Kommentar Robert Bannert: Kirby kommt … auf die Xbox?

Wenn Big M Big N will: Zwei Buchstaben, die im Alphabet direkt hintereinander kommen und gerne mal verwechselt werden – aber als Anfangsbuchstaben zwei der wichtigsten Spielefirmen könnten sie unterschiedlicher kaum sein. Und genau deshalb will das Big M wohl das nicht ganz so bigge N. IGM-Autor Robert Bannert über ein Szenario mit (Horrofilm-)Potential.
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IGM-Autor Robert Bannert (zum ersten Mal ein- und ausgeatmet am 2. April 1974) ist Daddel-Journalist seit 1994 und frisst Knödel lieber, als dass er sich von ihnen fressen lässt

Der Grusel-Knödel
Was ist das Erste, an das wir denken, wenn der Name Nintendo fällt? An schnauzbärtige Latzhosen-Klempner, die Schildkröten platt hüpfen? An Weltraum-Amazone Samus Aran, wie sie sich mit ausgestrecktem Blaster-Arm durch außerirdische Metroidvania-Labyrinthe ballert und rätselt? Oder an Mutanten-Knödel Kirby, der gierig seine Feinde verschlingt, um sich dann ihre Fähigkeiten anzueignen – und der im Grunde brutalen Pixel-Predatorismus betreibt?

Zugegeben: Ja, das ist eine etwas eigenwillige Verknüpfung mit dem Namen Nintendo – und vielleicht nicht unbedingt diejenige Erwähnung, die einen Konzern-PRler Verzückungsschreie ausstoßen lässt. Aber immerhin ist es eine. Genauso wie unzählige, manchmal krude Comics, Gags und Internet-Memes, die effektvoll belegen, dass Nintendos Charaktere und Spiele-Marken sich in den Köpfen der Fans längst verselbständigt haben. Etwas, das nur passiert, wenn man als ein Teil der Popkultur nicht mehr wegzudenken ist. Muss man erstmal hinkriegen. Nicht umsonst gab es schon Ende der 90er-Jahre Journalisten, die erkannt haben wollen: „Pikachu ist größer als Micky Maus“. Kurzum: Unsere Gedanken und Erinnerungen an Nintendo sind geprägt von großartigen Spielerlebnissen, die sich zwar über die vielen Jahre oft wiederholt haben, denen pfiffige Designer aber so geschickt neue Gameplay- und Grafik-Dreher verpassen, dass sie uns nicht wie bloße Wiederholungstaten, sondern frische Erfahrungen vorkommen.

Denn Nintendo ist heutzutage zwar nicht besonders gut darin, neue Marken zu etablieren – aber wenn es um die Pflege ihrer bereits bekannten Franchises geht, dann macht ihnen so schnell keiner was vor. Großartige Remakes, Re-Releases in verschiedenster Form sowie natürlich Neu-Interpretationen und Fortsetzungen bekannter Stoffe, die trotzdem nie wie alter Kaffee schmecken: In diesen Disziplinen ist Nintendo unangefochtener König. Denn: Charaktere sind im Zweifelsfall stärker als Spielmaschinen mit imposanten Performance-Specs.

 

Charaktere sind stärker als Spielmaschinen

 

Macintosh-Masterchief
Probieren wir das „An was denkst Du, wenn … ?“-Spielchen jetzt doch mal an Microsoft aus. Ja, auch hier zucken uns ein paar Erinnerungen durchs Hirn. Fallen uns spontan Beriebssysteme, technische Spezifikationen, die Verbreitung von Online-Lösungen und vor allem solche Spiel-Erfahrungen ein, die wir zwar innerhalb einer Microsoft-Umgebung gemacht haben, die aber selten wirklich eine Errungenschaft des Xbox-Herstellers waren. Selbst der „Halo“-Masterchief ist keine Microsoft-Marke im ursprünglichen Sinne, sondern ein Spross des einst auf Macintosh-Spiele spezialisierten Software-Hauses Bungie. Das konnte durch „Halo“ die Aufmerksamkeit des damals erst angehenden Konsolen-Herstellers Microsoft wecken. Weil der für seine erste Xbox nach einem Aushängeschild suchte. So kam es, dass der ursprünglich für PC und Mac entwickelte Masterchief zuerst über die Xbox sprintete – und erst zwei Jahre später von Gearbox für die Rechenknechte umgesetzt wurde, für die man ihn ursprünglich überhaupt erst entwickelt hatte.

