Das Berliner Studio Hekate im Porträt

Was ist wahr, was ist nur Einbildung? Diese Frage steht im Mittelpunkt von Ad Infinitum, das im September 2023 für PC und Konsolen erscheint. Das Horrorspiel, das als Studierendenprojekt begann, ist mittlerweile ein aufwendig inszenierter AA-Titel – auch deshalb, weil Publisher Nacon die Berliner Firma Hekate unter seine Fittiche nahm. Ein Studioporträt – und eine Vorschau auf das Spiel.
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„Manchmal weiß ich nicht, ob ich träume oder wache. Ob ich hier in den Gräben bin – oder zurück im Haus in Berlin.“ Schleppend, geradezu gequält stößt der Protagonist von Ad Infinitum diese Sätze aus. Gerade ist er durch Schützengräben des Ersten Weltkriegs gehastet, durch Keller voller Leichen geschlichen und beinahe in einem Feuer umgekommen. Von einer unsäglichen Kreatur gejagt, erreicht er schließlich eine Treppe, weiter oben ist ein helles Türrechteck zu sehen. Er stolpert die Treppe hinauf, schlägt die Tür hinter sich zu – und befindet sich plötzlich in einer riesigen, gespenstischen Villa. Die Szene stammt aus dem Gameplay-Trailer von Ad Infinitum – und sie deutet schon an, worum es in dem Spiel unter anderem geht: Um die verzweifelte Suche nach einer verlässlichen Realität.

Ad Infinitum ist das Debüt des Berliner Studios Hekate – und ein Herzensprojekt der Entwickler. „Der Krieg ist in gewisser Weise eine zeitlose Erfahrung“, sagt Lukas Deuschel. „Er frisst Menschen, er frisst Familien, er zerstört Seelen und zeichnet die Menschen für immer.“ Deuschel und sein Co-Geschäftsführer Thomas Lenz versuchen mit Ad Infinitum eine künstlerische Annäherung an die Erfahrung des Krieges. „Wobei uns absolut bewusst ist, dass man natürlich niemals die wirklichen Schrecken eines echten Krieges einfangen kann“, wie Lenz betont. Das Spiel verbindet psychologischen Horror mit einer starken Mystery-Komponente: Als kriegstraumatisierter Soldat wird man von schrecklichen Visionen geplagt – und versucht zu verstehen, ob das alles nur ein Fiebertraum ist, ob man sich noch immer an der Front befindet – oder womöglich sogar in der Hölle gelandet ist.

Frühes Konzept
Die Idee zu dem Game entstand bereits im Jahr 2014. Damals studierten Deuschel und Lenz an der HAW in Hamburg – und lernten sich im Studiengang „Zeitabhängige Medien / Sound – Vision – Games“ kennen. „Wir interessieren uns beide für Horror-Games und hegen eine allgemeine Faszination für das Düstere“, sagt Lenz. Gemeinsam mit weiteren Studierenden entwickelten sie 2015 einen frühen Prototyp des Spiels, auf dessen Basis dann auch ein Trailer entstand. Das Projekt lag allerdings mehrere Jahre auf Eis, während die Initiatoren Erfahrungen in der Games-Branche sammelten – Deuschel als Lead Sound Designer bei Daedalic, Lenz als Freiberufler für Game Art. 2019 jedoch gründeten Lenz und Deuschel gemeinsam mit Felix Dreyfus die Hekate GmbH, um das Projekt zu professionalisieren. Außer dem Titel und dem Logo blieb beim Relaunch nichts von den den Vorarbeiten übrig. „Manche Leute glauben, dass das Spiel seit sieben Jahren in der Entwicklung ist – was aber nicht zutrifft“, sagt Lenz. Mit der Firmengründung habe die Arbeit an Ad Infinitum komplett von vorne begonnen.

