Interview mit den Macherinnen der neuen Cyberpunk-2077-Doku

Am 20. September debütierte „Inside the Game – Cyberpunk 2077: Phantom Liberty“ in der Mediathek der ARD. In der rund 75-minütigen Dokumentation zeichnen Mariska Lief und Agata Pietrzik die Geschichte von Cyberpunk 2077 nach: Den schwer verbugten Launch, die Reaktionen der Community und – als Mittelpunkt der Doku – die fieberhafte Arbeit an der Expansion Phantom Liberty, die am 26. September erschien. Ein Interview.
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Das Filmteam (v.l.n.r.): Regisseurin Agata Pietrzik, Kameramann David Elias Kar, Toningenieur Enrico Leube und Regisseurin Mariska Lief (Copyright: Hessischer Rundfunk)

IGM: Mariska, Agata, für den Doku-Trailer habt ihr die Szene aus dem Katzencafé in Warschau gewählt. Warum gerade die?

Agata Pietrzik: Wir hatten ein Interview mit Patrick Mills vereinbart, dem Franchise and Lore Designer von CD Projekt Red. Wir haben ihn gefragt, wo er das machen möchte – und er hat das Katzencafé vorgeschlagen, weil er da sehr gerne hingeht. Im Interview ging es unter anderem um die Frage, welche Parallelen unsere Welt mit der Cyberpunk-Dystopie hat. Und Patrick sagte dann sinngemäß: Schaut euch diese Katzen an. Sie sind extra für uns gezüchtet worden, ihre Gene sind eigentlich total abgefuckt – aber sie sind auch irgendwie wunderschön und liebenswert. Wir finden, dass das eine sehr gute Metapher für die Cyberpunk-Welt ist. Sie ist irgendwie krass abgefuckt, aber sie ist auch unglaublich sexy.

IGM: An welche Zielgruppen richtet sich eure Doku? Das Drama um den ursprünglichen Release wird das Mainstream-Fernsehpublikum ja nicht unbedingt mitbekommen haben ...

Pietrzik: Wir finden es wichtig, auch der Generation unserer Eltern – also 60 plus – einen Zugang zum popkulturellen Phänomen Games zu ermöglichen. Wir hoffen, dass uns das mit der Doku gelungen ist – und dass auch Leute, die eigentlich nichts mit Games zu tun haben, etwas darüber erfahren. Zum Beispiel über die Ästhetik von Games, aber auch darüber, was für ein riesiges Business das ist. Es geht ja nicht nur um das Spiel allein – es geht auch ums Geld, um die Berufswelt. Das sind Themen, die auch andere Generationen und Zielgruppen ansprechen.

Mariska Lief: Natürlich gibt es auf YouTube jede Menge Gaming-Content. Ich glaube aber, der große Vorteil der Öffentlich-Rechtlichen ist, dass wir tatsächlich mit einem größeren Budget und sehr journalistisch und kritisch an solche Themen herangehen können. Wir sind sehr nah an den Protagonisten dran, aber wir können die Geschichte des Spiels auch sehr analytisch und dokumentarisch abbilden. Ich glaube, so lassen sich viele Menschen für das Thema interessieren, die vorher vielleicht noch nie mit Gaming zu tun hatten. Den Leuten, die sich schon mit dem Thema auskennen, bieten wir vielleicht noch einen anderen Blickwinkel, einen intimen und exklusiven Blick auf die Personen, die Spiele entwickeln.

 

Themen, die auch andere Generationen und Zielgruppen ansprechen

 

IGM: Kurz ein paar Hintergründe zur Doku. In welchem Zeitraum fanden die Dreharbeiten statt?

Lief: Agata und ich sind im März dieses Jahres das erste Mal nach Warschau gereist, um dort zu drehen. Und dann haben wir CD Projekt Red jeden Monat besucht oder irgendwohin begleitet, zum Beispiel nach Los Angeles oder nach Köln zur gamescom. Mit dabei waren natürlich unser Kameramann und der Tonkollege. Wir sind also ein vergleichsweise kleines Fernsehteam.

IGM: Wie hat CD Projekt Red auf eure Idee einer Doku reagiert?

