Terra Nil ist ein außergewöhnliches Spiel: Im Gegensatz zu klassischen Aufbaustrategie-Titeln geht es darum, die Natur im Originalzustand zu hinterlassen. Das bedeutet: Karges und verseuchtes Ödland wird saniert, bis daraus ein blühendes, ausgewogenes Ökosystem entsteht. Mit dieser Prämisse trifft das südafrikanische Studio Free Lives den Nerv der Zeit – denn großflächige Umweltzerstörung und Klimawandel sind längst omnipräsent. Terra Nil erscheint am 28. März für PC und – via Netflix – auch für Mobilplattformen. Zum Entwickler-Kernteam gehören der Südafrikaner Marcelle Marais, seines Zeichens Senior Artist bei Free Lives, und der schwedische Freelancer und Grafikspezialist Petter Vilberg. IGM sprach mit ihnen darüber, was die Spiele von Free Lives so besonders macht – und über die südafrikanische Games-Branche.
IGM: Marcelle, Petter, wie sind die Rahmenbedingungen für die Games-Entwicklung in Südafrika?
Marcelle Marais: Südafrika hat eine recht kleine, aber solide Games-Branche. Gleichzeitig hat es eine robuste Animation- und VFX-Industrie. In den letzten Jahren gab es einen Trend von dort in Richtung interaktive Spiele. Für viele SüdafrikanerInnen ist es allerdings ziemlich schwierig, in die Branche einzusteigen – besonders dann, wenn sie aus Familien kommen, die ihnen nicht schon in jungen Jahren einen Computer zur Verfügung stellen können. Südafrika hat eine der höchsten Arbeitslosenquoten der Welt! Inzwischen gibt es zwar immer mehr Ausbildungsprogramme, aber das ist letztlich nie genug. Bekommt man allerdings einen Fuß in die Tür, dann hat man einen gewissen Zugang zu Fördersystemen.
IGM: Wird die Games-Branche denn überhaupt als Chance für eine Berufskarriere wahrgenommen?
Marais: Das Problem ist, den Menschen zu vermitteln, dass es diese Branche gibt – und dass sie tatsächlich Beschäftigungsmöglichkeiten bietet, dass sie für viele junge Menschen ein Karriereweg sein kann. Die Schwierigkeit liegt darin, dieses Publikum zu erreichen – und wenn man es erreicht, ist es sehr klein, weil sich nur sehr wenige Menschen einen Hochschulbesuch und ein Game-Design-Studium leisten können. Allerdings bieten immer mehr Bildungseinrichtungen solche Kurse an – mal zeitlich kompakt, mal über mehrere Jahre hinweg. Da lässt sich ein Wachstum beobachten – und das hat natürlich direkte Auswirkungen auf die Entwickler-Community. Außerdem gibt es in Südafrika eine ziemlich große Jamming-Community. Wir organisieren Game Jams, um möglichst viele Menschen zusammenzubringen. Das ist kein Wettbewerb, bei dem es um Geld oder erste Plätze geht. Die Idee dahinter ist einfach, ein bestimmtes Thema auszuwählen, einen Zeitraum festzulegen, ein Team aus Gleichgesinnten zusammenzustellen – und dann ein Spiel in seiner kleinsten Form zu erschaffen. Aus meiner Sicht zahlt sich das besonders stark beim Networking aus. Networking nimmt zu – und es entstehen immer mehr kleine Studios.
Es entstehen immer mehr kleine Studios
IGM: Was sind eigentlich die größten südafrikanischen Studios? Beziehungsweise die mit dem größten internationalen Erfolg?
Petter Vilberg: Free Lives ist definitiv eines davon – wahrscheinlich das mit dem größten internationalen Renommee. In Johannesburg gibt es auch ein paar Studios, zum Beispiel 24 Bit Games, mit denen wir bei Terra Nil zusammenarbeiten. Sie portieren viel und bieten technischen Support – und sind auch schon über ein Jahrzehnt aktiv. Bei Terra Nil helfen sie uns, die Mobile-Version umzusetzen. In Johannesburg gibt es auch Nyamakop, die unter anderem Semblance entwickelt haben und ziemlich viele Leute beschäftigen. Außerdem gibt es viele Outsourcing-Studio, die AAA-Aufgaben für Firmen wie Disney Interactive oder Eletronic Arts erledigen.