 

Eine allgemeine Faszination für das Düstere

Der Sprung in die Selbstständigkeit wurde für die Gründer zum Kraftakt. „Es gab einige Momente, in denen wir einfach den Willen zum Weitermachen gebraucht haben“, erinnert sich Deuschel. „Tom und ich hatten diesen Willen – und deshalb ist es nicht zum Kollaps gekommen.“ Anfangs floss vor allem Geld von „Family und Friends“ in die Firmengründung. Dank Felix Dreyfus – der zunächst auch als Geschäftsführer fungierte – ergatterte das Studio dann eine Prototypenförderung des Bundes; Geld gab es auch auch über den Gründerbonus der IHK Berlin. Mit der Prototypenförderung erstellte das Studio einen Vertical Slice – und setzte dabei unter anderem auf die Expertise der Berliner Firma PainDevs. Als der Vertical Slice fertig war, machte sich Hekate auf Publisher-Suche – und wurde Ende 2020 auch fündig. „Seit Anfang 2021 setzen wir das Projekt in sehr guter Zusammenarbeit mit Nacon um“, freut sich Deuschel.

Hauptstadt-Studio
Heute sitzt das Studio im Herzen von Berlin – genauer gesagt in Wilmersdorf, in der Nähe des Fehrbelliner Platzes. Dort hat Hekate eine große Altbaufläche angemietet, die viel Platz für das Entwicklerteam bietet. Der frühere Co-Geschäftsführer Felix Dreyfus verließ die GmbH im Jahr 2020, seitdem leiten Deuschel und Lenz zu zweit das Unternehmen. „Als Creative Leads sind wir auch tief in die Produktion involviert“, sagt Deuschel. „Das heißt, wir planen mit dem Team und setzen wir die kreative Vision um.“ Thomas Lenz ist darüber hinaus auch als Art Director tätig, Deuschel ist der Audio Director des Spiels. „Wir haben eigentlich überall so ein bisschen unsere Hände mit drin, also zum Beispiel auch in der Cutscene-Inszenierung der Story“, sagt er.

Für die Entwicklung des Spiels hat Hekate ein sehr internationales, erfahrenes Team versammelt: Die ExpertInnen kommen aus Russland, Georgien, Großbritannien, Tschechien, Holland und natürlich Deutschland; viele von ihnen haben schon an prominenten Titeln (The Evil Within, Wolfenstein: The New Order, Diablo II: Resurrected, The Whispered World etc.) mitgewirkt. „In der Hochphase der Produktion haben mehr als 15 Personen an dem Projekt gearbeitet, die Partnerstudios nicht mitgerechnet“, berichtet Deuschel. Zu den kooperierenden Studios zählen unter anderem auch die Crunching Koalas aus Polen, die bei der Portierung auf Xbox und Playstation halfen. Viele Team-Mitglieder kennen Deuschel und Lenz schon von früher: Zum Beispiel Autor Matthias Kempke und Animator Paul Schwarz, die beide – wie Deuschel – für Daedalic tätig waren. Die Corona-Pandemie habe das Projekt übrigens kaum gebremst, sagt Lenz. „Wir haben einen eigenen Discord-Server, auf dem wir entwickeln und über den die ganze Kommunikation läuft. Das Projektmanagement läuft bei uns gut über diverse Applikationen. Mit der Remote-Arbeit haben wir also gar kein Problem.“

Den Namen des Studios haben die Gründer übrigens aus der griechischen Mythologie entliehen. Hekate ist eine Göttin der Magie, der Theurgie und der Nekromantie – und bewacht den Zugang zum Jenseits. Für Deuschel und Lenz verkörpert Hekate das, was sie mit ihren Spielen bieten wollen – nämlich „Alpträume, die zum Nachdenken anregen“, wie es in der Eigenbeschreibung des Studios heißt. Mit Ad Infinitum will sich das Studio ganz bewusst von Produktionen absetzen, die auf Horror-Klischees und immer gleiche Jump Scares setzen. „Wir haben sehr viel Recherche in die Story gesteckt“, betont Deuschel. „Wir haben uns viel mit Material aus der Zeit beschäftigt, Bücher gelesen, Filme angeschaut und Spiele gespielt.“ Kern der von Matthias Kempke entwickelten Story sei eine Familie, die der Krieg auf unterschiedliche Weise gezeichnet habe. „Jedes Familienmitglied ist ein ein Spiegel der damaligen Gesellschaft“, erläutert Deuschel. „Daraus entfaltet sich auch der Horror. Es geht darum, was Krieg mit dem Individuum macht – also von der körperlichen hin zur psychischen Entstellung.“