Lief: Die waren von Anfang an recht offen, aber natürlich auch ein bisschen skeptisch. Im Vorfeld gab es sehr viele Gespräche, um auszuloten, was überhaupt geplant ist. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte es ja noch keine Doku gegeben, bei der CD Projekt Red nicht die volle Kontrolle hatte. Unsere Vorbedingung war, komplett unabhängig berichten zu dürfen. Darauf haben sie sich eingelassen – wir hatten sehr freie Hand! Ich glaube, dass sich über die vielen Gespräche hinweg ein großes Vertrauensverhältnis aufgebaut hat, auch mit den Protagonisten selbst. Ich finde es bemerkenswert, wie offen die Leute von CD Projekt Red uns gegenüber waren. Wir hatten das Glück, dass uns der Pressesprecher Fabian Döhla da unterstützt hat. Er hat CD Projekt Red vermittelt: „Hey, die betreiben kritischen Journalismus. Das wird eine gute Doku und ein Türöffner für das ARD-Programm sein.“

IGM: Was sind aus eurer Sicht die wichtigsten Themen der Doku?

Pietrzik: Einerseits das Game selbst, andererseits aber auch die Arbeitswelt. Jeder Mensch, der kreativ unter Druck arbeitet, wird sich darin irgendwie wiederfinden. ZuschauerInnen, die im Gaming nicht so drin sind, werden vielleicht nicht jedes Wort verstehen, zum Beispiel „Quest“ oder „Bug“. Aber sie werden diese Emotionalität verstehen. Unter welchem Druck die Protagonisten stehen, was sie leisten müssen, wie es ist, in einem solch riesigen Konzern zu arbeiten. Diese Emotionen rüberzubringen war unser wichtigstes Anliegen. Unsere Protagonisten, zum Beispiel der Quest Director Pawel Sasko, arbeitet seit langem an der Cyberpunk-Welt – inklusive der Expansion sind es bei ihm inzwischen acht Jahre! So viel Zeit in ein Projekt zu stecken, ist für viele Menschen nur schwer vorstellbar. Und natürlich hängt an dem Projekt auch ganz viel dran. Wenn ich mir vorstelle, ich würde so viele Jahre in ein Projekt investieren ... wie viel Lebenszeit das ist! Und wenn dann so etwas passiert wie beim Release im Jahre 2020, dann macht das etwas mit den Menschen. Das ist wahrscheinlich unfassbar schwer zu ertragen. Ich glaube, das wird in der Doku auch deutlich, wie wichtig die Expansion für die Protagonisten ist. Dass sie jetzt nochmal zeigen können, dass der Release des Hauptspiels nicht das Ende der Geschichte war, sondern dass sie alles in die Expansion hineingelegt haben. Wir wollten also vor allem zeigen, was die Protagonisten da durchmachen.

 

Diese Emotionen rüberzubringen war unser wichtigstes Anliegen

 

IGM: Nach welchen Kriterien habt ihr die Protagonisten ausgewählt?

Lief: Es war uns wichtig, Menschen zu begleiten, die schon sehr lange Teil dieses Unternehmens sind. Die schon bei The Witcher dabei waren und miterlebt haben, wie so ein kleines Unternehmen so groß geworden ist. Die selbst den ganzen Hype um Cyberpunk 2077 miterlebt haben und natürlich auch alles, was danach kam. Uns war es auch super wichtig, den Studiochef Adam Badowski vor die Kamera zu bekommen. Das war nicht so einfach, da mussten wir langen bohren.

Pietrzik: Wir haben da wirklich sehr lange gebohrt. Wir haben wochenlang auf Antwort gewartet, mehrere Interview-Termine wurden abgesagt und wir dachten schon: „Okay, den kriegen wir jetzt irgendwie nicht.“ Michael Graf von der GameStar hat Adam sogar als „Phantom“ bezeichnet! Weil Adam so gut wie keine Interviews gibt. Wir hatten das riesige Glück, dass er uns dann doch für ein Interview zugesagt und auch wirklich viel Zeit eingeräumt hat. Er hat uns viele Einblicke in sein Leben gegeben. Wir wollten auf jeden Fall mit jemandem von der Führungsebene sprechen – nämlich darüber, warum der Release erst verschoben wurde und dann doch so ein fehlerhaftes Spiel veröffentlicht wurde.

IGM: So viel Offenheit ist ja eine bemerkenswerte Ausnahme, wenn man sich die übliche PR von großen Spielefirmen anschaut ...

Lief: Ja, das ist tatsächlich bemerkenswert. Andere Studios sind bei solchen Sachen total verschlossen. Wenn bei anderen Studios Interviews stattfinden, wird oft ganz genau ausgewählt, wer vor die Kamera darf und wer was sagt. Das hatten wir bei unseren Dreharbeiten nicht. Wir konnten unsere Protagonisten selbst auswählen und die Fragen stellen, die wir stellen wollten. Wir waren auch bei vielen wichtigen Momenten mit dabei, zum Beispiel bei der Presse-Preview in L.A. Da wusste man vorher nicht, was passiert, was da möglicherweise alles schiefgeht.

