander zu unterscheiden sind, setzte man im Hintergrund auf den sogenannten Rubberhose-Stil, der ebenfalls in den 1920ern und -30ern seine Hochzeit fand. Man verwendete dazu Wasserfarben und kolorierte so die Hintergründe. Das Problem: Als Sidescroller bewegt sich in „Cuphead“ natürlich auch die Kulisse, sodass hier Bild für Bild gezeichnet und animiert werden mussten. Kein Wunder also, dass das zu Beginn aus drei Mitarbeitenden bestehende Team später auf 19 Personen heranwuchs.

Wie komplex es sein kann, ein Videospiel von Hand zu zeichnen und anschließend zum Leben zu erwecken, zeigte sich auch beim Roguelike „Hades“. Das knackig schwere Actionspiel gilt als einer der besten Titel des Jahrgangs 2020. Nicht zuletzt war dafür seine ungewöhnliche Comicgrafik mitverantwortlich, die es von der Masse abhob. Jen Zee, Art Director bei Supergiant Games, betonte gegenüber dem britischen Medienmagazin MCV, dass für „Hades“ 59 Portraitzeichnungen, 68 Modelle, 194 Knochensymbole, 1.400 Umgebungstexturen, 32.494 Effekt-Animationen und 942.489 Charakter- und Feind-Einzelanimationsstufen (sogenannte Frames) entworfen wurden.
„Zu Beginn des Projekts dachten wir, der Grafikstil wäre eher malerisch. Wir sind schließlich auf Feder und Tinte umgestiegen, als sich die Erzählung und der Ton während der Vorproduktion drastisch änderten“, erklärt sie im Interview. Als wichtigstes Werkzeug in der 2D-Bearbeitung diente dabei die bekannte Bildbearbeitungs-Software Adobe Photoshop. Für die 3D-Nachbearbeitung griff das Team auf Tools wie AfterFX zurück. Inspiration waren dabei neben dem Vorgängerspiel „Pyre“ vor allem der Künstler Fred Taylor (1875 - 1963) und seine Plakat- und Posterzeichnungen. Diese Einflüsse verknüpfte man schließlich mit dem in der griechischen Sagenwelt angesiedelten Szenario und einem modernen Comic-Zeichenstil.

Das Mittelalter ruft
Doch die künstlerischen Möglichkeiten beschränken sich nicht nur auf Cartoon- oder auch Anime-Optik. In jüngerer Vergangenheit rückte das Mittelalter zunehmend in den Fokus von ambitionierten Entwicklerteams. Titel wie „Pentiment“ oder „Inkulinati“ gehen zurück in die von vielen als „Dunkles Zeitalter“ gebrandmarkte Epoche und zeigen, dass man auf dessen Basis weitaus mehr machen kann als nur Aufbau- und Echtzeitstrategiespiele wie „Age of Empires II“ und „Die Siedler“ oder als Titel wie „Mount & Blade“ oder „Kingdom Come: Deliverance“.
 

Handge­zeichnete Grafik ist ein Allein­stellungs­merkmal

Im Murder-Mystery-Abenteuer „Pentiment“ nimmt Entwickler Obsidian Entertainment thematisch Rückbezüge auf Umberto Ecos Erfolgsroman „Der Name der Rose“ und dessen Filmadaptionen, greift aber das Szenario zugleich durch die Verwendung zeitgenössischer Marginalien und Schriftarten auf. Als Inspirationen dienten dabei unter anderem Albrecht Dürers Drucke, die Nürnberger Chronik (besser bekannt als die Schedelsche Weltchronik) oder auch Hans Holbeins Portraitzeichnungen. Der Rechercheaufwand war immens. So entstand ein dem Szenario angemessener Grafikstil, der sich bis hin zu den verwendeten Schriftarten durchsetzte. Abhängig von Bildungsgrad und Herkunft der Figuren verwendet das Spiel (optional) unterschiedliche Fonts zur Darstellung der Dialogtexte. Durch das Voranschreiten der Zeit oder auch durch die Erfahrungen, die Hauptcharakter Andreas Mahler macht, passen sich die Schriften sogar immer wieder an. Die Texte erhalten durch dieses Stilmittel noch eine weitere inhaltliche Ebene, die der Spielende unterbewusst wahrnimmt und in die Erfahrung einfließen lässt. Die weitere Detailtiefe beeindruckt: Während „Pentiment“ junge Figuren wie eben Andreas Mahler sauber, mit kräftigen Farben und harter Outline darstellt, sieht man reiferen Nebendarstellern wie Bruder Piero oder dem kranken Großvater Peter deren Alter an. Kratzer und teils abgeschlagene Farbe lassen künstlerischen Ansatz und Gameplay miteinander verschmelzen.

„Pentiment“ – ebenso wie das humorig angehauchte Strategiespiel „Inkulinati“ – greifen also eine mittelalterliche Vorlage auf und passen diese geschickt an das Spielkonzept an. Die handgezeichnete Grafik unterstreicht dabei maßgeblich die Atmosphäre und verleiht den Spielen obendrein ein starkes Alleinstellungsmerkmal. Und genau darin liegen Chance und Risiko dieser besonderen Herangehensweise. (ob/bpf)

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