Dieser Streamer aus Deutschland macht Pokémon zum härtesten Puzzlespiel der Welt

Nuzlocke-Challenges machen die kinderfreundlichen Pokémon-Spiele so schwierig wie nur möglich. Heute ist die Szene um den alternativen Spielstil beliebter denn je.
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pChals Puls ist oft höher, als ihm lieb ist. „Vorgestern bin ich aus einem Fight gekommen und meinte: Ich kann es nicht mehr, es ist zu viel, ich bin zu alt dafür“, sagt der 29-jährige Streamer aus Deutschland, der seinen richtigen Namen lieber nicht nennen möchte. Seit fast einem Jahr sitzt er im Rahmen einer Hardcore-Nuzlocke-Challenge am Romhack Pokémon Run & Bun, einer extrem schwierigen Fan-Modifikation der 20 Jahren alten Smaragd-Edition. Gerade läuft sein fünfter Versuch. Allein die Planung der letzten paar Kämpfe hat ihn sechs, sieben Stunden gekostet.

Pokémon mit einem selbst auferlegten strengen Regelset durchspielen – das ist das Ziel beim sogenannten Nuzlocking. Manche SpielerInnen beginnen nach nur einer Niederlage von vorn, andere fangen nur einen Pokémon-Typen, und wieder andere verweigern ihren Pokémon die Entwicklung.

 

Damit der oft unausweichliche Verlust doppelt schmerzt

 

Belastung für Kopf und Herz
Seinen Anfang nimmt das Phänomen im Winter 2010. Gelangweilt von seinem Studium, plant US-Amerikaner Nick Franco damals einen spannenderen Durchlauf der Pokémon Rubin-Edition. Er fängt nur das erste Pokémon, dem er in einem Gebiet begegnet. Fallen seine Pokémon im Kampf, gelten sie permanent als tot. Auch gibt er allen Teammitgliedern Spitznamen, für eine größere emotionale Bindung. Und damit der oft unausweichliche Verlust doppelt schmerzt. Bleibt kein kampffähiges Pokémon, verliert er.

Dieses Grundregelset wird durch Francos auf 4Chan veröffentlichten Webcomic „Pokémon: Hard Mode“ bekannt, der wegen homophober Sprache, beiläufigem Rassismus oder Relativierung sexualisierter Gewalt bestenfalls historischen Wert hat. Der heute geläufige Name der Challenge entsteht erst im Nachhinein: eine Community-Erfindung basierend auf Francos Pokémon Blanas, englisch Nuzleaf, das er John Locke tauft.

„Es ging darum, eine Story zu erzählen und eine neue Bindung zu Pokémon aufzubauen, die man sonst nie benutzt hätte“, beschreibt pChal den Reiz der Ur-Nuzlocke. Die alternative Spielart hat sich im letzten Jahrzehnt vom Nischenphänomen zum festen Bestandteil der Pokémon-Szene entwickelt, begeistert heute ein Millionenpublikum auf Youtube und Twitch. Das ist auch dem Streamer zu verdanken.

pChal lernt Pokémon: Hard Mode kurz nach Veröffentlichung kennen, im Competitive-Pokémon-Forum Smogon. Dort findet er die regelmäßig erscheinenden Kapitel, aber auch Erfahrungsberichte und Comics von Nuzlockes anderer NutzerInnen. „Da muss ich dann meine ersten Runs gemacht haben, ich meine, im Romhack Bloody Platin“, erinnert sich pChal. Den absolviert er erst Jahre später erfolgreich.

Schwierig, schwieriger, Hardcore-Nuzlocke
Seine rund 900.000 Youtube-AbonnentInnen und 300.000 Twitch-FollowerInnen kennen pChal heute für seine Expertise, Vorliebe für Pokémon-Romhacks – und seine stark modifizierten Hardcore-Regeln. Er verzichtet etwa aufs Heilen in Kämpfen, freies Einwechseln von Pokémon zwischen Runden, trainiert sein Team maximal auf das Level der nächsten ArenaleiterInnen. „Das alles ist eine logische Konsequenz daraus, dass das Gameplay cool sein muss, wenn man das Spiel möglichst ernst nimmt“, erklärt er. Francos Version gebe das nicht her.

