Es ist eine Erfolgsgeschichte: In wenigen Jahren ist Thunderful Games – organisch durch Übernahmen – zu einem globalen Player herangereift, der 11 Studios umfasst und über 400 Fachkräfte beschäftigt. Das Unternehmen ist einer von zwei Geschäftsbereichen der Thunderful Group, die an der Stockholmer Börse notiert ist; den anderen Geschäftsbereich deckt Thunderful Distribution ab.
Agostino Simonetta stieß 2021 zu Thunderful Games: Als Chief Game Officer kümmert er sich um das Wachstum der vier Unternehmenssäulen Co-Development, IP-Building, Partners und Investment. Vor seiner Zeit bei Thunderful war Simonetta mehrere Jahre lang Director of Global Partnership Management bei Microsofts ID@Xbox-Programm. In dieser Zeit sorgte er dafür, dass immer mehr Indies den Weg ins Xbox-Ökosystem fanden. Darüber hinaus war Simonetta in leitender Funktion bei PlayStation Europe, SEGA Europe und THQ tätig. Ein Interview
IGM: Mr. Simonetta, wie hat sich das Publishing in den letzten Jahren verändert?
Agostino Simonetta: Wir sehen mehr und mehr, dass nicht nur Publishing in beide Richtungen geht, sondern auch IP Creation. User erstellen inzwischen eine Vielzahl von Assets und Mods – und zwar in größerem Maßstab. Die Leute beginnen, rund um IPs und Franchises sehr erfolgreiche Geschichten zu entwickeln – auch über die reinen Verkaufszahlen hinaus. Wir haben es hier mit einer neuen Generation von Usern zu tun! Ich habe das bei meinen Töchtern im Teenager-Alter gesehen: Sie leben und atmen Content auf eine ganz andere Art und Weise, als wir das damals in diesem Alter getan haben. Einige von uns waren sehr aktive Consumer und haben auch kräftig in der Modding-Szene mitgemischt – aber dieses Universum hat sich inzwischen exponentiell ausgedehnt! Es gibt jetzt Plattformen wie Roblox oder Minecraft, die mehr und mehr Leuten ermöglichen, eigene Inhalte zu erstellen. Damals – in den Neunzigern und in den Nullerjahren – waren es ausschließlich große Studios, die Ideen erschufen und diese über hochspezialisierte Kanäle kommunizierten ... Above-the-line-Marketing, News-Magazine. Jetzt aber hat sich die Dynamik gewandelt – und ich glaube, dass das einen gewaltigen Einfluss darauf hat, wie wir über die Entwicklung von Franchises und IP nachdenken. Beide Dinge laufen parallel: Die Evolution des Publishing – und die Art und Weise, wie wir mit der Community interagieren. Beides wurde durch die digitale Transformation ermöglicht.
IGM: Das ist dann also jetzt der Auftritt des „Player-Creator“, wie Sie das Phänomen in einem Artikel genannt haben. Die SpielerInnen werden quasi selbst zu Publishern ...
Simonetta: Ganz genau. Nehmen wir als Beispiel die „Backrooms“, eine moderne Lore, die von der Internet-Subkultur erschaffen wurde. Bei den „Backrooms“ geht es gewissermaßen um die Ästhetik von „Schwellenräumen“, also von Räumen, die üblicherweise sehr belebt sind, zum Beispiel Büros oder U-Bahnstationen – die aber plötzlich unnatürlich leer erscheinen. Der Lore zufolge können diese Räume nur durch Glitches betreten werden. Irgendwann tauchten Games auf, die von diesen „Backrooms“ inspiriert waren – auf Roblox, auf Steam. Aber es gibt noch so viel mehr ... etliche Spiele sind einfach nur Instanzen von etwas, das von der Community geschaffen wurde. Bei IPs wie Five Nights at Freddy‘s hat die Community die Lore erschaffen und das Spieluniversum ausgedehnt, so dass es jetzt viel größer als das Spiel selbst ist. Vieles davon wird nicht etwa von den Kreativen aus der Industrie vorangetrieben – sondern von der Community.
Dieses Universum hat sich inzwischen exponentiell ausgedehnt
IGM: Was bedeutet das für eine Firma wie Thunderful?
