Im Konferenzraum geht es hoch her. Ein Haufen durchgeknallter Executives entwirft wilde Marketingstrategien, wirft sich obszöne Schimpfwörter an den Kopf ... und kommt schließlich auf eine geniale Idee: ein kostenfreies Spiele-Abo, dessen Abonnenten die Spiele zum Vollpreis kaufen können – selbstverständlich völlig gratis! Mit dem "Devolver Max Pass Plus" werde eine neue Ära eingeläutet, so die Verantwortlichen. Nämlich die von "Monetization as a Service".
Deftige PR
Die Szene stammt aus der E3-PK von Devolver Digital. Der Indie-Publisher ist für seine deftige PR bekannt: Im Gründungsjahr 2009 präsentierte Devolver einen fiktiven Chief Financial Officer namens Fork Parker, der immer wieder mit grenzwertigen Auftritten – zum Beispiel in Windeln am Grill – für Aufsehen sorgte. Die Fans des Exzentrikers kamen auch bei Fork Parker's Holiday Profit Hike auf ihre Kosten, einem Steam-Titel, in dem der CFO eine Gruppe untalentierter Spieleentwickler austricksen muss. Jedes Jahr präsentiert Devolver neue, oft sehr unterhaltsame Geschmacklosigkeiten: Der "Devolver Max Pass Plus" ist ein doch recht offensichtlicher Seitenhieb auf die Flatrates diverser AAA-Publisher.
Eine Form der Kuratierung
Allein die PR hätte Devolver jedoch kaum ein solch raubauziges Image verschafft. Von Beginn an setzten die Texaner auf derbe, ungeschliffene und häufig humorige Spiele. Neben Serious Sam von Croteam waren es vor allem Hotline Miami und Shadow Warrior, die Devolver früh ein unverwechselbares Image verliehen. Für Spielefans war das erfrischend neu: Sie waren an die glattgebügelte Mainstream-Kost der AAA-Publisher gewöhnt – und freuten sich über den Underdog, der mit seinen Spielen klare Kante zeigte. Für andere Indie-Publisher war die Devolver-Strategie so etwas wie eine Blaupause: Sie erkannten, dass sie mit einem unverwechselbaren Stil eine treue Fan-Gemeinde um sich scharen konnten. In den letzten zehn Jahren sind denn auch immer mehr Indie-Publisher entstanden, die eigene Schwerpunkte setzen: Sei es nun bei der Ästhetik, beim Gameplay, bei der Erzählweise oder der Kombination aus alldem. Inzwischen gibt es dutzende erfolgreicher Indie-Publisher: von Thunderful bis Raw Fury, von Annapurna Interactive bis Fellow Traveller – um nur einige wenige zu nennen.
Spieleflut
Irgendwann entstand auch der Begriff des "Boutique-Publishers", der eigentlich ganz zutreffend ist. Eine Boutique ist per definitionem ein kleines Ladengeschäft mit einer klar definierten Zielgruppe und einem eng umgrenzten, teils exklusiven Warenangebot: die Nische als Chance, sozusagen. Und ein Ort, zu dem man zurückkehrt, wenn man verlässliche Empfehlungen sucht. "Wenn gewisse Boutique-Publisher ein Spiel veröffentlichen, ist das eine Art Gütesiegel", sagt "Indie Advisor" André Bernhardt. "Devolver ist ja schon lange dabei. Wenn ich die bisherigen Devolver-Titel mochte, dann ist die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass mir auch die künftigen Devolver-Titel gefallen werden." Die Arbeit der Boutique-Publisher sieht Bernhardt als Form der Kuratierung: "Dahinter steht ja auch die Frage, nach welchen Kriterien man aus der Flut der Spiele auswählt, die jeden Tag erscheinen. Für die breite Masse ist es hilfreich, sich an Indie-Publishern zu orientieren, die für die Qualität der Titel bürgen."
Bernhardt selbst hat als "Indie Advisor" eine Berater- und Vermittlerrolle: Er unterstützt Entwickler bei der Suche nach einem Publisher – und berät umgekehrt Publisher, die frische Inhalte suchen. Die Devolver-eigene E3-PK findet Bernhardt ausgesprochen clever: "Die hatten sie eingeführt, um mit den AAA-Publishern mithalten zu können – ohne sich auf deren Spielfeld – also der E3 – auf deren Kostenniveau bewegen zu müssen." Ein anderer PR-Stunt sei der virtuelle Messestand gewesen, den Devolver im Stil eines FPS aufgebaut habe – und dann sogar auf Steam anbot. "Indie-Publisher wie Devolver Digital wissen genau, wie sie ihre Zielgruppen bedienen können", sagt Bernhardt. "Und sie können all das authentisch machen, wovor sich EA oder andere AAA-Publisher wahrscheinlich scheuen würden. Zum Beispiel einen Discord-Server für die Fans betreiben und dort Devs und Spieler miteinander verknüpfen."
Punkrock-Stil
Auch Jason Della Rocca freut sich über die Indie-Revolution am Markt. "Heutzutage gibt es viele großartige Boutique-Publisher", sagt der Kanadier, der schwerpunktmäßig Indie-Devs berät und auch die Firma Execution Labs betreibt, einen Investor und Inkubator. Della Rocca bezeichnet Devolver als den Boutique-Publisher "mit dem größten Kultstatus": "Die haben so eine respektlose Art, einen Punkrock-Stil. Sie haben es gut hingekriegt, ein kohärentes Portfolio zu pflegen – und sie erfreuen ihre wachsende Fangemeinde, indem sie kontinuierlich Spiele mit dem ‚Devolver-Fingerabdruck' veröffentlichen." Auch andere Publisher hätten sich in bestimmten Genres und Zielgruppen etabliert, so Della Rocca: "Zum Beispiel Fellow Traveler und Annapurna bei narrativen Games, Paradox bei Strategiespielen oder auch die Irregular Corporation bei Simulationsspielen." Laut Della Rocca bieten diese Publisher einen wertvollen, immateriellen Service: ihr treues Publikum. "Die Ausrichtung am bestehenden Portfolio gehört zum Wichtigsten, was ein Publisher leistet", so der Berater. "Dein Game bietet den Fans dann mehr von dem, was sie haben wollen."