IGM: Was können andere Studios daraus lernen? Vielleicht, dass Offenheit nicht unbedingt eine Schwäche sein muss?

Lief: Auf jeden Fall! Ich glaube, dass Transparenz und Offenheit immer ein Gewinn sind. Viele Studios verbreiten ja hauptsächlich PR-Videos und sind mit Informationen ansonsten sehr zurückhaltend – das gilt auch für andere Unternehmen, zum Beispiel Fußballvereine. Ich glaube aber, dass das Publikum das relativ schnell durchschaut und sich wünscht, dass Menschen zu ihren Fehlern stehen und offen darüber reden. Niemand ist perfekt! Dass Menschen Fehler machen, ist normal. Aber darüber zu reden und auch zu erklären, warum gewisse Dinge so passiert sind – das führt zu Transparenz und langfristig auch zu Verständnis.

 

Eine Herausforderung war, für unsere Doku die richtige Bildsprache zu finden

 

IGM: Welche Herausforderung gab es bei den Dreharbeiten sonst noch?

Pietrzik: Eine Herausforderung war, für unsere Doku die richtige Bildsprache zu finden. Bei so einem Thema sitzen die Leute ja ständig am Computer und arbeiten – und das sind eigentlich keine so starken Bilder. Ich finde aber, dass es uns zusammen mit unserem Kameramann David Kar sehr gut gelungen ist, daraus eine ästhetische Bildsprache zu entwickeln – und das Gefühl von Cyberpunk zu transportieren.

IGM: Leuchtende Monitore, viel Dunkelheit ... die nächtlichen Straßen von Warschau, die ja eigentlich gar nicht so cyberpunkig sind, aber in eurer Doku doch irgendwie so rüberkommen ...

Pietrzik: Genau. Es hat auch ständig geregnet, als wir in Warschau gedreht haben. Das war für uns natürlich ein Glücksfall.

IGM: Ihr habt den Ehrgeiz dokumentiert, den die Protagonisten hatten, etwas Besseres abzuliefern, es der Welt noch einmal zu zeigen. Wobei das natürlich ganz gut zu dem passt, was das Unternehmen selbst kommunizieren möchte – nach dem Motto: Wir können es noch! Wie schafft man es als FilmemacherIn, so etwas abzubilden, ohne selbst Teil des Hypes zu werden?

Lief: Das ist natürlich eine Frage, mit der wir uns als Journalistinnen und Filmemacherinnen tagtäglich beschäftigen. Auf der einen Seite wollen wir ganz nah an den Protagonisten dran sein und ihre Emotionalität zeigen. Aber auf der anderen Seite wollen wir natürlich auch kritisch über die Dinge berichten. Ich glaube, es ist uns in der Doku gelungen, diese Widersprüchlichkeit und Ambivalenz zu zeigen. Dieses Leid, das die Protagonisten ertragen mussten. Aber auch die Dinge, die man total kritisch sehen sollte, zum Beispiel den Crunch vor dem Release. Oder auch die Tatsache, dass das Cyberpunk-Genre kapitalismuskritisch ist, das Spiel aber von einem hyperkapitalistischen Unternehmen produziert wird. Ich hoffe, dass diese Widersprüche letztendlich bei den ZuschauerInnen hängenbleiben.

Pietrzik: Ich glaube, dass man diese Ambivalenz bei den Protagonisten wirklich spürt. Nicht unbedingt, dass sie total zerrissen sind - aber dass sie diesen alltäglichen Widerspruch in ihrer Arbeitswelt bemerken. Ich glaube, das ist etwas, worin sich viele Menschen wiederfinden. Oder eben das Thema „Crunch“, von dem Mariska schon gesprochen hat. Die Familien leiden darunter, manche EntwicklerInnen haben oder hatten jahrelang Fernbeziehungen und haben wegen der Arbeit kaum Zeit, ihre Familien zu sehen. Uns ist es deshalb auch nicht besonders schwergefallen, die Distanz zu wahren. Einfach deshalb, weil die kritischen Aspekte dieser Arbeitswelt sehr deutlich zu erkennen sind.

