Nordisches Leuchten: Die schwedische Games-Branche im Porträt

Die gamescom hat dieses Jahr nicht ein einzelnes Partnerland, sondern eine ganze „Partnerregion“: die Nordischen Länder. Will heißen: Dänemark, Finnland, Island, Norwegen, Schweden und Estland werden in Köln einen gemeinsamen Messeauftritt wuppen – und dabei ihre Leistungsfähigkeit unter Beweis stellen wollen. Eines dieser Länder, das – im internationalen Vergleich – gut durch die Branchenkrise zu kommen scheint, ist Schweden: Grund genug, sich die dortige Spieleindustrie genauer anzuschauen.
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Anfang Juli stellte der schwedische Games-Verband Dataspelsbranschen einen „Kanon der Spielekultur“ vor: Genauer gesagt 15 Games, die eine „tiefe Bedeutung für die schwedische Kultur“ haben. Die vielköpfige Jury aus Games-Branche und Wissenschaft wählte unter anderem Stugan aus, ein Text-Adventure aus dem Jahre 1978, in dem Spielende ein mysteriöses Landhaus in Småland erkunden. „Das Spiel wurde von drei Teenagern entwickelt, die Zugang zu einem Großrechner hatten“, heißt es in der Jury-Begründung. „Es hat viele inspiriert und ist mit seiner humorvollen Geschichte immer noch ein Quell der Freude.“ “

Prominente Einträge
Längst nicht alle IGM-LeserInnen dürften mit dem mysteriösen Stugan vertraut sein – wohl aber mit anderen schwedischen Branchenerzeugnissen, die in den Folgejahrzehnten hinzukamen. Zu den prominentesten Kanon-Einträgen zählen Europa Universalis (Paradox Interactive), Battlefield 1942 (Digital Illusions), Amnesia: The Dark Descent (Frictional Games), Candy Crush Saga (King) und natürlich Minecraft (Mojang) – alles Namen mit internationaler Strahlkraft. In Deutschland gibt es – nur so zum Vergleich – noch keinen derartigen, offiziellen Spielekanon. Wobei dann auch zu überlegen wäre, wie man ein Moorhuhn neben einem Gothic platziert ...

Blicken wir also doch lieber wieder nach Schweden. Die 10-Millionen-Einwohner-Nation gehört zur „nordischen Partnerregion“, die dieses Jahr im Rampenlicht der gamescom steht. Gemeinsam mit Dänemark, Finnland, Island, Norwegen und Estland (neu!) wird Schweden einen Bereich in der Business Area und auch sonst einiges an Messeständen haben. Wir schauen uns Schweden hier vorab genauer an, weil es doch einigermaßen solide durch die internationale Branchenkrise schippert. Klar, wir sprechen hier von der Heimat der Embracer Group, die zuletzt mit Studioschließungen, Massenentlassungen und internen Umstrukturierungen von sich reden machte. Diese Studioschließungen und Massenentlassungen betrafen vor allem zugekaufte Firmen aus dem Ausland. In Schweden erwischte es beispielsweise das Studio Pieces Interactive (Skövde), das gerade das Remake von Alone in the Dark entwickelt hatte.

 

Das organische Wachstum geht weiter

 

Zahlen-Smörgåsbord
Die neuesten Branchendaten stammen übrigens aus dem nicht mehr ganz taufrischen Verbandsreport „The Swedish Games Industry 2023: Game Developer Index“. Laut dieser Studie von Dataspelsbranschen gab es 2022 insgesamt 939 schwedische Games-Firmen, ein Plus von 20 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Das Umsatz mit heimischen Spielen sei derweil um 13 Prozent auf insgesamt 3,1 Milliarden Euro gestiegen. Schwedische Games seien bislang rund sieben Milliarden Mal heruntergeladen worden; von den drei Milliarden Spielenden weltweit habe bereits ein Viertel schwedische Games goutiert. Entsprechend optimistisch zeigt sich Per Strömbäck, seit 2007 offizieller Sprecher der schwedischen Spielebranche. „Die schwedische Games-Industrie hat in den letzten zehn Jahren ein beträchtliches Wachstum erlebt“, sagt er. „Von einem Gesamtumsatz von 391 Millionen Euro im Jahr 2012 auf mehr als 8 Milliarden Euro im Jahr 2022. Das ist ein Wachstum von mehr als 2000 Prozent in zehn Jahren.“ Ein Teil davon sei durch Übernahmen hinzugekommen, das Meiste sei aber organisch gewachsen. „Derzeit ist die gesamtwirtschaftliche Situation für Akquisitionen nicht besonders günstig“, räumt Strömbäck ein, sagt aber auch: „Das organische Wachstum geht weiter, weil immer mehr Menschen auf der ganzen Welt Games entdecken – und damit auch Games aus Schweden.“

