Die Zahlen sind beeindruckend – vor allem im internationalen Vergleich. Schauen wir uns zunächst Deutschland an: Dort arbeiten aktuell rund 10.900 Menschen bei Spiele-Entwicklern und -Publishern (Quelle: Jahresreport der deutschen Games-Branche 2021). Zur Erinnerung: Deutschland hat rund 83 Millionen EinwohnerInnen. Blicken wir nun ins Nachbarland Polen: Dort arbeiten etwa 9.700 Menschen in der Spielebranche (The Games Industry of Poland: Report 2020) – bei einer weniger als halb so großen Einwohnerzahl (knapp 38 Milllionen). Von Polen aus geht es nun nach Norden, quer über die Ostsee – bis nach Schweden. Hier sind aktuell rund 9.200 Menschen in der Spielebranche tätig (Game Developer Index 2020). Und das bei nur 10 Millionen Einwohnern.
Hinter den Kulissen Erfahrungen austauschen
Portfolio-Perlen
Was lernen wir aus dem Zahlenvergleich? Schweden und Polen haben – in Relation zu ihrer Größe – deutlich stärkere Games-Branchen als Deutschland. Oder anders formuliert: Sie sind europäische Gaming-Powerhouses. Neben den bereits eingangs genannten "Leuchtturm-Firmen" und Indie-Studios gibt es in beiden Ländern auch immer mehr Indie-Publisher, die sich mit handverlesenen Portfolios einen Namen machen. Ihre Roster bestehen längst nicht nur aus einheimischen Games: Speziell die schwedischen Indie-Publisher suchen sich ihre Portfolio-Perlen auch im Ausland zusammen – zum Beispiel in Deutschland. Vor allem aber sind sie treibende Kräfte der internationalen Indie-Vernetzung. Beispiel gefällig? Zwischen dem 31. August und dem 7. September fand "The Indie Houses Festival" statt, die Promo-Aktion eines siebenköpfigen Indie-Label-Kollektivs. Los ging's mit der "The Indie Houses Direct Show", einem Streaming-Event, in dessen Verlauf das Kollektiv Dutzende neuer Titel vorstellte. Beim anschließenden Steam-Festival konnten Indie-Fans nicht nur massenweise Streams verfolgen, sondern auch rund 40 Demos ausprobieren.
Doch wer steht eigentlich hinter The Indie Houses? Da wären: Akupara Games (USA), Fellow Traveller (Australien), Neon Doctrine (Spanien), Those Awesome Guys (Rumänien), Toge Productions (Indonesien), Whitethorn Games (USA) – und auch der schwedische Publisher Raw Fury. Was ist die Grundidee des Kollektivs? Das fragen wir Michael Graß, PR & Communications Manager bei Raw Fury. "The Indie Houses sind ein Zusammenschluss von Indie-Publishern – quasi eine Mischung aus den Avengers der Spielebranche und einer Studenten-WG", erläutert Graß. "Mit dem Ziel, sich gegenseitig und natürlich die angeschlossenen Entwickler zu unterstützen sowie Ressourcen und Wissen zu teilen." Zwar werde der Spielemarkt von deutlich größeren Akteuren beherrscht – doch als Kollektiv lasse sich einiges bewegen. "Wir können so die Aufmerksamkeit auf diese gewissen Liebhaber-Spiele lenken, die sonst von Spielern und Medien vermutlich kaum oder nur mit viel Aufwand Aufmerksamkeit bekommen würden", betont Graß. "Gleichzeitig können wir hinter den Kulissen Erfahrungen austauschen. Selbst wenn es nur um einen Sanity-Check geht – oder einfach darum, eine Meinung aus einem anderen Blickwinkel zu bekommen." Anders als etwa das Guerrilla Collective (vgl. IGM 10/2021) seien The Indie Houses auf eine längerfristige Zusammenarbeit angelegt, sagt Graß. Wobei man sich über jede Initiative freue, die der Indie-Szene zugute komme.
