Dieser Entwickler hat Spiele-Nicht-Fertig-Machen zum Beruf gemacht

Spieleentwicklung ist ein Marathon, kein Sprint. Unzähligen Projekten geht nach einem motivierten Start die Puste aus. Ein deutscher Entwickler hat daraus eine Karriere gemacht.
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Macht Spiele (nicht fertig): Kevin Suckert (Quelle: Privat)

Kevin Suckert kann exakt benennen, ab welchem Moment er seine Spiele unfertig zurücklässt: „Wenn der Content anfängt.“ Damit ist der Entwickler aus Lüneburg nicht allein: Wenn die Grundidee eines neuen Videospiels steht, die ersten Mechaniken funktionieren, die finale Optik zu erahnen ist, endlich Spielspaß aufkommt – dann fehlen immer noch die Inhalte, die eine Spielidee zum Spiel machen. Unter Indie-Entwickler*innen kursieren sogar Memes über diese zähe Phase, in der sich besonders Solo-Devs lieber neuen Ideen zuwenden als Monate mit Leveldesign, Progressions-Systemen und Story zu verbringen.

Lernprozess zum Zuschauen
Suckert ist in sozialen Medien der Typ mit den vielen angefangenen Projekten und eine Art lebender Beweis für die abschreckende Wirkung der Content-Phase. Zu neuen Projekten postet er Eindrücke zwischen Greybox-Prototyp und polierter Demo bei X (ehemals Twitter) und Reddit. Spielideen, die auffällig oft Skateboards oder chaotische Physik beinhalten. Nur bringt er diese Spiele dann nie zu Ende. „Bei jedem Projekt, das ich anfange, denke ich mir: Das könnte irgendwie vielleicht mal irgendwo landen. Aber relativ schnell stellt sich dann raus: Nee, das ist viel zu viel Arbeit.“

 

Nee, das ist viel zu viel Arbeit

 

Dutzende Prototypen hat Suckert bereits zurückgelassen. Aber er trauert ihnen nur bedingt nach, sondern sieht sie eher als Lernprozess und Inspiration für andere. „Wenn ich meine eigenen Projekte einstampfe, ist das nicht frustrierend – dann stampfe ich sie wahrscheinlich eh aus Frust ein.“ Anders sieht es bei den Spielen aus, an denen er hauptberuflich als Game Developer bei den britischen Bossa Studios arbeitet. „Das frustet dann schon, wenn man quasi ein Jahr richtig umsonst gearbeitet hat“, sagt er. Dass er im Vergleich mit Kolleg*innen ungewöhnlich viel Angefangenes herumliegen hat, glaubt er nicht. Ungewöhnlich ist eher, wie viele Einblicke in diesen Prozess die Öffentlichkeit bei ihm zu sehen bekommt. „Ich zeige die Sachen halt super frühzeitig. Selbst wenn da nur irgendwelche Würfel durch die Gegend rennen, denke ich mir: Ja gut, sieht gut aus, warum nicht?“

Bürostuhl-Shooter mit Identitätskrise
Weit mehr als herumrennende Würfel zeigt ein kurzer Clip aus Suckerts Spiel Last Man Sitting, der 2017 über den engeren Indie-Kreis hinaus viral geht. Anzugträger auf Bürostühlen katapultieren sich darin mit dem Rückstoß von Schrotflinten durch die Gegend. Die Parodie auf den Battle-Royale-Hype trifft einen Nerv und landet sogar auf dem Radar von internationalen Gaming-Magazinen wie Kotaku und PC Gamer.