Ein ähnliches Verlangen bewegt pChal Anfang 2016 zum Streaming. Die Pokémon-Content-Szene ist zu dem Zeitpunkt eher auf leichte Unterhaltung ausgerichtet. Zwar gibt es Nuzlocke-Videos auf Youtube, doch überwiegen lockere Versuche mit zufallsgenerierten Pokémon-Fundorten per Mods. pChal habe der Selbstanspruch gefehlt, den er zum Beispiel an SpeedrunnerInnen auf Twitch schätzt, die monatelang trainieren, um Spiele im Rekordtempo zu beenden. „Damals gab es, glaube ich, noch nicht diesen Gedanken, dass man Nuzlockes sehr ernst nehmen kann“, meint er. „Ich dachte, es muss einen Weg geben, diese beiden Welten zu verbinden.“

 

Populärer denn je

Der Streamer beginnt mit allgemeinen Challenge Runs, beendet etwa Pokémon Feuerrot und Blattgrün ohne Tode nur mit dem schwachen Rattfratz. Zunehmend schwierige Nuzlockes folgen, die später sogar internationale Schlagzeilen machen. Seitdem hat sich die Nuzlocke-Landschaft stark gewandelt. Allein die geläufigsten Regeln füllen ganze Wiki-Artikel, Variationen wie der MehrspielerInnen-Modus Soul Link sind populärer denn je. Internetgrößen, darunter Youtuberin Jaiden Dittfach oder Ludwig Ahgren, einstiger „König von Twitch“, werden darauf aufmerksam, eröffnen die Challenges einem noch größeren Publikum. Und pChal hat daraus einen Vollzeitjob gemacht, finanziert sich unter anderem via Youtube-Werbeeinnahmen, Sponsorings und kostenpflichtigen Abonnements auf Twitch.

Gatekeeping ist cringe
Was Wachstum und Öffnung nicht lösen, ist das tief verwurzelte Gatekeeping-Problem in der Community – keine Seltenheit bei wettkampforientierten oder fordernden Spielen. „Schon früher wurde gern behauptet, das war kein richtiger Nuzlocke-Run, wenn du vom Standardregelset abgewichen bist“, so pChal. Der Streamer bezieht klar Stellung zum toxischen Verhalten. Auch weil er manchmal befürchtet, seine Videos könnten dazu beigetragen haben. „Es ist halt cringe. Statt solche Kommentare zu schreiben, könntest du auch deine Familie anrufen.“ Schließlich gehe es beim Nuzlocking zuerst um Spaß. „Und wenn das dein Ziel ist, solltest du nach dem Regelset spielen, das dir am meisten Spaß macht.“

Trotzdem überrascht der Wandel vom nischigen Forenthema zum Massenphänomen wenig. Nicht nur, weil Pokémon die weltweit umsatzstärkste Marke ist und ein entsprechend großes Publikum anspricht. Auf SpielerInnenseite erfüllen Nuzlockes, so pChal, das Bedürfnis älterer Fans nach einer komplexeren Pokémon-Erfahrung. Auf ZuschauerInnenseite reize das Angebot von Gruppen­identifikation und Stillen von Sensationslust. Die erfolgreiche Nuzlocke-Challenge, der gebrochene Weltrekord beim Speedrun, der EM-Titel für Deutschland: „Leute fühlen sich verbunden mit den Geschichten, wollen die großen Momente sehen und sagen können: Ich war dabei!“

 

Ich war dabei!

 

Über acht Jahre sind monatelanges Scheitern, erneutes Beginnen und mehr Zeit vor Excel-Tabellen als im Spiel Teil von pChals Alltag. „Ich glaube, wer Roguelikes wie Hades oder Balatro gespielt hat, weiß wie das geht“, erklärt er die Faszination. „Du warst ewig dran, stirbst beim Boss und dein Hirn sagt sofort: Starte einen neuen Run.“ Er genießt, wie sein Spielstil Pokémon in ein offenes Puzzlespiel verwandle. „Du kannst jemandem zuschauen, aber deren Lösung kann gar nicht deine Lösung sein, weil du andere Puzzleteile haben wirst. Das finde ich extrem cool.“

Aufhören kommt nicht infrage. „Die hohen Stakes, ein Publikum zu haben, das eine Bindung zu meinen Geschichten hat, und der Gedanke, das in einem neuen, geilen Video zu verarbeiten, wenn ich es jetzt schaffe – es ist schwierig, diese Kombination von Faktoren irgendwie nachzumachen.“ Das sei selbst den Dauerstress und den erhöhten Puls wert. [Erik Körner]

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