 

Alpträume, die zum Nachdenken anregen

 

Familientrauma
Die Familienmitglieder in Ad Infinitum sind nicht einfach fiktive Figuren, sondern teils an reale Personen angelehnt. „Für die Figur des Vaters beispielsweise haben wir uns mit der Geschichte von Fritz Haber beschäftigt“, sagt Deuschel. „Das ist der Erfinder der chemischen Kriegsführung, der auch die Agrardüngemittel revolutioniert hat und selbst eine tragische Familiengeschichte hatte. Gleichzeitig repräsentierte er aber auch bestimmte toxische Muster der damaligen Gesellschaft. Dieses sehr Patriarchische, Harte gegenüber den eigenen Kindern, dieses Kämpfen bis zum letzten Atemzug.“ Auch der Großvater zählt zu den Schlüsselfiguren des Spiels – die Erinnerung an ihn liegt wie ein Schatten über der gesamten Familie. „Der Krieg setzt sich von einer Generation zur nächsten fort und traumatisiert jeden auf ganz unterschiedliche Weise“, so Deuschel. Das mache aus dem Spiel auch eine allgemeingültige Erfahrung – „weil jeder eine Familie hat und sich mit dem Thema identifizieren kann“.

Ad Infinitum soll ganz klar den Mainstream ansprechen, betonen die Entwickler. Das Game werde voraussichtlich sechs bis sieben Stunden Spielzeit bieten, ein USK-18-Rating sei – aufgrund bestimmter Spielszenen – wahrscheinlich. Laut Deuschel soll das Spiel „eine Balance aus Horror-Sequenzen und eher stillen, schleichenden Momenten finden“. Um die Story zu genießen, müsse man kein Hardcore-Gamer mit hunderten Stunden Shooter-Erfahrung sein; auch in puncto Rätsel sei das Spiel eher casual angelegt. „Wir haben ein paar Puzzles drin, die zum Teil ein bisschen herausfordernder sind – aber keine super komplexen Spielmechaniken, die man erst erlernen muss.“

Intensiver Horror
Wer den Adrenalinrausch schätzt, kommt bei Ad Infinitum aber keineswegs zu kurz. „Im Spiel gibt es etwa 40 inszenierte Cutscenes mit sehr intensiven Horrormomenten – oder Sequenzen, wo der Spieler fast ums Leben kommt“, berichtet Deuschel. Die Schrecken des Krieges manifestieren sich in diesen Szenen als furchterregende Kreaturen – im Trailer ist beispielsweise ein spinnenartiges Monster mit heraushängenden Gedärmen zu sehen. „Jede Kreatur hat einen historischen Kontext“, ergänzt Thomas Lenz. Auch seien sie von der Analytischen Psychologie C.G. Jungs inspiriert, der das Konzept der „Schatten“ als Archetypen des kollektiven Unbewussten etablierte. Darüber hinaus steckt Ad Infinitum laut Lenz voller winziger Details, die man nur bei genauem Hinsehen bewusst wahrnimmt. Als Beispiel nennt der Art Director die Monster, die den Hunger symbolisieren: „Das sind kleine Kreaturen mit ganz vielen Zähnen, die blind sind, die dich aber hören können. Anstatt von Fingernägeln wachsen ihnen Zähne aus den Fingern.“ Jede Kreatur hat zudem besondere Stärken und Schwächen – die Hunger-Monster beispielsweise lassen sich durch Geräusche ablenken. Den Entwicklern zufolge funktioniert das Spiel also auf unterschiedliche Art und Weise: Als Horror-Trip mit Adrenalindusche, als Rätselspiel mit Inventar und Journal – und auch als vorwiegend narrative Erfahrung mit einer Vielzahl an Bedeutungsebenen.