Suckert will die unverhoffte Aufmerksamkeit nutzen und entwickelt Last Man Sitting weiter. Fast sechs Jahre später ist das Spiel aber immer noch nicht erschienen. Heute bezeichnet sein Entwickler es als „Paradebeispiel von Kaputtgedacht“: „Ich hab lange darüber nachgedacht, warum die Leute auf dem Stuhl sitzen und sich abknallen und bin dann zu dem Ergebnis gekommen, dass das eigentlich egal ist.“

Von der ursprünglichen Battle-Royale-Idee ist in neueren Clips nichts mehr zu sehen. Das Gameplay erinnert heute eher an Hotline Miami, aber als Skatespiel auf Bürostühlen. Dennoch oder gerade deshalb hadert Suckert mit der Ausrichtung seines Spiels. Aktuell will er Last Man Sitting noch nicht für tot erklären und deutet an, dass er an Möglichkeiten arbeitet, die Entwicklung fokussiert fortzusetzen. Vorerst reiht sich das Spiel aber in seinen langen Katalog unveröffentlichter Titel ein.

Ich habe mich noch nie irgendwo beworben

Nichts veröffentlicht, trotzdem noch da
„Ich bin jetzt rund 15 Jahre in der Spielebranche und habe nichts released. Weder privat noch Im-Auftrag-Von“, fasst Suckert seinen aktuellen Karrierestatus zusammen. Ganz stimmt das nicht, aber Zuarbeiten wie „die Hintergründe von Tabellen“ in Browserspielen mag er nicht mitzählen. Dass er seinen Lebensunterhalt trotzdem mit Spieleentwicklung bestreiten kann, hängt untrennbar mit seinen unfertigen Projekten und dem Willen, sie öffentlich zu zeigen, zusammen. Die Reichweite, die er damit generiert, bringt zwar kein Geld, aber beruflich verwertbare Aufmerksamkeit. „Ich habe mich noch nie irgendwo beworben“, sagt er.

Über Reddit wird Suckerts aktueller Arbeitgeber Bossa Studios auf ihn aufmerksam. „Deren Boss hat mich über drei Jahre lang genervt. Willst du nicht bei uns anfangen?“ Suckert arbeitet damals für das Hamburger Studio InnoGames und schlägt das Angebot zunächst mehrfach aus. Letztlich macht er den Sprung 2018 aber doch, fängt bei Bossa als „fester Freelancer“ an und findet dort zeitweise eine Position, die perfekt zu seinem Faible für Neuanfänge passt.
Bossa Studios ist bekannt für physikbasierte Comedy-Spiele mit schrägen Spielkonzepten wie den Surgeon Simulator oder I Am Bread. Um Ideen zu generieren, veranstaltet das Studio regelmäßige Game Jams, in denen die Entwickler*innen in kurzer Zeit spielbare Minimal-Prototypen zusammenbasteln. Teilweise erscheinen diese Spiele als Demos auf einer eigenen Website, vieles aber auch nicht.

Zum Wegwerfen sind die Ideen zu schade. Kevin Suckerts Aufgabe ist deshalb, einen zweiten Blick auf die Prototypen zu werfen und Verkaufspotenzial zu erkennen. Denn während das Erstellen und Auswerten von Prototypen für neue Projekte bei Spielestudios jeder Größe nicht unüblich ist, will Bossa die Ideen nicht alle selbst zu Ende bringen, sondern auch an fähige andere Teams weitergeben.

Fünf Minuten pro Spiel
Zusammen mit einem Producer und einem weiteren Game-Designer wird Suckert so zum Prototypen-Archäologen. „Es gibt da eine riesige Excel-Liste und ein Dateiverzeichnis, wo der Quellcode und das Spiel drin sind. Dann haben wir uns fast jedes Spiel heruntergeladen, angeguckt, und versucht herauszufinden, ob da was Cooles bei ist.“
Das Aufarbeiten der Spiele ist nicht nur reines Sichten, sondern auch Rekombination. „Manchmal haben wir gar nicht die Idee an sich genommen, sondern es war nur das Setting oder eine spezielle Sache cool“, sagt er. „Da gab es ein Jump'n'Run, in dem du deine Fähigkeiten nach und nach verlierst, wenn du sie benutzt – du kannst zum Beispiel nur zehnmal springen. Daraus haben wir dann ein komplett neues Spiel gebaut, das vielleicht fünf Prozent vom Original benutzt hat.“
Die Entscheidung, ob eine Spielidee etwas taugt, fällt schnell und zum Großteil nach Gefühl. „Fünf Minuten pro Spiel, länger gingen die auch gar nicht. Da hat man schon schnell gemerkt, ob das cool ist. Aufschreiben, nächstes.“ Alle zwei Wochen entsteht auf diese Weise ein neuer Prototyp in dezent chaotischer „Start-up-Atmosphäre“, wie Suckert es im Nachhinein nennt. „Wir haben uns teilweise ziemlich angekeift, weil wir so im Thema drin waren.“

