Stéphane Rappeneau: „Der Konsolenmarkt ist die größte Black Box“

Es gibt Leute, die sich ein bisschen mit Marktdaten auskennen. Und es gibt Stéphane Rappeneau. Der Franzose ist "Head of Financing for Game Industry" bei der Société Générale, einer der größten europäischen Investmentbanken. In seiner Freizeit ist er als Mentor für Indie-Studios tätig – und unterstützt sie bei Strategieentwicklung und Fundraising. Kürzlich hat Rappeneau eine Studie veröffentlicht: Sie soll kleinen Ent­wicklern helfen, auf Basis von Marktdaten eigenständige Entscheidungen zu treffen. Wir sprachen mit Rappeneau über kompetente Marktforschungsunternehmen, hilfreiche Datenquellen und schwierige Märkte.
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© Win Nondakowit/stock.adobe.com
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IGM: Stéphane, ganz grundsätzlich: Warum sollten Indie-Entwickler selbst Marktforschung betreiben?

Stéphane Rappeneau: Das Hauptziel meiner Studie war, dass Indie-Entwickler genau das können sollen – also kein großes Beratungsunternehmen bezahlen müssen. Zumindest sollen sie damit ihr Ziel klar definieren können. Die großen Marktforschungsfirmen sind für die meisten Indie-Entwickler nicht erschwinglich. Wenn ein kleiner Indie ein Spiel entwickelt, kostet das zwischen 100.000 und 500.000 US-Dollar. Das bedeutet, er kann es sich nicht leisten, viel Geld für eine maßgeschneiderte Nielsen-Studie oder ein AppAnnie-Abo auszugeben. Das kann man sich nur als ausgewachsener Publisher leisten.

 

Man muss wirklich in den Details graben

 

IGM: Teilen Publisher denn solche Zahlen mit den Studios?

Rappeneau: Das Hauptproblem ist das Machtungleichgewicht zwischen Publishern und Spielestudios. Natürlich hängt das von der Art der Beziehung ab. Manche Publisher teilen mit den Studios nicht einmal die genauen Verkaufszahlen. Wenn man mit einem Publisher verhandelt, ist das ein Nullsummenspiel. Der Publisher hat sehr wenig Interesse daran, Marktdaten mit dem Entwickler zu teilen, es sei denn, das ist im Vertrag klar festgelegt.

IGM: Wenn du recherchierst, trägst du Daten aus unterschiedlichen Quellen zusammen ...

Rappeneau: Ja, genau. Die Daten stammen aus unterschiedlichen Quellen, auch die Verfeinerungsmethoden unterscheiden sich. Deshalb muss man oft Querverweise verwenden, um die Konsistenz der Daten zu prüfen. Es gibt da große Unterschiede. Außerdem ist die Spieleindustrie bei PC und Konsolen sehr fragmentiert, in letzter Zeit ist auch noch die VR-Branche dazugekommen. Jedes dieser Segmente hat ein anderes Geschäftsmodell. Für einige Segmente, zum Beispiel das Mobile-Segment, hat man viele Daten – weil es von vorneherein digital first war und weil das gesamte mobile Ökosystem auf Daten basiert. Auf der Konsole hat man fast nichts, weil die Hersteller Walled Gardens errichtet haben. Nun, zumindest für an der Börse gelistete Unternehmen gibt es Finanzberichte. Man muss wirklich in den Details graben – je nach Markt, den man zuerst ansprechen will.

IGM: Wie bekommt man zuverlässige Daten über AAA-Produktionen?

Rappeneau: Für die hochkarätigen Spiele gibt es ja eigentlich Pressemitteilungen und Jahresberichte für Aktionäre – oder gelegentlich auch Leaks wie bei Epic vs. Apple. Normalerweise lassen sich die Einnahmen eines bestimmten Spiels mit verschiedenen Methoden teilweise rekonstruieren, zumindest auf dem PC und Mobilplattformen. Der Konsolenmarkt ist die größte Black Box. Bei Cross-Platform-Titeln muss man sich darauf verlassen, wie die Verkaufsverhältnisse auf anderen Plattformen sind. Aber auch das kann je nach Publishing-Strategie stark variieren. Im Grunde genommen haben also nur Publisher und Konsolenhersteller diese Daten. Aber in den anderen Teilmärkten kann man die Verkaufszahlen ungefähr schätzen – ob man nun Ubisoft oder ein kleines Indie-Studio ist.

