Elden Ring ist für viele DAS Spiel des Jahres. Und es ist eines der kommerziell erfolgreichsten dazu: Laut Publisher Namco Bandai hat sich das Open-World-Rollenspiel bis jetzt weltweit über 17,5 Millionen Mal verkauft – für eine neue IP ist das ein phänomenal gutes Ergebnis. Einer der Gründe für den Erfolg ist, dass Entwickler From Software über enorm viel Erfahrung verfügt. Außerdem knüpft Elden Ring bei Atmosphäre und Kämpfen deutlich an die beliebte Souls-Reihe an. Dennoch war es durchaus eine Herausforderung, die hoch anspruchsvollen Kämpfe mit einer Open World zu kombinieren, die SpielerInnen deutlich mehr Lösungsansätze bietet als die Souls-Games. From Software hat es also verstanden, vertraute und neue Elemente zu kombinieren – und daraus etwas Erfrischendes zu erschaffen. Will heißen: Eine neue IP muss das Rad nicht unbedingt neu erfinden, um erfolgreich zu sein. Sie kann auch Bewährtes in einen neuen Zusammenhang stellen – und damit die Tür für neue Zielgruppen öffnen.
Neue Zielgruppen
Shawn Layden brachte das beim GamesBeat Summit 2021 ganz gut auf den Punkt. Im Online-Talk mit Dean Takahashi und zwei weiteren Panelisten erläuterte der frühere Chef der Sony Worldwide Studios (heute: PlayStation Studios), warum neue IP für das Business so wichtig ist. „Wir reden viel darüber, dass die Videospielbranche die größte Unterhaltungsbranche der Welt ist“, sagte Layden. „Aber wenn es um Gesellschaft und Kultur geht, sind wir nicht gerade überdurchschnittlich erfolgreich.“ Der Grund dafür sei, dass die Branche zu wenig unterschiedliche Zielgruppen anspreche. Vor diesem Hintergrund hält Layden originäre IPs für unabdingbar, weil sie neue Arten von Spielen hervorbringe: Denn vor allem auf diesem Weg könne man „neue Typen von SpielerInnen, neue Typen von Fans für die Spielebranche gewinnen – und dadurch den Kuchen immer weiter vergrößern“.
Den Kuchen immer weiter vergrößern
Dies gilt laut Layden ganz besonders dann, wenn neue Hardware auf den Markt kommt – zum Beispiel eine neue Konsole oder ein neues VR-Headset. „Dann ist es die Pflicht der First-Party-Teams, aufzustehen, das Risiko auf sich zu nehmen, die Spiele zu entwickeln und Kreativität zu entfalten – ohne sich Gedanken darüber zu machen, wie sich diese Investition auszahlen wird“, fordert der frühere Sony-Manager. Auf Third-Parties sollte man sich in einem solchen Fall nicht verlassen, mahnt Layden – das Risiko einer neuen IP müsse der Plattformbetreiber schon selbst tragen, wenn er damit neue Zielgruppen erschließen wolle. Die Entwicklung einer neuen IP benötige viel Zeit und könne sich deutlich länger hinziehen als ursprünglich geplant, betont Layden. „Aber wenn man den Kurs beibehält und seiner Vision treu bleibt, dann wird man mit dem Ergebnis sehr zufrieden sein.“
IP-Nachschub
Das klingt nun alles sehr tapfer und heroisch. Doch welche Spielefirmen haben sich denn nun eigentlich in den letzten Jahren in neue IP-Gewässer gewagt? Wohlgemerkt: Wir reden hier nicht von der Indie-Branche, die jedes Jahr Abertausende neuer Spiele auf die Plattformen schwemmt – sondern von Studios, die neue IPs im AAA-Format produzieren. Sony selbst hat in den letzten Jahren gleich mehrere neue IPs für sein PlayStation-Ökosystem veröffentlicht: den TPS-Roguelite-Mix Returnal (Housemarque), das Action-Adventure Ghost of Tsushima (Sucker Punch Productions) und auch das Open-World-Game Death Stranding (Kojima Productions). Alle drei Titel haben zweifellos erheblich zur Attraktivität der PlayStation beigetragen. Auch die Horizon-IP ist noch vergleichsweise frisch (2017) – und so erfolgreich, dass Sony dem Debüttitel Zero Dawn bereits das Sequel Forbidden West hinterherschickte. Dass Elden Ring demnächst ebenfalls eine Fortsetzung erhält, ist angesichts der Verkaufszahlen fast schon sicher. Nicht ohne Grund hat Sony an From Software dieses Jahr eine Minderheitsbeteiligung erworben: Die neue IP soll auch künftig als PlayStation-Zugpferd dienen.
