Alles eine Frage des Charakters: Hauptfiguren in Spielen

Die Zeiten der stereotypen Actionhelden und Weltenretter sind vorbei. Im Jahr 2023 brauchen starke Hauptcharaktere Tiefe. Was aber bedeutet das wirklich? IGM geht auf Spurensuche.
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Ein (optionaler) Kuss sorgte zuletzt bei einem Teil der Gaming-Community für einen Sturm der Entrüstung: Zum Ende der Erweiterung „Burning Shores“ für das preisgekrönte und über 8,4 Millionen Mal verkaufte PlayStation-Abenteuer „Horizon Forbidden West“ stehen Spieler vor der Entscheidung, ob Heldin Aloy ihre Weggefährtin Seyka küssen oder ihr einen Korb geben soll. Mittlerweile sind solche Reaktionen leider etwas ganz Alltägliches: Ein Flirt wird zu einem Politikum und lässt die Emotionen hochkochen. Und auch wenn Review Bombing und die vielfach hinterlassenen Kommentare mehr als unpassend und verachtenswert waren, so zeigt die Aufregung um „Burning Shores“ doch eines: Computer- und Videospiele und ihre Protagonisten emotionalisieren. Ein starker Hauptcharakter wird schnell zur Ikone und seine – beziehungsweise ihre – Entscheidungen zum Gradmesser. Genügten früher noch blanke Action-Abziehbilder wie Duke Nukem, um die breite Masse zu erreichen, sind die Ansprüche an moderne Hauptcharaktere gewachsen.

Das macht einen starken Charakter
Die Ausrichtung und Bedeutung des Hauptcharakters hängt natürlich stark vom Genre und dem gewählten Spielkonzept ab. Rollenspiele beispielsweise schenken Hobby-Abenteurern gerne viele Freiheiten und lassen sie nicht nur Aussehen, Stimme und Geschlecht, sondern auch Gesinnung ihres Avatars bestimmen. Titel wie „Doom“ oder Half-Life“ setzen dagegen auf einen stummen Hauptcharakter. Ihre Charakterisierung erfolgt zum einen über die über sie getroffenen Aussagen anderer Figuren im Spiel, vor allem aber durch ihre Taten.

Einzigartig und nicht austauschbar

In Spielen wie etwa „The Last of Us“, „Horizon“, „God of War“ oder auch der „Final Fantasy“-Reihe stehen jedoch die Geschichten und ihre Haupt- und Nebencharaktere stark im Fokus. Ihre (Helden-)Reise und Entwicklung sind der rote Faden, der Gamer durch das Erlebte führt. Roger Sieber, Chefredakteur des Gaming-Portals games.ch, erklärt im Gespräch mit IGM seine Sicht der Dinge: „Für einen Plattformer ist der Hintergrund des Protagonisten zumeist eher zweitrangig. Für andere Games umso zentraler. Nintendos Mario oder auch Aloy aus Horizon sind in meinen Augen beide tolle Charaktere, könnten aber kaum unterschiedlicher sein.“ Sieber betont vor allem, dass ein starker Hauptcharakter einzigartig und „nicht austauschbar“ sein darf. „Aloy ist ein tolles Beispiel für den Aufbau einer Protagonistin. Dem Spieler wird hautnah vorgeführt, wie sie als Außenseiterin mit Mobbing zu kämpfen hatte. Im Verlauf der Story wird sie zu einer starken Frau, einer Heldin mit vielen Facetten“, bringt er diesen Anspruch anhand der Hauptdarstellerin aus Guerilla Games‘ „Horizon“-Abenteuern auf den Punkt.

Ein starker Charakter im Jahr 2023 erfordert eine gewisse Tiefe. Die Figur benötigt also eine Vergangenheit, die erklärt, wieso sie zu der Persönlichkeit wurde, die man schließlich im Spiel antrifft. Zugleich sollten hier natürlich auch einige Punkte offengelassen werden, um die Neugier des Nutzenden zu wecken. Ein starker Charakter sollte dahingehend auch sympathisch oder zumindest interessant genug sein, dass man die nächsten Stunden mit ihm oder ihr verbringen möchte. Das Miteinbeziehen von Marotten und Eigenheiten ist dabei ebenso wichtig wie das von Beziehungen, Freundschaften und Feindschaften. Für einen tiefen Charakter benötigt es zudem eine starke Motivation, die begründet, wieso der Charakter überhaupt in dieser Welt ist und die vor ihm liegende Reise erlebt.