Momentan erleben wir diesbezüglich eine Art Déjà vu: Denn auch solche Hersteller werden bald ihre Release-Politik anpassen, die Microsoft entweder kürzlich gekauft hat oder erst noch übernehmen wird. Weg von einer Multiplattform- und hin zu einer Windows- sowie Xbox-only-Strategie. Mit einer Ausnahme: Obwohl es im Moment ganz danach aussieht, als hätten die Kartellwächter den 69 Milliarden Dollar schweren Microsoft-Activision-Deal durchgewinkt, musste man doch ein Zugeständnis machen: nämlich das Versprechen abgeben, „Call of Duty“-Spiele auch weiterhin für PlayStation-Konsolen zu veröffentlichen. Immerhin.

Hinter all dem steht die Erkenntnis, dass Microsofts Spezialität keine Marken, Charaktere oder „Helden zum Anfassen“ sind – sondern vergleichsweise anonyme IT-Pakete und im Hintergrund ablaufende Strukturen wie Online-Lösungen. Alles Produkte, die Kunden oft erst dann bewusst wahrnehmen, wenn sie mal wieder nicht funktionieren. Weshalb IT-Konzerne unter „Otto-Normal-Usern“ meist entweder gar keinen oder aber einen eher schlechten Ruf genießen. Für einen Hersteller, der im Marken-geprägten Spiele-Kosmos punkten möchte, sind das denkbar schlecht Voraussetzungen: Einerseits ist der Spielemarkt eine Sphäre, die er auf Dauer kaum ignorieren kann. Andererseits handelt es sich um eine Domäne, die der IT-Riese nur schwer (be)greifen kann. Weil sie untrennbar mit der Sorte Leidenschaft und Emotion verknüpft ist, die einem Anbieter nüchterner Software- und Business-Lösungen fremd ist. Windows, Microsoft Office & Co. müssen vor allem eins: funktionieren. Spiele dagegen – die sind ebenso wie ihre Zielgruppe oft unberechenbar.

 

Spiele sind wie ihre Zielgruppe: oft unberechenbar

 

Die Übernahme-Orgie beginnt
Also fängt man damit an, sein beträchtliches Firmenkapital einzusetzen, um die fehlenden Kompetenzen einzukaufen. Und im Grunde ist das nichts Verwerfliches: Auch Nintendo und Sony haben nicht als Spiele-Entwickler und Konsolen-Hersteller angefangen. Während der eine schon in grauer Konzern-Vorzeit Spielkarten an Dinosaurier verkaufte, hat der andere Walkmans, Stereoanlagen und Fernsehgeräte für Höhlenmenschen gemacht. „Braune Ware“ also. Das ist zwar beides nicht gerade Disneyworld, aber immerhin eine Produkt-Palette, die emotionaler aufgeladen ist als Betriebssysteme und Office-Produkte. Und vermutlich auch der Grund dafür, dass Sony seine erste PlayStation vor allem über die Coolness-Schiene vermarktet hat. Und seine Konkurrenten mit Lifestyle-Hipness zu attackieren versuchte.

Microsoft dagegen betritt den Konsolen-Ring Anfang 2002 fast ohne jede Art von Unterhaltungs-Image. Was man allerdings hat, das ist eine Menge Geld – darum fängt man zielgerichtet damit an, das einzukaufen, was man braucht. Für den frühen Xbox-Kunden ergibt sich dadurch eine erfreulich reichhaltige Produkt-Palette, die sich auf so ziemlich allen Terrains des Spielemarkts versucht: von japanischen Rollenspielen über ehrgeizige Experimente wie die „Fable“-Reihe bis hin zu der Sorte Ego-Shooter, mit der sich Konsolen bis dahin meist schwergetan haben.

Doch die eigentlichen Errungenschaften der Marke Xbox laufen im Hintergrund und sind technischer sowie systemischer Natur: Microsoft macht Festplatten und Online-Shops auch im Konsolen-Bereich zum Standard. Als Sony 2007 seine dritten PlayStation bringt, hat Big M auf diesem Gebiet schon einen gewaltigen Vorsprung – ein Umstand, der Sony fast die Marktführerschaft gekostet hätte. Wären da nicht die überragenden Produkte aus dem Hause Naughty Dog gewesen, die schließlich verlorenen Boden zurückerobern konnten, während Microsoft auf einmal böse patzte: Der Versuch, es Nintendo gleichzutun und die eigene Konsolen-Marke mithilfe von Kinect & Co. in Richtung Casual-Markt zu bewegen, kommt viel zu früh. Und führt dazu, dass sich die zuvor mühsam erschlossene Zielgruppe der Core-Gamer schnell wieder abwendet. Die Konzernpolitik des gigantischen und leidenschaftslosen IT-Imperiums, dem es nicht zuerst um das Medium Spiel, sondern um Anteile am Digitalmarkt geht, ist deutlich sichtbar geworden. Xbox ist ab diesem Punkt nicht mehr in erster Linie Xbox, sondern vor allem wieder nur Microsoft.

