Gaia Di Mauro über die Kunst des Storytelling in Computerspielen

Wie schafft man es, Games spannend zu erzählen? Was sind die Dos und Don‘ts der Narration? Gaia Di Mauro ist Spezialistin auf diesem Gebiet. Mit 14 Jahren zog die gebürtige Sizilianerin nach Deutschland, entwickelte schon während der Schulzeit Brett- und Computerspiele und studierte ab 2020 an der Hochschule Neu-Ulm „Game-Produktion und Manage­ment“. 2024 schloss sie ihr Studium mit einer Bachelorarbeit über „Erfolgsfaktoren für Storytelling in Videospielen“ ab. Für die Abschlussarbeit analysierte sie 50 preisgekrönte Titel der letzten 15 Jahre und identifizierte dabei verschiedene Elemente, die Schlüssel zum narrativen Erfolg darstellen. IGM sprach mit der Projektmanagerin, Game-Designerin und Narrative Designerin über die Ergebnisse ihrer Studie.
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Gaia Di Mauro

IGM: Gaia, was sind die wichtigsten Faktoren für erfolgreiches Storytelling in Games?

Gaia Di Mauro: Meine Forschung hat einige Faktoren ergeben, die beim Storytelling in Games sehr wichtig sind. Einer davon ist ein Konflikt, der die Handlung vorantreibt. Das kann ein äußerer Konflikt sein – zum Beispiel ein Krieg – oder ein innerer Konflikt der Hauptfigur. Der zweite Faktor ist das Fehlen von Handlungslücken. Die Geschichte, die Figuren – alles muss in sich stimmig sein; es darf keine logischen Fehler geben. Die SpielerInnen legen großen Wert auf Konsistenz: Wenn eine Figur beispielsweise als Pazifist dargestellt wird, dann ist es unlogisch, wenn dieselbe Figur plötzlich ohne ersichtlichen Grund zu kämpfen beginnt.

IGM: Welche Faktoren gibt es noch?

Di Mauro: Plot-Twists und Überraschungen sind wahrscheinlich der wichtigste Faktor, weil SpielerInnen ständig Neues erleben wollen. Jedes einzelne der 50 Games, die ich analysiert habe, hatte mindestens eine Art von Plot-Twist. Der vierte Hauptfaktor ist ein Antagonist, ein Bösewicht, der als herausfordernd empfunden wird. Das muss keine besonders mächtige Figur sein, aber die SpielerInnen müssen den Eindruck gewinnen, dass sie stark ist – jemand, vor dem man sich fürchten sollte. Es muss ein gewisses Maß an Furcht vorhanden sein, dass der Bösewicht gewinnen könnte.

IGM: Welches Game macht in dieser Hinsicht besonders viel richtig?

Di Mauro: Zum Beispiel Pentiment von Obsidian Entertainment. Es spielt in einem kleinen Dorf, in dem eine Kirche niederbrennt – und es gibt viele Verschwörungen darüber, was genau passiert ist und warum. Im Grunde genommen hat jeder im Dorf etwas zu verbergen. Pentiment ist also ein bisschen wie ein Detektivspiel, man muss recherchieren. Außerdem spielt man zwei verschiedene Protagonisten. Ziel des Spiels ist es, zu verstehen, wie es zum Brand der Kirche kam. Pentiment erfüllt alle Kriterien für ein narrativ erfolgreiches Spiel. Es gibt mehrere große Konflikte, aber auch viele kleinere, die sich gut für Sidequests eignen. Das Spiel ist auch in sich sehr konsistent: Man muss viele Entscheidungen treffen – und alles ergibt logisch betrachtet Sinn. Außerdem gibt es viele Plot-Twists – das Spiel steckt voller Geheimnisse und Überraschungen. Es gibt auch einen Bösewicht, der besonders mächtig erscheint. Anfangs wissen wir nicht, wer es ist – aber wir wissen, dass es sich um eine sehr einflussreiche Person handeln muss. Allein diese Ahnung, dass hinter all den seltsamen Ereignissen jemand sehr Mächtiges steckt, reicht aus, damit sich die SpielerInnen herausgefordert fühlen.