 

Wir brauchen definitiv eine Art AppAnnie für PC und Konsolen

 

IGM: Welche Bezahlmodelle gibt es grundsätzlich bei Marktforschungsdaten?

Rappeneau: Normalerweise ist ein Teil der Daten frei zugänglich verfügbar – zum Beispiel Markttrends und Reports. Man bekommt ein paar Datenanfragen umsonst – und muss dann für den Rest zahlen. Bei Metriken kommt normalerweise ein Abo-Modell zum Einsatz. Man zahlt monatlich oder jährlich einen bestimmten Betrag, der auch von der Anzahl der bezogenen Module abhängt. AppAnnie ist ein so komplexes Produkt, dass man viele verschiedene Module beziehen kann. Marktforschungsunternehmen wie Nielsen oder Niko Partners haben eine maßgeschneiderte Preisgestaltung, die sie individuell verkaufen. Eine recht gute und gründliche Marktstudie kann zwischen 50.000 und 100.000 US-Dollar kosten.

IGM: Warum ist der chinesische Markt so schwer zu durchschauen?

Rappeneau: Ganz allgemein decken die fünf wichtigsten Marktforschungsunternehmen den chinesischen Markt noch nicht ab. Der Weltmarkt besteht aus einem kleinen Drittel USA, einem großen Drittel China – und dem Rest des Marktes, der sich auf alle anderen Regionen verteilt, der Großteil davon auf Europa. China ist ein stark reguliertes Land, es gibt dort ganz unterschiedliche Plattformen mit sehr unterschiedlichen Ökosystemen. Sie sind mobile first – und haben eine weitgehend geschlossene Wertschöpfungskette. Hier stößt meine Studie an ihre Grenzen – weil ich nur westliche Datenquellen nutze. China hat im Grunde genau die gleichen Quellen, aber eben auf Chinesisch. Die Daten sind auch sehr ähnlich. Einer meiner Datenwissenschaftler ist Chinese, er hat mir die verschiedenen Tools gezeigt. Aus China gibt es teils sehr genaue Daten, weil das Datenschutz-Niveau dort niedriger ist als in Europa und USA. Für einige Mobile Games erhält man sogar den Alias des Top-Spenders im Spiel.

IGM: Wer hat die besten Daten aus Asien?

Rappeneau: Da zählt Niko Partners wirklich zu den besten überhaupt. Sie sind extrem zuverlässig und in der Zusammenarbeit sehr angenehm. Ihr Social Community Manager – @Zhugeex auf Twitter – ist einer der führenden Game-Influencer weltweit. Für den asiatischen Markt ist Niko Partners also definitiv unverzichtbar. Sie sind auch sehr gut bei Themen wie asiatischer Regulierung, E-Sport und Streaming – vor allem in Korea und China. In Bezug auf den Westen ist Newzoo bei E-Sport ziemlich gut. Sully Gnome ist wichtig für Daten von Twitch, weil da wirklich viel E-Sport läuft. Und dann gibt es noch Tausende kleiner Agenturen, die einem da weiterhelfen können – aber eben kein wirklich große Agentur. Im Westen ist das größte Problem von E-Sport, dass damit – abgesehen von Riot und Blizzard – einfach kein Geld gemacht wird. Der weltweite Umsatz mit E-Sport beträgt – Spieleveröffentlichungen einmal ausgeklammert – eine Milliarde US-Dollar. Die Spieleindustrie insgesamt macht aber fast 200 Milliarden US-Dollar Umsatz. Es ist also einfach nicht genug Geld da, um nachhaltige, profitable Marktforschungsunternehmen für E-Sport zu gründen. Pandascore – von meiner Liste – ist eine französische Plattform, die bis jetzt überlebt hat. Aber es gibt ungefähr zehn andere Plattformen, die im E-Sport genau das Gleiche machen. Und alle müssen kämpfen.

 

Die Daten sind im E-Sport sehr fragmentiert

 

IGM: Was sind denn generell die wichtigsten Marktforschungsunternehmen für Games?