Frische IP hat grundsätzlich den Reiz des Neuen – ob das nun ein unverbrauchtes Setting, kreative Gameplay-Loops, spannende neue Figuren oder alles im Paket ist. In jedem Fall ist die Attraktivität einer neuen IP sehr subjektiv und an viele, oft auch überzogene Erwartungen gekoppelt: Das zeigen die zahllosen Fan-Foren und Social-Media-Posts, in denen haarklein über künftige AAA-Titel spekuliert wird. Für Rudolf Inderst gab es in der letzten Dekade eine ganze Reihe von IP-Debüts, die aus unterschiedlichen Gründen bemerkenswert waren. „Destiny war 2014 für mich sehr spannend, da ich unbedingt wissen wollte, was die Halo-MacherInnen jetzt abliefern würden“, so der Professor für Game Studies. „The Division habe ich in bester Erinnerung, weil man diesen überpeinlichen ‚Nein, wo denkt Ihr hin – dieses Spiel ist NICHT politisch!!!‘-Eiertanz aufführte.“ Bei Horizon Zero Dawn sei vor allem die sympathische Hauptfigur Aloy bemerkenswert gewesen, erläutert Inderst, bei Death Stranding und Elden Ring könne man wunderbar in den Geheimnissen der jeweiligen Spielwelten graben. Als weitere Highlights nennt Inderst das Spiel Cyberpunk 2077, das sich nach dem Launch überraschend entwickelt habe, sowie das bereits erwähnte Returnal mit seinem frischen Stil – und auch den Koop-Platformer It Takes Two, der laut Inderst „die reine Liebe zum Medium Videospiel“ verkörpert.
Zunehmende Risikoaversion
Komplett enttäuscht war Inderst von keiner neuen IP der letzten Jahre. „Insgesamt halte ich von absoluten Größen beziehungsweise zugespitzten Gegensatzpaaren wie ‚Hype vs. Fail‘ eher wenig“, sagt er. „Vielleicht ist es auch diese stoische Grundhaltung, die mich vor echten Enttäuschungen in Sachen IPs bewahrt hat.“ Kritik übt der Games-Wissenschaflter eher an bestimmten Eigenschaften eines Spiels – etwa dem Fehlen einer Koop-Kampagne, zu rar gesäten Speicherpunkten oder einer Überfrachtung mit Lootboxen und „Everything-is-a-Service“, wie Inderst es nennt. Ganz grundsätzlich stellt er eine zunehmende Risikoaversion der großen Publisher fest, was neue IPs und Spielbestandteile angeht, zeigt aber gleichzeitig auch Verständnis für die vorherrschende Strategie vieler Publisher. „Es ist kein Geheimnis, dass ein komplettes Go-To-Market neuer, großer AAA-IPs ein enormes unternehmerisches – und damit finanzielles – Risiko birgt“, betont Inderst. „Die Kosten der Entwicklung, Auslieferung und Vermarktung sind kontinuierlich gestiegen. Und daher wird man sich im Business Development eher einmal mehr als weniger überlegen, ob hier die Ressourcen an der richtigen Stelle eingesetzt werden – oder ob man lieber auf etablierte Marken setzt, die ihr zahlendes Zielpublikum bereits gefunden haben.“
Ähnlich sieht das auch Joost van Dreunen. „Blockbuster-IP ist unglaublich teuer“, sagt der SuperData-Gründer und Buchautor („One Up“), der heute als Dozent an der Stern School of Business in New York City unterrichtet. Unternehmen, die nicht nur ihr Portfolio verwalten wollen, müssten bei Blockbuster-IPs „all in“ gehen, so der Experte – und zwar deswegen, weil „die Top-Performer in einem hitgetriebenen Markt einen überproportionalen Anteil der Einnahmen generieren“. Wer hier mitspielen wolle, müsse nahezu alles auf eine Karte setzen, so der Uni-Dozent. Um eine IP langfristig zu etablieren, müsse ein Publisher auch bereit sein, immer mehr Geld für Entwicklung und Marketing auszugeben. Andere Entertainment-Branchen hätten jedenfalls gezeigt, dass der hitgetriebene Ansatz der bei weitem vielversprechendste sei, sagt van Dreunen – und beruft sich dabei auch auf das Buch „Blockbusters“ von Anita Elberse. „Man bekommt nicht so viele Chancen, aufs Tor zu schießen“, fasst der Experte zusammen. „Aber wenn man ein Tor schießt, ist es das.“