Ein klares Profil zählt also zu den wichtigsten Assets eines Boutique-Publishers. Bevor wir uns anschauen, wie die Publisher an ihrem Image drechseln, sollte allerdings noch eine Grundfrage geklärt werden: Was ist heutzutage überhaupt "Indie"? "Wenn irgendetwas den Begriff ‚Indie' ausmacht, dann die kreative Freiheit, die das Entwicklerteam hat", betont André Bernhardt. "Die Publisher werden den Entwicklern selbstverständlich sagen, was sie gut und was sie schlecht finden. Aber letztendlich gewinnen Publisher bestimmte Studios für sich, indem sie sie machen lassen – und natürlich fair am Erfolg beteiligen." Demgegenüber ist der Solo-Dev, der ein supernischiges Spiel in der heimischen Garage entwickelt, heute nicht viel mehr als ein Klischee. Mittlerweile gibt es viele aufwendige Produktionen mit einer klaren Strategie", sagt Bernhardt. "Solche Produktionen werden hin und wieder auch als Triple-I-Games bezeichnet – ein Begriff, den ich persönlich nicht mag." Natürlich kommt es immer noch hin und wieder vor, dass Solo-Devs Überraschungshits landen. Doch viele der besonders erfolgreichen Indie-Titel der letzten Monate wurden von Boutique-Publishern veröffentlicht. Zum Beispiel Valheim (von Coffee Stain Publishing). Oder auch Carrion (von Devolver Digital).
Übernahme im Frühjahr
Die Firma Headup aus Düren/NRW zählt zu den bekanntesten deutschen Indie-Publishern. Anfang des Jahres wurde Headup von der schwedischen Thunderful Group übernommen – die mit Thunderful Publishing selbst eine "Spiele-Boutique" betreibt. "Beide Teams ergänzen sich perfekt", freut sich Gregor Ebert, PR-Manager von Headup. "Und zwar durch die unterschiedlich besetzten Positionen, durch enormes Fachwissen in verschiedenen Bereichen – und auch durch die vielen etablierten Kontakte, die auf beiden Seiten einiges einfacher machen." Headup hat sich im Laufe der Jahre einen Namen gemacht – zum Beispiel mit The Inner World, mit Trüberbrook und mit Bridge Constructor: Portal. Bei der diesjährigen E3 kündigte Headup zwar keine neuen Titel an, brachte die bevorstehenden Games aber erfolgreich in Erinnerung. "Die wichtigsten Titel bei Headup sind aktuell der First-Person-Mystery-Shooter Industria, der düstere 2.5D-Plattformer White Shadows und die Weiterentwicklung – beziehungsweise später der Full Release – unserer ersten Inhouse-Produktion, Tinkertown", berichtet Ebert. "Das ist ein prozedurales Multiplayer-Sandbox-Rollenspiel im Pixel-Look." Der Partner Thunderful habe auf der E3 besonders mit dem 2D-Abenteuer Planet of Lana punkten können: Der hübsche Trailer wurde hunderttausendfach angesehen. "Ein weiterer spannender Thunderful-Titel ist das prozedural generierte 2.5D-Action-Spiel Firegirl", sagt Ebert. Hier gelte es, als Nachwuchs-Feuerwehrfrau möglichst viele Zivilisten zu retten.
Das Sichtbarmachen toller Indie-Titel sieht Ebert als Herausforderung. "So schön die große Vielfalt für mich als Indie-Befürworter auch sein mag: Der Begriff ‚wie Sand am Meer' trifft es leider ziemlich perfekt", sagt er. "Es gibt da draußen eine gigantische Menge an Spielen – und sie wird mit jedem Tag größer. Und natürlich will jeder Entwickler und Publisher sein Produkt in den für die potenziellen Käufer sichtbaren Bereich bringen." Aus Eberts Sicht können große Events wie die E3 definitiv beim Sichtbarmachen helfen – auch deshalb, weil im Umfeld einflussreiche Streams (Guerrilla Collective, Summer Game Fest etc.) laufen, die teils millionenfach angeschaut werden. "Besonders in direkter Kombination mit spielbaren Demos auf Steam konnten wir hier in diesem Jahr punkten", berichtet Ebert. Allerdings sei bei solchen Großevents auch Vorsicht geboten: "Zu nischige oder grafisch eher durchschnittliche Spiele gehen schnell zwischen den vielen hochpolierten Titeln unter – oder werden gar von den Zuschauern in der Luft zerrissen." Mit anderen Worten: Die Indie-Kundschaft ist inzwischen durchaus verwöhnt – und achtet sehr genau darauf, welche Titel aus dem (Über)angebot herausragen.
Halten wir als Zwischenfazit fest: Wer als Indie-Publisher erfolgreich sein will, braucht nicht nur tolle Titel – sondern auch eine ausgeklügelte Marketingstrategie. Im zweiten Teil unserer Serie (IGM 10/2021) werden wir uns genauer anschauen, wie sich die einzelnen Publisher positionieren. (Achim Fehrenbach)