Dass Hekate ein solch mutiges Werk präsentiert, hat auch mit dem Publisher zu tun. „Unsere Zusammenarbeit mit Nacon ist extrem positiv“, berichtet Lukas Deuschel. „Sie haben uns ermöglicht, diese Firma aufzubauen und dieses Projekt zu verwirklichen. Sie haben uns auch viele kreative Freiheiten gelassen. Ohne Nacon hätten wir das Projekt gar nicht umsetzen können.“ Auch Thomas Lenz lobt die Gestaltungsfreiheit, die der Publisher ihnen gewährt: „Wir konnten einfach das machen, was wir wollten und für richtig hielten. Sie haben sich das dann angeschaut und uns pointiertes, wichtiges Feedback gegeben.“ Als Beispiel nennt Deuschel die Localization Quality Assurance (LQA), die gerade in der Mache ist. „Die komplette Lokalisierung wird in verschiedenen Sprachen geprüft, um herauszufinden, ob die bereits übersetzten Texte auch wirklich passen“, berichtet er. „Das kenne ich aus anderen Studios nicht.“ Nacon habe den Anspruch, die bestmögliche Qualität aus dem Spiel herauszuholen, so Deuschel: „Ad Infinitum wird in 14 Sprachen veröffentlicht, mit einer Synchronisation in Deutsch, Englisch und Französisch. Das finde ich toll.“

 

Gemeinsam Ideen gesammelt und weiterentwickelt

 

Spannender Neuzugang
Maurice Xaver Klinge ist Product Manager bei Bigben Interactive – und damit für die Ausgestaltung des Nacon-Portfolios zuständig. „Unsere Games sind auf vier Pfeiler aufgebaut, nämlich Simulation, Sport, Racing und Action & Adventure“, erläutert er. „Letzteres trifft auch auf Ad Infinitum von Hekate zu und wird mit Psycho-Horror durch eine spannende Komponente erweitert.“ Als mittelgroßes Unternehmen mit AA-Schwerpunkt sei Nacon auf ein diverses Portfolio angewiesen, so Klinge – die Zusammenarbeit mit Hekate sei da ein wichtiger Schritt. Klinge ist besonders stolz, mit Ad Infinitum bereits das zweite deutsche Projekt – nach Daedalics Der Herr der Ringe: Gollum – begleiten zu dürfen. „Da die Zusammenarbeit mit Hekate noch relativ frisch ist, war es uns im letzten Jahr wichtig, die Köpfe hinter Ad Infinitum genauer kennenzulernen – und die Vision hinter dem Spiel zu verstehen“, berichtet der Product Manager. „Damit wir auch die Interessen des Studios vertreten, stehen wir in einem engen Austausch mit dem Team – und haben gemeinsam Ideen gesammelt und weiterentwickelt, um die Message des Spiels authentisch nach außen zu tragen.“

Den Studios lasse Nacon grundsätzlich viel Freiraum, betont Klinge – denn nur so lasse sich die Kreativität der sehr unterschiedlichen Firmen optimal ausschöpfen. „Als langjähriger und erfahrener Publisher zahlreicher Titel unterstützen wir sie insbesondere in Form unseres Netzwerks rund um Vertrieb, PR und Marketing“, sagt Klinge. „So kann sich Hekate vollends auf die finale Entwicklung des Games konzentrieren – und wir können unsere Stärke in der Vermarktung ausüben, um dem Spiel die bestmögliche Präsenz in der Community zu bieten.“

Gemeinsame Vision
Für Hekate ist die Zusammenarbeit mit Nacon ein echter Glücksfall. „Wir haben mit verschiedenen Publishern gesprochen, aber bei Nacon war irgendwie der Funke da – sie haben an unsere Vision geglaubt“, sagt Lukas Deuschel. „Ich bin sehr beeindruckt von dem Vertrauen, das sie uns als junges, unerfahrenes Studio entgegengebracht haben.“ Co-Founder Thomas Lenz sieht die Zusammenarbeit auch im kulturellen Kontext: „Ad Infinitum ist ein Spiel über den Ersten Weltkrieg. Damals war Frankreich der Erzfeind der Deutschen – und heute kooperieren wir friedlich, um gemeinsam ein tolles Produkt zu erschaffen.“ Lenz findet es großartig, „dass so etwas heute möglich ist – einfach als Mensch diesen kulturellen Austausch zu haben“.

Die Kombination Hekate/ Nacon scheint also zu passen – wir sind auf Ad Infinitum gespannt. (Achim Fehrenbach)

IGM 06/23
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