Freundlichkeit, Bescheidenheit, Transparenz und Ehrlichkeit
Veteranen als Gründer
Das Kollektiv-Mitglied Raw Fury hat sich bei Indie-Fans längst einen Namen gemacht. Die Firma wurde 2015 von Jónas Antonsson und Gordon van Dyke gegründet. Antonsson war früher Vice President for Mobile bei Paradox Interactive, van Dyke arbeitete als Produzent verschiedener Battlefield-Titel bei EA DICE. Das Hauptquartier des Indie-Publishers, das "House of Fury", steht im Herzen Stockholms. Mittlerweile hat die Firma mehr als 60 Angestellte, die teils in Stockholm selbst, teils aber auch in anderen Teilen Schwedens und im Ausland arbeiten. Seit 2019 hat Raw Fury zudem ein eigenes Entwicklungsstudio: Die Fury Studios in Zagreb helfen externen Entwicklern unter anderem bei Qualitätskontrolle und Portierung. Auch auf der diesjährigen gamescom war Raw Fury stark vertreten: Der Publisher kündigte das Spiel Dream Cycle von Tomb-Raider-Mastermind Toby Gard an, das seit dem 7. September im Early Access verfügbar ist. Ein weiterer aktueller Hit ist Townscaper, ein Städtebauspiel mit Zen-Atmosphäre. Am 23. September veröffentlicht Raw Fury das fantastisch aussehende Open-World-Spiel Sable mit Musik von Japanese Breakfast. Und auch die erste große Erweiterung für das Aufbauspiel Kingdom (Norse Lands) soll noch dieses Jahr erscheinen. Bis jetzt hat Raw Fury mehr als zwei Dutzend Spiele veröffentlicht: Keine schlechte Ausbeute für sechs Indie-Firmenjahre.
Nun bedeutet "Indie-Publisher" ja längst nicht, dass der Publisher immer auch die Interessen "seiner" Studios vertritt. Es gibt haufenweise Beispiele dafür, dass selbsternannte Indie-Wohltäter den Entwicklern knallharte Knebelverträge aufdrücken. Nicht so bei Raw Fury, betont Michael Graß – das Ganze sei ein "Herzensprojekt", das alle Beteiligten glücklich machen wolle. Graß sieht selbst die Gefahr, dass das reichlich kitschig klingt, gibt aber gleich ein konkretes Beispiel für die Indie-Freundlichkeit seines Arbeitgebers: "Wir machen aus unserem Publishing-Vertrag kein großes Geheimnis. Jeder, der mit uns zusammenarbeiten möchte, kann sich alles vorab in Ruhe anschauen." Im Gegenzug schaue sich auch Raw Fury die Kandidaten ganz genau an, "da wir glauben, dass ein Publisher mitunter zu den größten Fans eines Spiels gehören muss". In Games stecke so viel Leidenschaft und Lebenszeit, das man sich da durchaus etwas Mühe geben könne. Ganz nach den Firmenmottos von Raw Fury: "Games are art". Und: "Stay fucking human!".
Name mit Donnerhall
Raw Fury ist allerdings nicht der einzige Indie-Publisher, der in Schweden (und darüber hinaus) für Furore sorgt. 2017 wurde in Göteborg die Firma Thunderful Games gegründet – als Zusammenschluss der Studios Image & Form und Zoink Games. Es folgten die Übernahme des Studios Coatsink, der Börsengang – und 2021 auch die Übernahme von Headup aus Düren/NRW (vgl. IGM 09/2021). Thunderful Games setzt sich aus Thunderful Development und Thunderful Publishing zusammen – und ist selbst Teil der Thunderful Group, zu deren wichtigsten Stakeholdern der schwedische Distributor Bergsala gehört. Aus dem Entwicklernetzwerk von Thunderful Development sind schon etliche Erfolgstitel hervorgegangen – zum Beispiel die SteamWorld-Reihe, Ghost Giant, Fe und Flipping Death. Derzeit (Stand: 6.9.) sind unter anderem die Spiele The Gunk sowie Lost in Random in der Mache – letzteres wird allerdings von EA veröffentlicht. Thunderful Publishing konzentriert sich derweil auf Premium-Games für PC und Konsole. Zum Portfolio gehören unter anderem auch drei Spiele aus Deutschland, nämlich Curious Expedition 2 (Maschinen-Mensch), Lonely Mountains: Downhill (Megagon Industries) und Say No! More (Studio Fizbin). Kommende Highlights sind die beiden Puzzle-Platformer Planet of Lana sowie Firegirl, die jeweils 2022 erscheinen sollen.