Pentiment erfüllt alle Kriterien für ein narrativ erfolgreiches Spiel
 

IGM: Pentiment mutet wie ein Indie-Game an. Welches aktuelle Triple-A-Game hat ähnliche narrative Qualitäten?

Di Mauro: Baldur’s Gate 3 hat vieles richtig gemacht. Hier gibt es einen zentralen Konflikt, der die Geschichte trägt. Die Hauptfigur ist gezwungen, sich mit diesem Konflikt auseinanderzusetzen. Das Spiel ist außerdem sehr konsistent und es gibt viele Plot-Twists. Die SpielerInnen erleben ständig Überraschungen und entdecken Neues. Auch der Bösewicht ist hier ganz eindeutig eine echte Herausforderung.

IGM: Du hast für deine Bachelorarbeit 50 Spiele analysiert. Nach welchen Kriterien hast du sie ausgewählt?

Di Mauro: Ich habe zunächst verschiedene KI-Tools gebeten, mir bei der Auswahl zu helfen – aber das hat leider nicht besonders gut funktioniert. Also habe ich einfach auf Wikipedia nach Game Awards mit einer Kategorie für „best narrative“ gesucht. Dann habe ich geprüft: Wann wurde dieser Award ins Leben gerufen? Und wird er immer noch vergeben? Anschließend habe ich alle Preisträger der letzten 15 Jahren genommen und analysiert.

IGM: Welche Methodik hast du für die Analyse genutzt?

Di Mauro: Es handelt sich um eine quantitative Auswertung der ausgesuchten Spiele. Konkret habe ich eine Tabelle, in der die verschiedenen Faktoren beschrieben sind. Zum Beispiel gibt es dort die Kategorie „konfliktgetriebenes Narrativ“. In der Tabelle kann ein Spiel grundsätzlich null, einen oder zwei Punkte bekommen. Ich prüfe dann, wie viele Elemente eines konflitkgetriebenen Narrativs das Spiel enthält. Wenn mindestens 50 Prozent dieser Elemente vorhanden sind, gibt es einen Punkt. Wenn so gut wie alle erfüllt sind, gibt es zwei Punkte. Und wenn weniger als 50 Prozent vorhanden sind, gibt es null Punkte. So kann ein Spiel in jeder Kategorie zwischen null und zwei Punkten erhalten. Mit den addierten Punkten konnte ich dann weitere Auswertungen vornehmen.

IGM: In deiner Bachelorarbeit kritisierst du, dass viele Best-Narrative-Awards nicht wirklich erklären, warum bestimmte Games ausgezeichnet wurden.

Di Mauro: Das stimmt. Es gibt all diese Auszeichnungen für „beste Story“ oder „bestes Narrativ“ – aber was bedeutet das eigentlich? Oft geben die Jurys keinerlei Begründung für ihre Entscheidung. Oft ist auch unklar, warum bestimmte Spiele für den Award nominiert wurden. Hin und wieder wird das kurz erklärt – aber bei den Gewinnern fehlt dann die Begründung. Das Ganze ist also überhaupt nicht transparent.

IGM: Noch ein kurzer Abstecher in die Theorie: Was sind eigentlich die grundlegenden Erzählstrukturen in Games?

Di Mauro: Sehr grundlegende und beliebte Strukturen sind die Drei-Akt-Struktur und die Heldenreise – beide stammen ursprünglich aus der Literatur und finden sich in der Mehrheit der Games, zumindest in Ansätzen. Es gibt aber auch Games, die sich überhaupt nicht an bekannte Erzählmuster halten. Die können ebenfalls sehr spannend sein, sind aber eher die Ausnahme.

 

Oft geben die Jurys keinerlei Begründung für ihre Entscheidung
 

IGM: Zum Beispiel?

Di Mauro: Speziell die Games von Sam Barlow. Immortality und Her Story sind sehr interessante Games mit einer ungewöhnlichen Struktur. Es gibt weder eine Drei-Akt-Struktur noch eine klassische Heldenreise – die Games sind einfach innovativ und sehr gut gemacht. Aber es ist auch sehr riskant für andere Entwickler, etwas Ähnliches zu versuchen, weil die SpielerInnen an bekannte Strukturen gewöhnt sind und sich mit Ungewohntem häufig schwer tun. Sam Barlow erzählt seine Geschichten nicht chronologisch, aber er schafft es trotzdem, ein gutes Gleichgewicht zwischen experimenteller Form und verständlichem Storytelling zu finden.