Noch mehr Übernahmen
Um den derart angerichteten Schaden zu beheben, macht man genau das, was ein gigantisches Medien-Imperium am besten kann, um so schnell wie möglich doch noch ans Ziel zu kommen: seine gewaltige Marktmacht ausspielen. Oder genauer: eine fast 2.400 Milliarden Dollar schwere Marktmacht. Zum Vergleich: Das ist 43 mal Nintendo, 23 mal Sony und 16 mal Disney. Oder siebeneinhalb mal so viel, wie der Amazonas-Regenwald in einem Jahr wert ist – einer Berechnung der in Washington beheimateten World Bank Group zufolge. Wenn man ihn nicht abfackelt oder abholzt, sondern stattdessen berechnet, wieviel die mit ihm verknüpften Ökosysteme und lebenswichtigen Ressourcen wert sind. Wie zum Beispiel die Luft, die wir atmen. Und wenn wir schonmal dabei sind: Die Spiele-Firmen, die Microsoft sich während der letzten paar Jahre einverleibt hat oder noch gerne einverleiben würde, wären in Summe ungefähr halb so viel wert wie dieser Regenwald. Und verstehen Sie mich jetzt bitte nicht falsch: Ich spiele wirklich VERDAMMT gerne Games. Und den Wert von Firmen wie Bethesda kann man für mich kaum hoch genug einschätzen. Aber noch viel lieber als ich zocke, atme ich. Oder atme ich nur, um zu zocken? Hm. Darüber muss ich noch bis zum Ende dieses Artikels nachdenken. Bis dahin präsentiere ich aber gerne diejenigen Firmen, die an meiner Rechnung teilgenommen haben: Neben Activision Blizzard (69 Milliarden Dollar) und Bethesda (7,5 Milliarden) sind das nämlich Zynga (derzeit etwa 13 Milliarden Dollar wert) und – Überraschung – Nintendo (55 Milliarden). Die Information, dass Big M sich außer Zynga auch gerne die Mario- und „Zelda“-Schmiede aus Kyoto einverleiben würde, ist nämlich Bestandteil einer ganzen Reihe von Xbox-Leaks, die während der vergangene Wochen durch das Netz gegeistert sind.

Ebenso wie die angeblichen Pläne für die nächste Xbox-Generation und die überraschende Ansage, dass sich der Konzern in einigen Jahren aus dem Spiele-Markt verabschieden könnte. Sollte sein Games-Geschäft bis dahin nicht rasant anziehen. Außerdem lobt Xbox-Chef Phil Spencer in einer mutmaßlichen internen Mail das Potential des „Game Pass“: Der hätte laut ihm das Zeug dazu, die Spiele-Branche förmlich zu retten! Spencers Logik: Die Notwendigkeit, hunderte Millionen Dollar schwere AAA-Produktionen zu stemmen, würde den Innovationsmotor der Games-Branche beschädigen und sie dazu zwingen, nur noch bekannte Marken zu bedienen. Um die Potenz des Game-Pass-Modells zu unterstreichen, verweist er auf Netflix: Das Abo-Modell würde dem Konzern die Planungssicherheit geben, die er bräuchte, um auch ehrgeizigere und kleinere Produktionen zu veröffentlichen. Allerdings unterschlägt Spencer dabei ein paar bekannte Details: Der Unterhalt einer solchen Plattform ist immens teuer und bedeutet ein erhebliches Risiko. Disney beispielsweise staunt gerade nicht schlecht über die hohen laufenden Kosten im Verhältnis zu übersichtlichen Erträgen. Denn die Zeit, in der Investoren wild mit dem Scheckbuch wedelten, um Streaming-Portale zu finanzieren, ist schon wieder vorbei. Und die Abo-Gebühren allein reißen’s nicht raus.