Rappeneau: Für Mobile ist das definitiv AppAnnie. Sie haben den größten Marktanteil und auch die größte Zahl an verfügbaren Metriken. AppAnnie existiert seit 2012 und ist definitiv das leistungsfähigste Unternehmen – auch wenn es ziemlich teuer und Indies sich das vielleicht nicht leisten können.

IGM: Warum ist AppAnnie so gut?

Rappeneau: AppAnnie zieht die Top 1000 der Apps heran: Also die am schnellsten wachsenden, die mit den meisten Downloads, die Top-Gratisspiele, die Top-Bezahlspiele und so weiter. AppAnnie hat Tausende von Partnerstudios, die ihnen genaue Zahlen liefern. Dann füllen sie die Lücken durch Interpolation. Als Anreiz für das Teilen der Daten – die in der Plattform-Ökonomie pures Gold sind – bietet AppAnnie den Partnern wahrscheinlich unter anderem ermäßigte Abo-Preise. Wir brauchen definitiv eine Art AppAnnie für PC und Konsolen. Das gibt es aber noch nicht, weil die öffentlich zugänglichen Rankings sehr unvollständig sind. Und möglicherweise wegen Vertraulichkeitsklauseln.

IGM: Welches Unternehmen ist führend bei globalen Übersichten?

Rappeneau: Für Daten zum globalen Spielemarkt ist wohl Newzoo das am meisten genutzte Marktforschungsunternehmen. Es eignet sich besonders für nicht-endemische Firmen, zum Beispiel aus dem Finanzsektor, weil die Metriken sehr zugänglich und schön präsentiert werden. Newzoo neigt allerdings dazu, den Markt ein wenig zu überschätzen. Allerdings habe ich vor sechs Monaten erlebt, wie sie den europäischen Markt vorgestellt haben – und da haben sie viele coole Einblicke gewährt. Ich denke also, dass Newzoo Marktführer bei Weltmarktdaten ist.

IGM: Wer liefert gute Streaming-Marktdaten?

Rappeneau: Streaming ist momentan wirklich das Herzstück des Spiele-Marketings. Darauf kann man nicht verzichten, zumindest nicht auf PC und Konsole. Meiner Meinung nach ist Sully Gnome die derzeit wichtigste Quelle für Daten-Streaming. Streaming-Daten stammen im Wesentlichen von Twitch. Wenn du wissen willst, ob dein Spiel erfolgreich ist, welches Spiel ihm am meisten ähnelt, wer die wichtigsten Influencer sind, wie sie mit der Community interagieren und so weiter – dann bekommst du diese Daten von Twitch und Sully Gnome.

IGM: Und beim PC?

Rappeneau: Für den PC-Markt ist Steam 250 die derzeit wichtigste Datenplattform. Die haben eine ganze Menge Daten – und sie konzentrieren sich auf die 250 Top-Spiele, also diejenigen, die umsatzrelevant sind. Auf Steam gibt es rund 80.000 Spiele – aber wenn man die kleinen Spiele nicht mitzählt, besteht der Markt im Wesentlichen aus 250 Spielen. Und das ist mehr als genug, um etwas über den Zustand des Marktes zu erfahren. Man erhält eine Momentaufnahme von dem, was gerade passiert – und auch von früheren Daten. Für Zukunftsprognosen ist Game Discovery meiner Meinung nach am wichtigsten. Sie haben jede Menge Auswertungen, Wishlists und Infos darüber, was in den nächsten zwei Jahren ansteht.

IGM: Was ist aus SteamSpy geworden?

Rappeneau: SteamSpy ist immer noch aktiv. Die hatten ja ursprünglich Tausende von öffentlichen Player-Profilen und wussten ganz genau, welche Art von Spielen die auf ihren Steam-Accounts hatten. Mittels Extrapolation konnten sie ein – auf drei Prozent – genaues Bild davon liefern, wie viele Spiele im Laufe der Zeit verkauft wurden. Aber dann hat Steam die öffentlichen Profile standardmäßig deaktiviert. Zu jener Zeit habe ich noch mit SteamSpy gearbeitet, um meine Datenwissenschaftsmodelle zu füttern. Die Genauigkeit von SteamSpy wurde über Nacht zerstört – sie fiel von 3 auf etwa 50 Prozent . SteamSpy hat also seine Schätzungen rausgenommen und schlägt bei den Sales jetzt nur noch eine gewisse Spanne vor. Aber die ist so breit, dass Finanzunternehmen sie nicht mehr brauchen können.