IGM: Sam Barlow setzt die Messlatte für andere Spiele also ziemlich hoch ...

Di Mauro: Ja, es gibt nur sehr wenige Entwicklerstudios, die so etwas überhaupt versuchen, weil es einfach unglaublich schwer ist, eine Geschichte auf unkonventionelle – und dennoch sinnvolle – Weise zu erzählen. Die meisten SpielerInnen sind es einfach gewohnt, dass Dinge in einer bestimmten Reihenfolge passieren. Weicht man davon ab, wird es für viele schnell verwirrend.

IGM: Welche anderen Möglichkeiten gibt es, von klassischen Erzählstrukturen abzuweichen – und trotzdem ein breites Publikum anzusprechen?

Di Mauro: Viele Triple-A-Games nutzen Rückblenden, die ein bisschen ins Unkonventionelle gehen. Ein prominentes Beispiel dafür ist Alan Wake 2.

IGM: Rückblenden können schnell verwirren, wenn sie zu häufig eingesetzt werden ...

Di Mauro: Ja, ich persönlich fand die Flashbacks beim Durchspielen von Alan Wake 2 etwas verwirrend. Am Ende dachte ich: „Okay, habe ich etwas verpasst?“ Aber ich habe gelesen, dass viele SpielerInnen trotzdem sehr zufrieden waren und die Geschichte verstanden haben. Ich glaube, bei solchen Games muss man als SpielerIn wirklich aufmerksam sein. Jedes kleine Detail kann für den Sinn der Handlung wichtig sein.

IGM: Und wenn man das Detail verpasst, kann man der Handlung irgendwann nicht mehr folgen ...

Di Mauro: Genau. Das ist auch ein Problem bei Games, die kein klassisches Tagebuch oder Logbuch mehr haben. Ein weiterer Trend ist: Entwickler setzen immer häufiger voraus, dass die SpielerInnen das Game in ein bis zwei Sessions durchspielen – besonders bei kürzeren, storylastigen Titeln.

 

Ein gutes Gleichgewicht zwischen experimenteller Form und verständlichem Storytelling

 

IGM: Zügiges Durchspielen hilft natürlich, in der Handlung drin zu bleiben. Aber längst nicht jeder hat dafür Zeit – manchmal liegen mehrere Wochen zwischen den Sessions.

Di Mauro: Ja, und ich glaube, genau dann gehen viele Leute auf YouTube und schauen nach, was passiert ist, weil sie einen Teil der Geschichte vergessen haben (lacht).

IGM: Sprechen wir über andere narrative Faktoren: Welches Triple-A-Game hat deiner Meinung nach einen nahezu perfekten Bösewicht?

Di Mauro: Ich finde, Games wie The Last of Us sind sehr effektiv darin, Angst zu erzeugen – und zwar vor den zombieartigen Kreaturen. Das ist anders, weil es nicht einen einzelnen Bösewicht gibt, sondern viele kleinere Gegner, die trotzdem sehr herausfordernd sind. Wenn wir von klassischen, einzelnen Antagonisten sprechen wollen: In Hades gibt es eine starke Vaterfigur, einen König der Unterwelt, der Macht über alles und jeden hat. Die SpielerInnen müssen irgendwie versuchen, seinem Einfluss zu entkommen. Das ist herausfordernd, weil buchstäblich alles gegen den Protagonisten arbeitet, da der Bösewicht überall seine Finger im Spiel hat.

IGM: Welche Spiele überzeugen erzählerisch auch ohne klassischen Bösewicht?