Klar: Wer so groß ist wie Microsoft, der kann es sich leisten, eine ganze Weile draufzulegen. Weil er sich Marktanteile sichern will. Oder die Entwickler- und Hersteller-Landschaft leerkaufen. Damit der Griff zu Windows bzw. Spaß-Box alternativlos wird. Auch dann, wenn man sich dafür Nintendo einverleiben müsste. Vorausgesetzt natürlich, die wollen das überhaupt. Ganz neu ist das „Big M will Big N“-Szenario nämlich nicht: Bereits 2021 machen Meldungen die Runde, nach denen offenbar schon vor dem Start der ersten Xbox eine Microsoft-Delegation nach Kyoto marschierte, um bei Yamauchi & Co. wegen einer möglichen Übernahme vorzusprechen. Kevin Bachus – zu dieser Zeit einer der Top-Manager in Microsofts Abteilung für „Third-Party-Relations“ – erinnert sich an die Reaktion des Nintendo-Teams: „Die haben sich den Arsch abgelacht“, erklärt er in einem Interview auf engagdet.com. „Stell Dir jemanden vor, der Dich eine Stunde lang einfach nur auslacht. Ungefähr so verlief das Meeting.“ Dabei wäre das Angebot gar nicht mal so abwegig gewesen: Angeblich hätten beide Hersteller erst kurz zuvor ganz ernsthaft über die Möglichkeit eines Joint-Ventures verhandelt. Microsoft hätte dabei die Konzeption und Herstellung der Spiele-Hardware übernommen, während Nintendo das geliefert hätte, was sie am besten können – die Software.

 

Nicht nur für unsere geistige Gesundheit gut

 

Wollen wir das?
Zugegeben: Für die vielen Spieler, die sich schon seit Jahren leistungsstärkere Nintendo-Konsolen wünschen, klingt das vermutlich nach einem feuchten Traum. Link würde dann künftig ein „Zelda Infinite“ erkunden, während Mario in einem „Gears of War“-Crossover Locust erhüpft. Und Kirby in „Call of Duty“ so viele Terroristen aufsaugt, dass selbst hartgesottene Marines schreiend die Flucht ergreifen. Vergessen wir die „Smash Bros.“ – die „Super Brutal Bros.“ kommen“!

Merken Sie was? Genau. Dass dieser Deal bis heute blanke Theorie bleibt, ist vermutlich nicht nur für unsere geistige Gesundheit gut – sondern vor allem für die der gesamten Spiele-Branche. Weil eine monotheistische Ein-Konsolen- und Ein-System-Landschaft eben nicht wünschenswert wäre. Weil ein Markt, um den sich mehrere Teilnehmer balgen, einfach interessanter ist. Und zu viel Macht in der Hand eines einzigen Herstellers das komplette Ökosystem Videospiel kippen lassen könnte. Denn wenn es einem Giganten sowieso nur um Marktanteile geht, wieso sollte er sich dauerhaft anstrengen, wenn er jede ernstzunehmende Konkurrenz sowieso ausgeschaltet oder aufgekauft hat? Die Liste an einst gefeierten Entwicklern, die nur wenige Jahre nach der Übernahme durch einen Riesen in der Belanglosigkeit verschwunden sind, ist lang.

Und was Nintendo angeht: Die haben es auch ohne Schützen-, pardon, Hardware-Hilfe von Microsoft geschafft. Weil nach N64 und Gamecube die Einsicht gereift ist, dass man mit starken Charakteren im Rücken aus dem teuren Performance-Race aussteigen kann. Das Ergebnis sind Hard- und Software-Konzepte, die unmittelbar ineinandergreifen und von ihren Helden leben – ganz ohne 2.400-Milliarden-schwere Supa-Dupa-Mega-Konzern-Power im Rücken. Zumal sich die Frage aufdrängt: Wieso investiert man mit so tiefen Taschen nicht mehr Geld in die Sorte EIGENER Innovation, die Phil Spencer bei AAA-Produkten angeblich so vermisst? Klar, das würde länger dauern als eine kurze und harte Aufkauf-Orgie. Aber vielleicht würde es die Firmen-Sexyness steigern und selbst schwierigste Core-Gamer in treue Fans verwandeln? Wie bei Nintendo. Und wir könnten alle ruhiger schlafen, weil Kirby nicht zum Hauptdarsteller in einem Horrorfilm wird. Aber Mensch, dem sein Lungenvolumen hätte ich gerne. So als Asthmatiker. Darauf atme ich jetzt erstmal ein paar Spiele ein. (Robert Bannert)

IGM 13/23
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