Strömbäck stellt fest, dass die Weltwirtschaft in schwierigem Fahrwasser ist – „und Schweden bildet da keine Ausnahme“. Man habe jedoch keine so umfangreichen Entlassungen erlebt wie in anderen Ländern. „Es gibt sie zwar, aber es ist eher so, dass sich die Neueinstellungen verlangsamt haben“, sagt Strömbäck. „Das ist nicht nur schlecht, denn in den letzten Jahren sind wir vielleicht ein bisschen zu schnell gewachsen.“ Generell sei es schwieriger geworden, Investitionskapital für neue Projekte zu bekommen – „was bedeutet, dass einige Firmen mit der Finanzierung zu kämpfen haben“. Auch sei der Appetit auf Übernahmen bei weitem nicht mehr so groß wie noch vor drei oder vier Jahren, so der Experte. „Die Aktienkurse der börsennotierten Unternehmen sind gesunken, da die Anleger nicht mehr auf Wachstum, sondern auf Gewinne setzen.“ Strömbäck ist aber optimistisch, weil es genügend KonsumentInnen gebe: „Wir stehen also längerfristig gut da, solange wir weiterhin großartige Games produzieren können.“

Wichtige Zentren
Diese Games entstehen vor allem an drei großen schwedischen Standorten: Stockholm, Malmö und Skövde. Die letztgenannte Stadt mag außerhalb Schwedens nicht so bekannt sein: Es handelt sich um eine ehemalige Militär- und Autostadt 150 Kilometer nordöstlich von Göteborg, die sich durch ihre Universität und ihren Start-up-Hub auch zu einem Games-Zentrum entwickelt hat. Bekannte Games aus dem Ökosystem von Skövde sind Goat Simulator, Valheim und Raft – um nur einige zu nennen. Als weitere schwedische Erfolgsgeschichten nennt Strömbäck drei Games aus Stockholm: Den Rätsel-Platformer It Takes Two (Hazelight Studios), das mobile Strategiespiel The Battle of Polytopia (Midjiwan) sowie Metal: Hellsinger, das vor zwei Jahren auf der gamescom mit einem zünftigen Live-Konzert für Begeisterung sorgte. „Natürlich ließe sich diese Liste noch deutlich verlängern“, sagt Strömbäck. Etwa mit Helldivers 2 von den Stockholmer Arrowhead Game Studios, das zu den großen Hits dieses Spielejahres zählt.

 

Schweden bildet da keine Ausnahme

 

Schwedens Stärke als Games-Produzent hat nicht zuletzt mit seinem engmaschigen Ökosystem zu tun. Ein gutes Beispiel ist die Firma Aurora Punks, die 2019 in Nordschweden gegründet wurde. „Unser erstes Ziel war es, eine Plattform für Start-ups und Spielestudios in Schweden und Europa zu schaffen“, erzählt CMO und Business Developer Bibbi Wikman. „Damit wollten wir Unterstützung bei Geschäftsentwicklung und Finanzierung erhalten und Entwicklungsressourcen teilen, um als Studios nachhaltiger zu werden.“ Zu Beginn habe der Arbeitsschwerpunkt auf der Entwicklung von originärer IPs gelegen; aufgrund des hohen Kostendrucks habe sich die Firma aber dann in Richtung Co-Development und Outsourcing entwickelt. „Derzeit arbeiten wir an anderen IPs, zum Beispiel Ready or Not von VoiD Interactive und Ghost Signal von Paradox und Fast Travel Games“, berichtet Wikman. Das Kernteam von Aurora Punks hat 13 MitarbeiterInnen, das Headquarter befindet sich in Stockholm. „Unsere Developer befinden sich zwar hauptsächlich in Schweden, aber wir haben auch Partnerschaften mit Studios in UK, Dänemark und Serbien“, erläutert Wikman. Zudem arbeite man eng mit Studios in den USA zusammen, so die CMO: „Unsere Kunden sind in der ganzen Welt zuhause – und wir sind immer offen für neue Partnerschaften innerhalb und außerhalb Schwedens.“

 

Wir sind immer offen für neue Partnerschaften

 