Alle Karten in der Hand
Kurve gekriegt
So hoch die Investitionen auch sein mögen, so sehr können sie sich auszahlen, betont van Dreunen. „Man kann gut in der Analyse und in der Rekrutierung von Nachwuchskräften sein, man kann großartige Marketing-Beziehungen und Beziehungen zu Einzelhändlern und Distributoren haben: Aber wenn man eine einzigartige, beliebte IP besitzt, dann hat man alle Karten in der Hand.“ Van Dreunen nennt als Beispiel die Firma Rovio, die nur dank Angry Birds noch die Kurve gekriegt habe. Als weiteres Beispiel nennt er Square Enix: In den Achtzigern sei der Konzern kurz vor dem Bankrott gestanden – und habe dann, in einem Akt der Verzweiflung, Final Fantasy herausgebracht. (Der Name war hier Programm, sagt van Dreunen.) Der Rest der Geschichte ist hinlänglich bekannt: Heute ist Final Fantasy eines der beliebtesten Gaming-Franchises überhaupt.
Wie aber kreiert man eine neue IP? Beim GamesBeat Summit 2021 beschrieb Shawn Layden diesen Prozess als Wettbewerb der hauseigenen Studios: „Man versucht, die beste Idee hervorzulocken. Man findet die Dinge, auf die es sich zu setzen lohnt – und geht dann diese Wagnisse ein.“ Was im Umkehrschluss bedeutet, dass weniger vielversprechende Projekte womöglich in der Tonne landen. Aus Sicht von van Dreunen gibt es zwei grundsätzliche Strategien, wie Publisher zu neuen IPs kommen können. „Eine davon ist: Man baut intern eine sehr ausgeklügelte R&D-Abteilung auf. Dann startet man – je nach Unternehmensgröße – 5 oder 50 Projekte und beobachtet, welche davon langsam nach oben kommen.“ Aus dem breiten Teilnehmerfeld werde irgendwann der attraktivste Bewerber ausgewählt. Dieser Selektionsprozess ist van Dreunen zufolge allerdings sehr heikel, „denn man muss die übrigen 49 Studios enttäuschen, die mehrere Jahre lang daran gearbeitet haben, ein Spiel auf ein bestimmtes Niveau zu bringen“. Das harte Selektieren mache es für Publisher auf Dauer schwer, talentierte Nachwuchskräfte anzuziehen und zu halten. „Wer will schon für einen Chef arbeiten, der ständig Projekte abschießt?“, fragt van Dreunen rhetorisch. „Das ist für die Entwickler sehr frustrierend.“ Und auch mit einem hart selektierten Produkt könne man am Ende noch kläglich scheitern, wenn die Zielgruppe nicht mitmache.
Innovation durch Übernahme
Erweiterter IP-Begriff
Viel besser findet van Dreunen die Strategie „Innovation durch Übernahme“, die ja heute gang und gäbe ist. Als Publisher beobachte man genau, welche IPs gerade von Third-Parties entwickelt würden. „Und wenn die Erfolg damit haben, übernimmt man sie – und bläst das Ganze dann auf die zehnfache Größe auf.“ Ein Paradebeispiel sei die Übernahme von Bungie durch Sony gewesen, so van Dreunen: Bungie sei nicht nur ein brillanter Entwickler (Destiny 1 und 2), sondern besitze auch tiefgreifende Kenntnisse in Sachen Online-Anbindung und Infrastruktur. Van Dreunen betont, dass „eine IP also nicht unbedingt ein cooles Gaming-Franchise sein muss“. Auch eine Game-Engine oder eine Backend-Infrastruktur können wertvolles Intellectual Property darstellen, die Publishern im heißumkämpften Spielemarkt einen wichtigen Vorteil verschafft.