Simonetta: Wenn man von den Änderungen bei Geschäftsmodellen und Plattformen absieht – was ist dann das Wichtigste? Das Wichtigste ist, bleibende Erinnerungen zu erschaffen! Spieleentwickler, Buchautoren, Filmemacher ... alle versuchen letztlich, genau das zu erreichen. Wie auch immer man das umsetzt – und auf welchem Kanal: Letztlich hängt dein Erfolg oder Misserfolg davon ab, ob du den Leuten, die deine Schöpfungen erleben, bleibende Erinnerungen gibst. Wenn wir erklären, warum wir diesen Job machen, warum wir dieses Medium lieben, dann reden wir über die Erinnerungen, die beim Spielen entstanden sind, als wir jünger waren – oder eben heute. Natürlich wird man sich nicht an alle Details der ersten Mario-64-Session erinnern. Aber man wird sich an das Jingle erinnern, an die Musik, vielleicht auch an das Winter-Level und den Spaß, den man hatte, als man die Bahn runterrutschte und versuchte, das Rennen zu gewinnen. Und genau das ist unser ultimatives Ziel! Wir haben Erfolg, wenn wir den Menschen bleibende Erinnerungen bescheren.
IGM: Sprechen wir über das Thunderful-Portfolio. Wie schaffen Sie mit Ihren Spielen genau solche bleibenden Momente?
Simonetta: Thunderful veröffentlicht ganz großartige Spielerlebnisse, zum Beispiel Planet of Lana oder SteamWorld oder – in der Vergangenheit – The Gunk. Kürzlich flog ich in die USA, der Fluggast neben mir schaute auf meinen Bildschirm – und sah das Logo von The Gunk. Er sagte: „Oh, tut mir leid, ich habe auf Ihren Bildschirm geschaut. Aber ist das The Gunk?“ Als ich das bejahte, antwortete er: „Arbeiten Sie also für Thunderful? Ich habe The Gunk gespielt, ich habe Lost in Random gespielt – und ich bin ein großer Fan der SteamWorld-IP!“ Genau das meine ich, wenn ich über „bleibende Erinnerungen“ spreche. Der Mitreisende war in gewisser Weise mehr mit The Gunk vertraut als ich. Und SteamWorld ist für uns eine so wichtige IP! Sie ist eng mit der Thunderful-DNA verwoben. SteamWorld Dig 1 und 2, Heist, Quest – jeder hat ein anderes Lieblingsspiel aus dieser Reihe. Kürzlich haben wir SteamWorld Build angekündigt, aber wir haben es nicht bei der Ankündigung belassen – wir wollten der Community auch die Möglichkeit geben, das Spiel auszuprobieren. Also haben wir eine Demo veröffentlicht und eine Show veranstaltet. Wir beschäftigen uns stark mit der Community, wir hören auf ihr Feedback. Darum geht es, wenn ich sage, dass wir mit den SpielerInnen da draußen in Kontakt bleiben. Bis zur Veröffentlichung von SteamWorld Build ist es noch etwas hin, wir haben also noch etwas Zeit, um daran zu arbeiten. Aber es ist großartig, dass wir es bereits angekündigt und den Leuten eine Anspielmöglichkeit gegeben haben.
Wir können immer granularer mit der Community interagieren
IGM: Jedes Jahr erscheinen Unmengen von Spielen, allein auf Steam sind es mehr als 10.000. Viele davon bieten schon vorab Demo-Versionen. Wie rückt man sein Spiel da ins Rampenlicht?
Simonetta: Um 2007, 2008 herum begann etwas, was ich als „digitale Revolution“ bezeichnen würde. Seitdem hat sich die Art und Weise, wie Firmen mit der Community kommunizieren, permanent geändert. Wirklich sicher ist nur eines: Dass sich nämlich alles ständig ändert! Wir als Firma haben uns verändert, seit ich dazukam und wir an die Börse gegangen sind. Das gilt auch für unsere Kommunikation mit der Community. Heute ist eine der Konstanten, dass man sehr sichtbar und sehr nah dran an der Community ist. Wir können immer granularer mit der Community interagieren – und davon werden wir auch immer mehr Gebrauch machen. Das Headup-Spiel Tinkertown ist ein gutes Beispiel dafür: Der Titel ist seit 2020 im Early Access, seitdem erhalten wir Feedback von der Community. Noch vor ein paar Jahren wäre das undenkbar gewesen! Steam war natürlich die erste Plattform, die Early Access wirklich eingeführt hat. Ich war Teil des Xbox-Teams, als es Early Access im Jahre 2015 gestartet hat – das war so eine Art Durchbruch. Aber 2010 hätten man dieses Modell noch für verrückt gehalten, nicht wahr? Halten wir also fest: Thunderful lernt als Firma ständig dazu. Und diese Erkenntnis ist wirklich wichtig – dass der Markt sich ständig ändert, dass man nicht statisch sein kann.