Thunderful hat einen ähnlich ehrfurchtgebietenden Firmennamen wie Raw Fury – aber auch eine ähnlich friedfertige Philosophie. "Um es ganz kurz zu sagen: Wir wollen, dass jeder unsere Inhalte spielen und genießen kann", sagt Dirk Gooding, Head of Communications bei Thunderful Games. "Wir haben eine lange Geschichte in der Spieleentwicklung und versuchen deshalb, wirklich ein Publisher für die Entwickler zu sein." Als Firmengrundwerte nennt Gooding "Freundlichkeit, Bescheidenheit, Transparenz und Ehrlichkeit". Diese pflege man bei jedem Projekt, das mit Entwicklungspartnern und internen Studios entstehe. In Sachen Distribution setzt Thunderful derweil auf unterschiedliche Kanäle. "Wir verehren, ja wir lieben physische Premium Editions von Spielen – das hat mit unserer Unternehmensgeschichte und auch damit zu tun, dass Bergsala ein wichtiger Anteilseigner unserer Gruppe ist", erläutert Gooding. Natürlich habe sich der Markt inzwischen in Richtung Digital verschoben. "Wir bleiben aber immer offen für hochwertige physische Distributionsmöglichkeiten. Sei es nun auf der traditionellen Regalfläche – oder indem wir einen modernen Direct-to-consumer-Ansatz für Special Interest wählen."
Polnische Vielfalt
Von Schweden fliegen wir nun zurück über die Ostsee nach Polen. Unser Nachbarland hat eine florierende Indie-Publisher-Szene – mit Vertretern wie Superhot Presents, Retrovibe und No Gravity Games. Auch der Indie-Publisher Games Operators ist eine Erfolgsgeschichte. 2017 in Warschau gegründet, beschäftigt die Firma mittlerweile 32 MitarbeiterInnen. Ein Meilenstein für das Unternehmen war die Veröffentlichung der eigens entwickelten Notfall-Simulation 911 Operator (2017). 2019 wurde Games Operators dann selbst zum Publisher – und ging 2020 an die Warschauer Wertpapierbörse. Erfolgreichster Titel ist 911 Operator – mit mehr als einer Million verkaufter Exemplare auf Steam. Rechnet man auch Mobile-Plattformen und Konsolen hinzu, dann erreicht der Titel sogar sieben Millionen SpielerInnen weltweit. "Wir von Games Operators wollen Spiele entwickeln und veröffentlichen, die wirklich einzigartig sind", betont Jakub Ananicz, der als Vorstandsmitglied, Entwickler und Producer fungiert. 2021/22 will Games Operators unter anderem die Titel Infection Free Zone, Aquarium Designer, Medic Pacific War und Countryballs Heroes veröffentlichen. Allerdings konzentriert sich der Publisher dabei auf den Digitalvertrieb, so Ananicz: "Der stationäre Einzelhandel hat nur einen geringfügigen Anteil am Gesamtumsatz."
Games Operators setzt zwar auf Indie-Games, ist aber selbst nicht wirklich "indie": Die Firma gehört zur börsennotierten Firmengruppe PlayWay, die insgesamt mehr als 70 (!) Tochtergesellschaften hat – und momentan Dutzende von Spielen entwickelt. Ein anderer, durchaus berühmter Name ist 11 bit studios – die Warschauer feierten mit Spielen wie This War of Mine und Frostpunk große Indie-Erfolge. "Die Investitionen in unsere Publishing-Abteilung begannen um 2014 herum", berichtet Marek Ziemak, External Development Director. "Wir hatten viel Erfahrung in der Entwicklung von Spielen, waren aber Neulinge in der Veröffentlichung von Spielen – und mussten das erst lernen." Den ersten großen Publishing-Erfolg landete man 2018 mit Moonlighter. 2019 folgte Children of Morta, das ebenso gut angenommen wurde. Ab da wuchs die Publishing-Abteilung deutlich. 2019 erwirtschafteten 11 bit immerhin rund 40 Prozent seines Gesamtumsatzes mit externen Titeln.
Physische Distribution
Über die bevorstehenden Titel will Ziemak noch nicht viel verraten. "Momentan lassen wir drei unserer Spiele in externen Studios produzieren", sagt er. "Zwei in Spanien und eines in Polen. Aber leider sind alle drei noch nicht offiziell angekündigt. Ich kann dazu allerdings sagen, dass die Investitionen in diese Projekte kürzlich auf 8 Millionen US-Dollar erhöht wurden. Außerdem investieren wir 13,4 Millionen US-Dollar in neue Titel, deren Verträge zwischen 2021 bis 2023 unterzeichnet werden sollen." Gemeinsam mit Outsourcing-Partnern arbeitet 11 bit zudem an der Veröffentlichung von Boxed Editions. Man wisse, dass viele SpielerInnen physische Games als Sammlerstücke ins Regal stellten, so Ziemak: "Deshalb bemühen wir uns, da etwas mehr anzubieten – meistens mit Limited Editions wie Artbooks oder Poster." Wir sind auf die nächsten Kreationen gespannt. (Achim Fehrenbach)