Di Mauro: Es gibt einige. Man kann tolle Geschichten erzählen, ohne dass es einen Bösewicht gibt – aber das sind dann oft sogenannte Walking Simulators. Ein Beispiel ist What Remains of Edith Finch: Da gibt es keinen Bösewicht – man läuft einfach durch das Haus und erlebt die Geschichten der verstorbenen Familienmitglieder. Ein anderes Beispiel ist Unpacking: Man packt einfach Umzugskisten aus und räumt Gegenstände in Räume. Das war übrigens eines der seltsamsten Spiele, die ich bewerten musste. Ich konnte anfangs nicht verstehen, wie es den „British Academy Video Games Award for Narrative“ beim BAFTA gewinnen konnte. Unpacking ist in vielerlei Hinsicht großartig, aber ich würde es nicht in die Kategorie „best narrative“ einordnen. Das Spiel zeigt Ausschnitte aus dem Leben von Menschen, die in neue Wohnungen ziehen. Man hat eine vage Vorstellung davon, wie diese Menschen leben, und dass Zeit vergeht. Man sieht vermutlich auch, wie diese Menschen wachsen, sich verändern. Aber ich würde die Struktur dahinter nicht unbedingt als „Story“ bezeichnen. Es fühlt sich eher an, als würde man ein Fotoalbum anschauen.

IGM: Sprechen wir über inhaltliche Konsistenz. Welches Triple-A-Game hat da beispielsweise gepatzt?

Di Mauro: Zum Beispiel Mafia III. Das ist ein tolles Spiel mit einer guten Story, aber es mangelt darin teilweise an Konsistenz. Das sieht man auch an den Reviews: Viele Leute waren unzufrieden, weil es logische Brüche aufweist. Ein Reviewer schrieb beispielsweise, dass er mehrfach kurz hintereinander ins selbe Haus eindringen musste, um Schurken auszuschalten. Dabei würde man erwarten, dass das Haus zwei Stunden nach dem ersten Raid leer ist.

IGM: Viele Spiele sind voller Inkonsistenzen, zum Beispiel, wenn der Protagonist NPCs bestiehlt, die das dann sofort wieder vergessen. SpielerInnen sind solche Logikfehler gewohnt und nutzen sie sogar aus. Aber würdest du sagen, dass es da in der Spieleentwicklung Fortschritte gibt? Werden Studios besser darin, solche Inkonsistenzen zu vermeiden?

Di Mauro: Ja, in neueren Games erlebt man immer häufiger, dass das eigene Handeln wirkliche Konsequenzen hat. Wenn man durch die Gegend läuft und einfach arme NPCs verprügelt, erinnern die sich später daran.

 

KI erzeugt häufig Inkonsistenzen

 

IGM: Ein aktuelles Beispiel ist Kingdom Come: Deliverance II, das für seine organische Erzählweise und konsistente Spielwelt gelobt wird. Wird Narrative Design allgemein professioneller, auch im Hinblick auf andere Erzählfaktoren?

Di Mauro: Ja, das merkt man vor allem bei Triple-A-Produktionen. Die Teams werden größer und es gibt Fachleute für jede Disziplin. Außerdem merkt man, dass sich Game-Design und Narrative Design – wenn auch langsam – als zwei separate Bereiche etablieren. Früher war der Game-Designer auch für die Story und die Dialoge verantwortlich. Aber ein reiner Game-Designer legt nicht zwangsläufig Wert auf gutes Narrative Design.

IGM: Immer mehr Studios nutzen KI, um Geschichten dynamischer zu erzählen. Ist das die Zukunft des Narrative Design?

Di Mauro: Naja, ich hoffe ja selbst, als Narrative Designerin  zu arbeiten – deshalb ist meine Antwort auf KI natürlich: Nein danke, ich will noch einen Job haben (lacht). Ich finde, es ist noch viel zu früh, um der KI diese Aufgabe zu überlassen, weil sie einfach noch nicht effizient genug ist. KI erzeugt häufig Inkonsistenzen: Wenn man mit ihr längere Zeit spricht oder sie bittet, eine gute Geschichte zu schreiben, dann schleichen sich viele Widersprüche ein. Als SpielerIn toleriert man kleinere Fehler, weil man die menschliche Unvollkommenheit kennt. Aber wenn es zu viele Fehler werden, wird man dadurch komplett aus der Geschichte herausgeworfen. Zum jetzigen Zeitpunkt ist KI einfach noch nicht in der Lage, durchgängig konsistente Storys zu schreiben.

IGM: Letzte Frage: Welches Game willst du als Nächstes spielen – vor allem aus narrativer Sicht?

Di Mauro: Als Nächstes möchte ich das neue  Assassin‘s Creed spielen. Ich habe gehört, dass es eine sehr gute Story haben soll. (Achim Fehrenbach)

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