IGM: Sprechen wir über Headup. Sie haben den deutschen Publisher im Jahr 2021 übernommen. Wie wichtig war diese Übernahme für Thunderful?
Simonetta: Ich habe mit Dieter während meiner Zeit bei Xbox zusammengearbeitet. Die Übernahme von Headup und von Dieters Team ist für unser Unternehmen von fundamentaler Bedeutung. Headup kann eine außerordentliche Erfolgsbilanz vorweisen. Es ist ein profitables Unternehmen, das im digitalen Raum arbeitet – mit unglaublich guten Beziehungen zur Developer-Community und zu den Platform-Partnern. Die Übernahme hat uns wirklich geholfen, unsere Publishing-Fähigkeiten und unsere Denkweise voranzutreiben. Ich habe ja bereits die „Backrooms“ angesprochen. Dieter hat ein unglaublich gutes Gespür für solche Trends, die oftmals unter dem Radar fliegen. Headup entwickelt sehr interessante Prototypen und Ideen, mit denen wir – als wachsendes Unternehmen – unsere Möglichkeiten ausreizen können.
IGM: Wie sieht das konkret aus?
Simonetta: Wir wollen, dass Thunderful – wenn es mit Entwicklern und der Community interagiert – verschiedene Modelle nutzt, die die Bedürfnisse unserer Partner respektieren, anstatt ihnen etwas aufzuzwingen. Wir wollen uns auch mit unterschiedlichen Ideen auseinandersetzen können. Einige dieser Ideen sind vielleicht wild und einige der Prototypen vielleicht schräg, aber wir wollen damit weitermachen! Für uns erledigt Dieter heute einen herausragenden Job, wenn er über die Dinge nachdenkt, mit denen wir uns – als wachsendes Unternehmen – noch nicht beschäftigen. Uns ist klar, dass IP und Franchises sehr schwer aufzubauen sind – und dass sie oft nicht aus traditionellen Denkmustern entstehen. Manchmal bringen gerade die verrücktesten Ideen das nächste große Ding hervor!
Headup kann eine außerordentliche Erfolgsbilanz vorweisen
IGM: Im Februar hat Thunderful das deutsche Studio Fizbin übernommen. Wie profitieren beide Seiten von der Partnerschaft?
Simonetta: Dieters Team hatte schon lange mit Fizbin zusammengearbeitet. Wir arbeiteten mit ihnen bereits an ihrem nächsten Spiel, das den Codenamen „Project: Kokidon“ trägt. Irgendwann fühlt man sich zusammen wohl, hat ein gutes Gefühl für die Beziehung, die man im Lauf der Jahre entwickelt hat. Alexander und sein Team teilen unsere Werte – sowohl in Bezug auf die Unternehmenskultur als auch in Bezug auf tolle Produkte und Spielerfahrungen. Ein weiteres Beispiel sind die Jumpship Studios, die wir 2022 übernommen haben. Dino Patti und ich hatten schon seit Limbo zusammengearbeitet, wir waren bereits gute Freunde. Plötzlich stellten beide Unternehmen fest, dass sie nicht nur ein gutes Publisher-Entwickler-Verhältnis haben, sondern tatsächlich auch die gleiche Vision.
IGM: Wie lässt sich diese Beziehung dann vertiefen?
Simonetta: Wir bauen ein Unterstützungsprogramm auf, das Firmen wie Fizbin einen Mehrwert bietet. Wir errichten eine Infrastruktur, die es den Studios ermöglicht, sich auf das zu konzentrieren, was ihnen wirklich am Herzen liegt. Jedes Thunderful-Studio setzt andere Schwerpunkte. Manche setzen den Fokus auf Mobile Games, beispielsweise das Early Morning Studio. Manche wollen einfach nur entwickeln und kreativ sein, wieder andere wollen ihr Produkt selbst publishen. Wir errichten also ein Framework, mit dem die Studios das tun können, was ihnen gefällt. Bei der GDC 2022 habe ich dazu einen Vortrag gehalten: Wenn man eine Publisher-Entwickler-Partnerschaft eingeht, muss man zunächst überlegen, was beide Seiten glücklich macht. Viele Gründer wollen ihre Firma verkaufen – was sie glücklich macht, ist also der geschäftliche Teil, was ja auch ein legitimer Grund ist. Viele Entwickler werden aber froh sein, wenn sie sich auf die Schaffung toller Spielerlebnisse konzentrieren können. Wir haben die Publisher-Entwickler-Beziehung mit Fizbin lange genossen. Die Beziehung zwischen Headup und Alexanders Team war sehr eng. Und plötzlich stimmten die entstehenden Rahmenbedingungen überein – und auch die Arbeit und die Werte unserer Unternehmen.