IGM: Südafrika ist ziemlich weit von den internationalen Zentren der Games-Industrie entfernt. Nehmt ihr das als Nachteil wahr?
Marais: Free Lives liebt den Austausch mit anderen EentwicklerInnen. Deshalb veranstalten wir – wenn wir nicht gerade sehr im Stress sind – sogenannte „Game Jam Islands“. Wir reisen dann gemeinsam zu verschiedenen Festivals und erleben dabei unterschiedliche Welten. Beispielsweise fliegen wir für zwei Monate nach Mauritius und laden eine Menge EntwicklerInnen aus der ganzen Welt dorthin ein. So entstehen Austausch, wechselseitige Einblicke und ein Gefühl der Verbundenheit. Also ja: Wir reisen viel zu Shows und arbeiten und jammen gerne mit anderen Menschen. Natürlich ist die räumliche Distanz spürbar. Aber so, wie sich die Welt entwickelt – in Richtung Virtualität – fühlt sich das weniger weit entfernt an.
IGM: Sprechen wir über eure Studiokultur. Wie motiviert ihr eure Leute?
Marais: Free Lives ist – im südafrikanischen Kontext – ein sehr ungewöhnlicher Arbeitgeber. Die Eigenverantwortung bei den Projekten ist hoch, es gibt kein „nine to five“, das Ganze ist eher eine Art Lifestyle. Es gibt auch üblicherweise keine festen Zeiten, zu denen man im Office sein muss. Wenn man sich nicht gut fühlt, kann man den Tag freinehmen, ohne das groß rechtfertigen zu müssen. Die Leute arbeiten hier mit viel Drive und Selbstdisziplin – ich denke, es herrscht ein sehr gutes Gleichgewicht zwischen harter Arbeit und dem Bedürfnis, das Leben zu genießen und Spaß zu haben. Aber klar: Wenn Deadlines anstehen, dann muss man sie respektieren – und hin und wieder fordert das auch seinen Tribut. Aber unsere Studiokultur ist ziemlich gut und entspannt. Alle duzen sich, es gibt kein „Mister“ oder „Boss“. Außerdem nehmen wir mentale Gesundheit im Studio sehr ernst.
Vilberg: Marcelle hat es schon gesagt: Die Stimmung im Studio ist generell sehr gut. Niemand wird unter Druck gesetzt, vor Ort zu sein und seine Arbeit zu machen – aber alle wollen dort sein und ihre Arbeit machen. Es geht darum, das Ganze zu genießen und spannende Dinge zu tun – das ist für den kreativen Drive des Studios besonders wichtig. Mein Eindruck als Außenstehender ist, dass das Spielerische einen großen Anteil am Erfolg hat. Free Lives ist kein großes Studio, momentan haben sie etwa 20 Leute, inklusive Support. Dennoch arbeiten sie gerade an drei Projekten, die alle ziemlich viel Aufmerksamkeit erhalten. Die starke Game-Jam-Kultur hat daran großen Anteil. Free Lives experimentiert mit vielen unterschiedlichen Spieltypen und -ideen. Sie lassen das die Leute früh spielen, schon in der Entwicklungsphase. Wenn sich da etwas durchsetzt, stecken sie mehr Aufwand hinein und machen daraus ein richtig großes Spiel. Das gibt ihnen ein gewisses Maß an Planbarkeit in einer ansonsten sehr unberechenbaren Branche.
Es geht darum, Spaß zu haben
IGM: Prototyping spielt demnach eine wichtige Rolle. Die Leute zeigen einander, wie die Projekte voranschreiten, und ziehen daraus Motivation ...
Marais: Definitiv! Das gibt den Projekten Rückhalt – und es fördert auch die Kreativität. Ich habe schon in anderen Studios gearbeitet, in denen sich viel um Production drehte, um Hierarchien und all das. Bei Free Lives ist das Ganze viel organischer. Die meisten unserer Teams bestehen aus drei bis vier Leuten. Wenn ein Projekt in der Entwicklung ist, kann es natürlich kräftig wachsen – wir brauchen dann gegebenenfalls externe FreelancerInnen, die bei der Entwicklung helfen. Aber im Wesentlichen ist das Kernteam die treibende Kraft für das jeweilige Projekt. Wir selbst legen den Zeitplan fest, entwickeln Ideen und finden heraus, wie wir das Projekt am besten verwirklichen können. Es gibt keine großen Regeln, denen wir dabei folgen müssen, keine gewaltigen Unternehmensrichtlinien. Im Grunde geht es darum, mit dem, was uns zur Verfügung steht, etwas Großartiges zu erschaffen – und daraus kreative Erfüllung zu ziehen.