Breites Portfolio
Inzwischen bietet Aurora Punks ein breites Portfolio an Services. Dazu gehören Co-Development, Outsourcing und Business Development für PC-, Konsolen- und VR-Titel – und auch für User-Generated Content und Mods. „Wir unterstützen Studios auch mit Co-Investitionen und Entwicklungsressourcen für Projekte, bei denen wir ein Potenzial sehen“, sagt Wikman. „Zum Beispiel dann, wenn ein Projekt von unserer Design- und Technik-Expertise profitieren könnte – etwa beim Multiplayer, beim Post-Launch-Support oder bei DLCs.“ Ein Vorteil des umfangreichen Netzwerks sei, dass man ähnliche Kapazitäten wie große Studios bieten könne – also mehr als das, was kleine Studios sonst zur Verfügung hätten. Aurora Punks entwickelt auch eigene Tech- und KI-Tools, die dann von den Partnerstudios genutzt werden können. Immer wichtiger werde der Post-Launch-Support, berichtet Wikman: Auch hierfür stünden umfangreiche Kapazitäten zur Verfügung.

Aurora Punks hat durch sein Netzwerk beste Einblicke in die schwedische Games-Branche. Wo also sieht Wikman die Stärken und möglichen Schwächen des Produktionsstandorts? „Schweden kann auf eine lange und reiche Geschichte der Games- und Technologieinnovation zurückblicken“, sagt sie. Schon früh habe das Land eine starke Internet-Infrastruktur und eine lebendige Demoscene besessen; beides habe die schwedische Games-Industrie maßgeblich geprägt. „Diese Verbindungen sind für die Gründung neuer Unternehmen nach wie vor wichtig“, betont Wikman. „Wir haben einen ständigen Zustrom neuer Talente von schwedischen Schulen und Ausbildungsprogrammen mit dem Schwerpunkt Game Development.“ Die Expertin sieht die Branche als sich selbst verstärkendes System: „Erfolg erzeugt Erfolg, und in Schweden herrscht großes Vertrauen in unsere Fähigkeit, den nächsten großen Hit zu landen.“ Flache Organisationsstrukturen und eine starke Unternehmenskultur seien gute Voraussetzungen für kreative Fachkräfte, so Wikman. „In Schweden ist es einfach, ein Unternehmen zu gründen – und viele ehemalige Angestellte erfolgreicher Studios gründen später selbst Studios.“ Dank dieser Erfolgsbilanz sei es für schwedische Studios auch vergleichsweise einfach, sich Early-stage Funding zu sichern (vgl. S. 26ff.).

 

Unsere Kunden sind in der ganzen Welt zuhause

 

Heimische Herausforderungen
Das klingt nun alles ziemlich gut – allerdings sieht Wikman auch erhebliche Herausforderungen für die heimische Industrie. „Hohe Gehälter, Steuern und Arbeitsgesetze in Schweden machen es schwierig, ein Unternehmen zu skalieren“, beobachtet sie. „Anstatt dass neue Beschäftigungsmöglichkeiten für Developer in Schweden entstehen, steigt die Nachfrage nach Co-Development in Niedrigkostenländern.“ Die SpielerInnen wiederum verlangen laut Wikman zunehmend hochwertige aber günstige Inhalte. Dies führe zu steigenden Projektkosten, während die Marktsättigung viele Firmen zu schlankeren Produktionsbudgets zwinge. „Das ist eine besondere Herausforderung für westliche und schwedische AA- und AAA-Projekte, die große Teams erfordern“, konstatiert Wikman, bleibt aber ebenfalls optimistisch: „Schwedische Studios, die sich daran anpassen und neue Technologien, Tools und KI zur Qualitäts- und Kreativitätsförderung nutzen, werden auch weiterhin erfolgreich sein.“

Bei der gamescom im August wird Aurora Punks ordentlich mitmischen. Ziel sei, neue Firmen für Co-Development zu finden, so Wikman. „Außerdem stellen wir Investoren und Publishern einige noch unangekündigte Projekte von Partnerstudios vor.“ Und natürlich wolle man neue und alte Freunde aus der Branche treffen, „um Ideen für die Zukunft auszutauschen“, ergänzt Wikman. Besonders gut könnte das im Business-Bereich der Nordischen Länder und natürlich bei der „Nordic Party“ klappen, die von der schwedischen Dataspelsbranschen mit organisiert wird. „Wir bringen auch Regierungsvertreter aus den Nordischen Ländern mit und hoffen, in diesem Jahr für Furore zu sorgen“, sagt Per Strömbäck. Da lässt sich nur gutes Gelingen wünschen! Oder, auf Schwedisch: „Lycka till!“ (Achim Fehrenbach)

IGM 08/24
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