Hype-Test bei Social Media
Etwa ein Jahr lang arbeitet das Team den Katalog von Bossa durch. Dann verschiebt sich der Fokus: Die Abteilung wächst auf vier Personen an und soll nun eigene Prototypen von Grund auf neu entwickeln. „Was ganz Grobes, ohne Menü, einfach irgendwo rumrennen, fokussiert auf die Steuerung, das Setting und das Spielgefühl.“ Dazu kommt auch erste Marktforschung. Demos bei Steam und Trailer bei Reddit helfen dem Team dabei, Spieldaten zu sammeln und zu schauen, „ob die Leute darüber reden.“

Ein Prototyp des 2021 erschienenen Physik-Adventures I Am Fish findet auf diese Weise erste Fans. Der Umweg über das bekannte Terrain Social Media hilft Suckert außerdem, ein privates Projekt bei Bossa zu platzieren: den Pigeon Simulator, ein Comedy-Spiel über Tauben, die Taubendinge tun. „Erst wollte das keiner haben, dann hab ich's bei Reddit gepostet“, sagt er. Und 131.000 Upvotes später „wollte es Bossa unbedingt haben.“ Bossa übergibt den Titel später an den Publisher TinyBuild, wo Pigeon Simulator heute in Entwicklung ist. Insgesamt gesehen ist die Erfolgsquote der Prototyping-Abteilung allerdings gering. Suckert schätzt, dass über die Jahre „bestimmt 100 Spiele“ durch die Hände des kleinen Teams gegangen sind. „Aus zweien ist was geworden, bei einem dritten weiß ich gar nicht, wo das gelandet ist.“

 

Tauben, die Taubendinge tun

 

Disziplin statt kreativem Chaos
Kevin Suckert arbeitet mittlerweile nicht mehr als Prototyper, sondern als gewöhnlicher Game Developer bei Bossa an größeren Projekten mit. Die „Hauptsache, es funktioniert erst einmal“-Haltung der Prototypen-Abteilung muss routinierter Exaktheit weichen. „Jetzt muss ich immer schön aufpassen, dass alles sauber programmiert ist“, sagt er. „Da wird auf jede Zeile geguckt.“ Das kreative Chaos war Suckert lieber, er hat aber Hoffnung, dass er irgendwann noch einmal zurück zum Prototyping findet.

Für das Studio waren Suckerts Erfahrungen im schnellen Skizzieren von Spielideen offensichtlich eine wertvolle Qualifikation. Allerdings lässt sich das auch anders sehen: „Ich hatte mal ein Gespräch bei Mediatonic, die Fall Guys entwickelt haben“, erzählt Suckert. „Die mochten mich gar nicht, weil ich so viel nicht fertig gemacht habe.“
Er hofft, dass sich an diesem Zustand bald etwas ändert und es seine aktuellen Projekte bei Bossa über die Ziellinie schaffen. Zusätzliche Spielwiesen sucht er sich weiterhin privat. „Momentan arbeite ich an einem Skateboard-Downhill-Spiel“, sagt Kevin Suckert. „Und wie bei jedem neuen Projekt habe ich da jetzt ein supergutes Gefühl.“ Videos davon gibt's bereits bei X. [David Albus]

IGM 13/23
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