IGM: Im Jahr 2020 haben Sie Coatsink übernommen – ein Studio, das auf VR-Games spezialisiert ist. Wie wichtig war die Übernahme für Thunderful – und wo sehen Sie die Zukunft des Mediums? VR ist ja noch weit vom Mainstream entfernt ...
Simonetta: Coatsink ist bei VR unser Vorzeigestudio – es hat gerade die Jurassic World Aftermath Collection für PSVR2 auf den Markt gebracht. Gemeinsam mit Coatsink arbeiten wir an weiteren Projekten, über die wir aber noch nicht sprechen können. Wir haben auch in andere VR-Produkte investiert, zum Beispiel in The Last Clockwinder, das zum Game of the Year auf der Meta Quest gewählt wurde. Auch Among Us VR entwickeln wir weiter. Auch wenn VR heute noch nicht die installed base der Current-Gen-Konsolen hat, bietet es uns eine große Chance – weil wir in diesem Bereich einer der Top-Player sind. Sie haben recht, VR hat noch einen Weg vor sich. Es wäre toll, wenn ich wüsste, wohin die Reise geht – aber zumindest bietet VR die großartige Gelegenheit, herausragende Erlebnisse zu erschaffen. Wir sehen das Ganze also sehr positiv! Bei Thunderful denken wir immer darüber nach, wo der Markt in drei Jahren sein wird. Und wenn man sich anschaut, wie wir mit unseren Partnern zusammenarbeiten – wie wir das in den letzten eineinhalb Jahren strukturiert haben –, dann kann ich sagen: Wir sind wirklich der Zeit voraus.
IGM: Spieledistribution erfolgt heute überwiegend digital, aber natürlich gibt es auch noch physische Spiele. Welche Prioritäten sollten Einzelhändler in dieser Situation setzen?
Simonetta: Ich gebe Ihnen eine ungewöhnliche Antwort. Meine älteste Tochter wurde im Januar 14 Jahre alt – und was sie sich am meisten wünschte, war ein CD-Player und eine Auswahl CDs. Ich habe darüber schon in der Vergangenheit gesprochen: Bestimmte Geschäfts- und Vertriebsmodelle werden nur im Ausnahmefall alle anderen, konkurrierenden Modelle zerstören. Free-to-play hat Premium nicht zerstört, Abos haben nicht den Verkauf zerstört, die digitale Distribution wird nicht den traditionellen Vertrieb zerstören. Natürlich hat sich der Digitalvertrieb beschleunigt, besonders durch Covid und die Lockdowns. Aber das unterscheidet sich je nach Plattform und Titel. Ein Teil der Thunderful Grup ist die Firma Bergsala, die sehr erfolgreich mit Nintendo zusammenarbeitet. Schaut man sich den Markt in seiner ganzen Ausdehnung an, dann wird klar: Physische Distribution spielt immer noch eine sehr wichtige Rolle – und sie wird sich weiterentwickeln. Man denke nur an Firmen wie Limited Run Games oder Super Rare Games – das ist doch eine Weiterentwicklung, nicht wahr? Der Einzelhandelsvertrieb liegt zwar nicht mehr bei 100 Prozent. Ich glaube aber auch nicht, dass er in absehbarer Zeit verschwinden wird.
IGM: Momentan reden alle von KI und den entsprechenden Tools, mit denen man Spiele quasi aus dem Nichts heraus erschaffen können soll. Wie wird das die Industrie verändern?
Simonetta: Um ehrlich zu sein, versuche ich immer, mich von solchen Buzzwords fernzuhalten. Eine Zeitlang waren es die Social Games, erst kürzlich war es das Metaverse – und momentan ist es KI. Wenn man solche Begriffe verwendet, ist das oft irreführend, weil KI ein solch großes Ökosystem umfasst. Ich denke schon, dass die technologische Entwicklung in diese Richtung gehen wird. Wir brauchen uns ja nur anzuschauen, was Youtube und andere Plattformen mit Video-Content gemacht haben – was Social Media ganz allgemein gemacht haben. Das Gleiche wird auch mit Gaming-Content passieren. Der Player-Creator wird weit über das hinausgehen, was wir heute kennen. (Achim Fehrenbach)