IGM: Wo holen die sich relevante Daten her?

Rappeneau: Finanzakteure werden immer wichtiger, weil derzeit viel Geld in der Spieleindustrie unterwegs ist. Meiner Meinung nach ist Pitchbook in puncto Finanzen – Aktien ausgeklammert – die beste Plattform. Via Pitchbook erfährt man, welche Firmen Geld in die Hand nehmen, wer diese Firmen kontrolliert, wie viele Angestellte sie durchschnittlich haben, wer ihre Hauptinvestoren sind, wer Fundraising betreibt, Investitionen tätigt und so weiter. Pitchbook ist die präziseste Plattform für M&A und Funding. Eine weitere wichtige Datenquelle ist übrigens Facebook. Denn wenn man ein Spiel entwickeln oder verkaufen will, muss man wissen, wen man dabei anspricht. Facebook bietet – sogar in der absoluten Basis-Version – ein hochgradig leistungsstarkes, segmentierendes Targeting-Tool. Das Tool ist wirklich spannend, es ist einfach zu bedienen – und man kann damit den Publikumsgeschmack, die Zielgruppengröße pro Land und pro Geschlecht herausfinden. Und einiges mehr.

IGM: Woher kommen verlässliche E-Sport-Daten?

Rappeneau: Normalerweise verwende ich den Jahresreport des französischen Spieleentwicklerverbandes. Das Hauptproblem ist, dass es auf globaler Ebene keinen wirklichen E-Sport-Verband gibt – weil die Macht bei den Publishern liegt. Die Daten sind im E-Sport also wirklich sehr fragmentiert.

IGM: Wie hilfreich sind beispielsweise GfK-Umfragen?

Rappeneau: Die GfK ist eines der bedeutendsten Marktforschungsunternehmen für Games in Europa. Da ich für eine Bank arbeite, bin ich kein Games-Professional und kann auf diese Daten nicht zugreifen. Sie werden aber definitiv von vielen genutzt. Das Hauptproblem ist, dass sie nur den großen Publishern zur Verfügung stehen – das bedeutet, nur eine geringe Anzahl Player hat zuverlässigen Zugriff auf diese Daten. Was Tools und Aggregierung betrifft, hinkt die GfK meiner Meinung nach etwas hinterher. Die GfK ist wirklich etwas für die gesamte Entertainment-Industrie – also auch für Kino, Musik und so weiter. Ich finde aber, dass Games inzwischen groß genug sind, um eigene Plattformen zu haben. Die GfK ist immer noch sehr wichtig und wird von vielen Leuten genutzt. Aber als Datenquelle ist sie ein bisschen veraltet.

IGM: Das klingt hart ...

Rappeneau: Die Games-Industrie benötigt spezielle Tools, weil sich die Umsätze nur sehr schwer aggregieren lassen. Es gibt digitale und physische Verkäufe, es gibt die Regulierung, es gibt ständig Änderungen an den Geschäftsmodellen. Das bedeutet, es ist sehr schwierig, die Umsätze zu rekonstruieren. Ich denke, Nielsen war dafür nicht spezialisiert genug. Ich bin mir aber ziemlich sicher, dass die größten börsennotierten Unternehmen – etwa Ubisoft – gelegentlich auch Nielsen als Bestätigung heranziehen. Nielsen ist ein großes Marktforschungsunternehmen – mit all den damit verbundenen Problemen.

IGM: Klingt nicht gerade begeistert ...

Rappeneau: Ich mag diese großen Unternehmen nicht wirklich und finde, dass ihre Tools nicht modern genug sind. Wenn man sich die vielversprechendsten Datenplattformen ansieht, die es gibt, dann sind das hauptsächlich Start-ups, die nach 2010 gegründet wurden – und die mit Digitalisierung der Games-Distribution groß geworden sind. (Achim Fehrenbach)

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