IGM: Der Lore Designer Patrick Mills hat die Ambivalenz in der Doku ja auch ganz gut auf den Punkt gebracht, als er Audrey Lorde zitierte: „Die Werkzeuge des Meisters werden niemals das Haus des Meisters abreißen.“

Pietrzik: Genau. Oder zum Beispiel auch, dass der Level-Design-Leiter Miles Tost von seinen Panik­attacken erzählt hat. Du erfährst über die Protagonisten, wie sehr ihre Gesundheit und ihr Familienleben leiden. Gleichzeitig haben wir auch die Außenperspektive dazugeholt – wir haben GamerInnen und JournalistInnen befragt und die Dinge von ihnen einordnen lassen. Wenn man Innen- und Außenperspektive zusammenbringt, dann erhält man – glaube ich – ein ausgewogenes Bild.

IGM: Eure Doku wurde auf Social Media verschiedentlich dafür kritisiert, dass bestimmte Dinge nicht ausreichend von externen Stimmen eingeordnet wurden – zum Beispiel die Problematik von Crunch. Was sagt ihr dazu?

Lief: Wir wollten mit unserer Doku eine Innenperspektive ermöglichen. Im Film werden wie gesagt mehrfach die Auswirkungen von Crunch bei den EntwicklerInnen spürbar. Was bedeutet es für das Privatleben, für die Familie, für die Gesundheit? Gleichzeitig sieht man aber auch, wie hart die EntwicklerInnen jetzt an der Expansion arbeiten. Als Pawel in L.A. einen Tag vor der Demo-Präsentation mit einem Bug zu kämpfen hat, sagt er sogar, dass er zur Not die ganze Nacht spielen wird, solange wie nötig eben. Dass Menschen crunchen, hat auf der einen Seite mit den Strukturen in der Firma zu tun, aber auch damit, dass Menschen das internalisiert haben. An den Strukturen hat CD Projekt Red in den letzten Jahren einiges verändert. Gegen die Internalisierung vorzugehen ist aber ein sehr langer Prozess. Wir wollten also den Fokus darauf legen, wie die EntwicklerInnen das selbst erlebt haben – und was sie daraus gelernt oder auch nicht gelernt haben.

IGM: Habt ihr überlegt, die Reaktionen auf den DLC-Release mit in die Doku zu nehmen? Letztendlich läuft ja alles auf die große Frage hinaus: Klappt es diesmal?

Lief: Wir haben darüber nachgedacht, sind aber letztendlich zu dem Entschluss gekommen, dass es für unsere Doku gar nicht so entscheidend ist, diese Reaktionen mitzunehmen. Wir wollten ja vor allem einen Blick hinter die Kulissen ermöglichen, einen Einblick in die Gaming-Entwicklung und die Arbeitsstrukturen solcher Unternehmen. Ob mit dem Release der Expansion nun tatsächlich die Versöhnung mit der Community gelingt, ist etwas, das wir gerne offen halten wollten.

IGM: Das deutsche Fernsehen hat sich in der Games-Berichterstattung jahrelang nicht mit Ruhm bekleckert. Ist die Bereitschaft der Öffentlich-Rechtlichen inzwischen gewachsen, Games-Themen differenzierter darzustellen?
 

 

Was bedeutet es für das Privatleben, für die Familie, für die Gesundheit?

 

Lief: Ich würde sagen: ja. Das liegt zum Teil an der Strategie der Öffentlich-Rechtlichen, mehr aufs Digitale und auf die Mediathek zu setzen. Dort können wir ein anderes Publikum erreichen als beispielsweise im Ersten, das schon eine deutlich ältere Zielgruppe als die Mediathek hat. Dementsprechend finden jetzt popkulturelle Phänomene in der Mediathek viel mehr Platz. Und ich glaube, dass Spieleentwicklung und Gaming dort künftig immer wichtigere Themen werden.

Pietrzik: Das denke ich auch. Bei den Öffentlich-Rechtlichen diskutieren wir viel über unseren Kulturbegriff. Es gibt da einen sehr traditionellen Kulturbegriff – aber wir versuchen, den jetzt weiter und diverser zu fassen. Das ist für uns ein wichtiges Ziel.

IGM: Phantom Liberty zählt zu den prominentesten Releases des Jahres, CD Projekt Red ist eines der bekanntesten Studios der Welt. Würde eine solche Doku auch funktionieren, wenn sie sich um ein deutsches Indie-Studio dreht?

Lief: Klar, das kann ich mir gut vorstellen. Das sind dann eben weniger EntwicklerInnen, die an dem Projekt sitzen, aber vielleicht geht es bei denen auch um alles. Die sitzen auch mehrere Jahren an einem Projekt und setzen alles auf eine Karte. Ich glaube, auch da gibt es sehr tolle, große Geschichten zu erzählen. Und es wäre natürlich auch toll, über den Spiele-Produktionsstandort Deutschland zu berichten. (Achim Fehrenbach)

IGM 13/23
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