IGM: Free Lives hat Spiele wie Genital Jousting, Gorn und natürlich Broforce erschaffen. Was haben diese Spiele gemein?
Marais: Alle diese Spiele haben eine bestimmte Geschmacksnote. Sie sind albern und verrückt, es geht darum, Spaß zu haben, um Humor. Die Menschen sollen das Spiel genießen und es weiter spielen wollen, sie sollen eine gute Zeit haben, lachen und albern sein. Bei Terra Nil war ich einer der ersten, der gefragt hat: „Was macht dieses Spiel eigentlich zu einem Free-Lives-Titel?“ Denn es unterscheidet sich ja schon ziemlich stark von den bisherigen Spielen. Allerdings sehe ich auch Parallelen. Free Lives bietet die Möglichkeit, seltsame Nischen und Spielideen zu erschließen, die den Menschen gefallen, aber manchmal auch etwas albern wirken. Das Entscheidende ist, dass sie anders sind! Äußerlich mögen sie hin und wieder anderen Spielen ähneln – aber sobald man zu spielen beginnt, merkt man den Unterschied. Terra Nil ist ein „reverse city builder“ – allein schon das hebt es von anderen Strategiespielen ab. Petter hat ja bereits darüber gesprochen, wie offen wir unsere Spielentwicklung gestalten und wie wir das nutzen, um Interesse direkt zu messen. Bei Terra Nil war sehr schnell klar, dass es dafür ein riesiges Publikum gibt. Also Leute, die eine Herausforderung suchen und etwas Schönes, Aufregendes spielen wollen.
Keine gewaltigen Unternehmensrichtlinien
IGM: Neben Terra Nil habt ihr momentan noch zwei andere Spiele in der Entwicklung: Stick it to the Stickman und Anger Foot. Worum geht es da jeweils?
Vilberg: Stick it to the Stickman ist ein Sidescrolling-Brawler, in dem man sich durch einen riesigen Konzernwolkenkratzer nach oben kämpft, um schließlich gegen den Oberboss anzutreten. Man baut Fähigkeiten-Kombos auf, hat aber ungewöhnlich wenig Einfluss darauf, was man genau macht. Zum Sidescrolling kommen mit der Zeit noch andere Spielmodi dazu.
Marais: Bei Anger Foot dachte ich zunächst: Das ist die lächerlichste Idee, die mir je untergekommen ist! Im Grunde ist es ein rasanter Ego-Shooter mit sehr lauter Techno-Musik, in dem man die ausgeprägte Fähigkeit besitzt, Türen einzutreten. Anger Foot bietet eine Menge Gags, auch die Grafik ist verdammt beeindruckend. Bis jetzt kommt das Spiel gut an, die Leute scheinen es zu lieben. Das Team hat auf jeden Fall eine Menge Spaß damit, so viel ist sicher. Und es hat eine tolle Community hinter sich.
IGM: Klingt nach einem perfekten Devolver-Digital-Game. Ist eure Kooperation mit dem Publisher so etwas wie eine ideale Partnerschaft?
Marais: Wir haben seit unserer Studiogründung ein ziemlich enges Verhältnis zu Devolver. In der Tat arbeiten wir mit ihnen momentan bei jeder unserer Produktionen ziemlich intensiv zusammen.
IGM: Wie wichtig ist der europäische – und speziell der deutsche – Markt für eure Games?
Marais: Die meisten Spiele verkaufen wir in Europa und USA. Die Community ist in Europa also ziemlich groß. Der deutsche Markt hat generell großes Interesse an Strategiespielen – auch an unkonventionellen Titeln. Ich bin zwar kein Publisher und nicht für den Verkauf der Spiele zuständig. Aber ich kann mir schon vorstellen, dass Terra Nil in Deutschland ziemlich populär sein wird. (Achim Fehrenbach)