 

Die ersten 90 Sekunden zählen zum Fällen eines ersten Eindrucks

Vom Kriegsgott zum besorgten Papa
Wie man beispielsweise einen alten, eindimensionalen Charakter in die Moderne transportiert, zeigte das 2018 veröffentlichte Reboot „God of War“ von SCE Santa Monica Studio. Zum Start der Reihe im Jahr 2005 war Hauptcharakter Kratos von Zorn und Rachegelüsten getrieben. Seine Wut auf die Götter ging mit dem Tod seiner Familie einher. Dies genügte als Motivation, weil die frühen „God of War“-Teile vor allem von ihrem Gameplay und der Präsentation lebten. Mit dem Reboot allerdings veränderte sich der einstige Kriegsgott. Kratos lebte zurückgezogen mit seinem Sohn Atreus. Der Tod seiner Frau quälte ihn, jedoch blieben die Hintergründe ihrer Beziehung lange im Unklaren. Das schwierige Verhältnis zu Atreus und die Darstellung der Annäherungsversuche zwischen Vater und Sohn verliehen „God of War“, vor allem aber dem Spielcharakter ein neues Leben. So sehr „God of War“ auch weiterhin auf knallharte und brutale Action setzte, so sehr erwuchs Kratos zu einem ganz neuen, deutlich nahbareren Hauptcharakter. Viele Spieler konnten sich so besser mit ihm identifizieren und investierten mehr Emotionen in diesen veränderten Kratos.

Ein wichtiger Bestandteil beim Charakterdesign ist natürlich auch das Aussehen. Ganz egal, ob beim Bewerbungsgespräch oder bei Games – wenn Menschen eine fremde Person (oder einen unbekannten Charakter) treffen, dann zählen die ersten 90 Sekunden zum Fällen eines ersten Eindrucks. Das Äußere ist enorm wichtig, denn es entscheidet sehr oft darüber, ob man einen Menschen dauerhaft akzeptiert oder ablehnt. Die Darstellung von Hauptcharakteren ist daher von entscheidender Bedeutung. Das Äußere muss oftmals auch die inneren Werte widerspiegeln. Beispielsweise sieht man Kratos die Jahre des Krieges und der Kämpfe bereits im Gesicht an.
 

Glaubhafte Figuren haben Schwächen
 

Realitätsnahe Charaktere
Dass es in puncto Gameplay oftmals die kleinen, ja geradezu alltäglichen Dinge sind, wusste bereits Quantic-Dream-Gründer und Co-Firmenchef David Cage. Der Krimi-Thriller „Heavy Rain“ rückte 2010 die Erzählung stark in den Fokus und hatte mit Ethan Mars einen ganz normalen Menschen als Hauptcharakter, der in einer extremen Situation schwierige Entscheidungen treffen musste. „Ich verstehe nicht, warum jedes Spiel mit einer großen Explosion starten sollte. Wirklich nicht! Ich glaube nicht, dass so etwas wichtig ist. Was zählt ist die Geschichte, die Charaktere und die Emotionen. Explosionen machen kein gutes Spiel. Natürlich habe ich in Heavy Rain zum Einstieg mit alltäglichen Arbeiten begonnen. Das alles sind Teile des Plots, die den Spieler näher zu den Charakteren bringen. Denn so kreieren wir Momente, die jeder Spieler anders angeht. Das sind keine sinnlosen Tätigkeiten. Sie erfüllen alle einen Zweck – nämlich dem Aufbau einem emotionalen Verbindung“, erklärte Cage wenige Monate nach Release im Interview. Damals gab es vielerorts Kritik daran, dass man gerade in der frühen Phase des Abenteuers mit Aktionen wie Kochen oder Essen seine Zeit verbrachte.

Das Erzeugen von Emotionen und die Spieler dazu zu bringen, diese in die dargestellten Figuren zu investieren, sieht er als eine der größten Herausforderungen an das Medium der Computer- und Videospiele an. So führte Cage im Gespräch diesen Punkt aus: „Das Herstellen einer Bindung von Charakteren und Spielern ist in Videospielen aufgrund der Interaktivität sehr schwierig. Wir wollten keine perfekten, muskelbepackte 08/15-Helden. Sind wir ehrlich: Niemand von uns ist fehlerfrei. Ich wollte glaubhafte Charaktere kreieren. Unsere Figuren haben Schwächen. Das Leben hat ihnen übel mitgespielt. Sie haben keine Superkräfte, sondern sind normale Menschen: Mal mutig, mal feige. Mal klug, mal dumm. So sind wir Menschen eben!“ Und genau das macht im Jahr 2023 auch einen starken Hauptcharakter aus. (ob/bpf)

IGM 07/23
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