Eines der Unternehmen, die verstärkt auf neue IPs setzen, ist Bandai Namco Entertainment. Bereits 2018 hatte der Publisher das ehrgeizige Ziel formuliert, die Hälfte seines Portfolios aus neuen IPs bestücken zu wollen. Doch wie ist der heutige Stand der Dinge? Das wollten wir von Arnaud Muller wissen, dem CEO von Bandai Namco Europe. „Neue sowie eigene und lizenzierte IPs sind für jedes Entertainment-Unternehmen unglaublich wichtig“, bestätigt Muller. „Denn eine erfolgreiche IP kann eine stetige Einnahmequelle sein.“ Bandai Namco verfüge bereits über einen riesigen Bestand an IPs, so der Manager. „Bei Bandai Namco Europe haben wir allerdings erst vor ein paar Jahren damit begonnen haben, unsere eigenen Produkte zu entwickeln.“ Die erfolgreichste neue IP sei hier der Platformer Little Nightmares, berichtet der Manager. Im kommenden Jahr werde man zudem eine neue IP aus dem Partnerstudio Limbic Entertainment veröffentlichen – nämlich den Vergnügungspark-Simulator Park Beyond. „Es gibt noch mehr, auf das wir uns freuen können“, stellt Muller in Aussicht. „Dazu gehören einige unangekündigte Projekte – und natürlich auch Unknown 9: Awakening von Reflector Entertainment, unserem Studio in Montreal.“
Richtige Mischung
Was aber sind aus Mullers Sicht die größten Herausforderungen bei der Schaffung neuer IPs? Der CEO betont, dass es besonders auf die richtige Kombination von Investition und Kreation ankommt. „Es ist nicht nur schwierig, eine neue IP zu entwickeln – sondern auch, dafür zu sorgen, dass die Leute sie wahrnehmen“, so Muller. „Das ist ein sehr kostspieliges Unterfangen, sowohl zeitlich als auch finanziell.“ Bewährte IPs seien demgegenüber natürlich eine viel sicherere Sache, so der Bandai-Namco-Manager. „Denn man hat bereits eine gewisse Vorstellung davon, wie groß das Interesse der VerbraucherInnen ist.“ Ähnlich sieht das übrigens auch Jim Ryan: In einem Interview mit dem GQ Magazine betonte der Boss von Sony Interactive Entertainment, wie wichtig ein ausgeglichenes Portfolio sei. So achte SIE „sehr genau auf die Balance zwischen Neuauflagen beliebter Serien wie God of War oder Uncharted – und neuen IPs wie Horizon Zero Dawn oder Ghost of Tsushima“. Ein Mischung, die augenscheinlich funktioniert.
Ein Blick auf die nächsten Monate zeigt, dass weitere neue IPs in den Startlöchern stehen. Square Enix wird mit Forspoken ein Action-Adventure veröffentlichen, das wegen seiner vorwiegend weiblichen Hauptfiguren neue Zielgruppen erschließen dürfte. Derweil ist ZeniMax respektive Bethesda 2023 gleich mit zwei potenziellen Blockbuster-IPs am Start: Zum einen dem Vampir-Shooter Redfall, der sich bereits in Previews durch knackiges Gameplay und eine tolle Atmosphäre auszeichnet. Und zum anderen mit dem neuen Weltraum-Opus Starfield, das so etwas wie das „Skyrim in Space“ werden könnte. Rudolf Inderst jedenfalls freut sich besonders auf diese IP, schließlich hat er auch schon Mass Effect sehr genossen. „Im besten Fall wird mich dieses Spiel direkt in meine Jugend und Starflight auf dem Sega Mega Drive schießen“, sagt er. Denn auch das können neue IPs: wohlige Erinnerungen wecken.(Achim Fehrenbach)