Die Vorderseite wirkt dezent, zurückgenommen. Eine dunkelblaue Fläche, in die von links ein knorriger Baum hineinragt. Dreht man das Cover um, so wird es schon interessanter: Eine Märchengestalt mit Flötennase schaut melancholisch zur Seite, den Kopf in die Hände gestützt. Klappt man das Cover auseinander, kommen zwei Sleeves zum Vorschein, die per Guckloch einen Blick auf die Schallplatten gewähren. Eine ist grün, eine rot, und beide sind aus durchsichtigem Vinyl, was natürlich eine Abwechslung vom klassischen Look ist. Kaum legen wir die erste Platte auf, beginnt auch schon eine geheimnisvoll tastende Musik aus Streichergezupfe und Klavier. In der Tat, dies ist keine Erlebnis zum Nebenbeikonsumnieren. Wer Schallplatten hört, muss sich auf sie einlassen. Und sich Zeit nehmen.
"The Inner World 1+2" erschien im Herbst 2017 auf Vinyl. "Über Headup Games hatten wir Kontakt zu Black Screen Records", erzählt Alexander Pieper, Managing Director von Studio Fizbin. Das Kölner Plattenlabel bekundete reges Interesse an einem OST-Release. "Da einige von uns Vinyl-Liebhaber sind, haben wir sofort Herzaugen bekommen und natürlich direkt zugesagt", so Pieper. "Seitdem das eine valide Option für uns ist, würden wir es immer wieder tun." Auch viele andere Spielestudios haben sich in den letzten Jahren für einen Soundtrack-Release auf Schallplatte entschieden: Das Wirtschaftsmagazin Forbes schätzt, dass seit 2010 mehr als 100 OSTs auf Vinyl veröffentlicht wurden. Natürlich ist das kein gänzlich neues Phänomen: Schon in den 1970er Jahren erschien Spielmusik für den Plattenspieler. Einer der ersten Releases dieser Art war – laut Video Game Music Database – eine Platte des Yellow Magic Orchestra aus dem Jahre 1978, die Remixes von Titeln wie Space Invaders und Circus enthielt. Später erschienen dann immer mehr lizenzierte Soundtracks auf Vinyl, zum Beispiel der von Donkey Kong (1983) oder der von Super Mario Bros. (1986). In den achtziger Jahren erschienen laut Jayson Napolitano von Destructoid rund 120 Vinyl-OSTs, in den neunziger Jahren allerdings nur noch 40. Das hatte natürlich mit dem Siegeszug der Compact Disc zu tun, die Schallplatten nach und nach aus den Musikregalen verdrängte. Seit ein paar Jahren allerdings sind Musikschallplatten wieder en vogue – und damit auch Vinyl-Soundtracks von Spielen.
Bekannte Namen
Das britische Label Laced Records wurde 2015 gegründet. Ein Jahr später begann es, Game-Soundtracks in physischen und digitalen Formaten zu veröffentlichen. "Wir begannen mit einer Triple-LP für Hotline Miami, von der wir drei Pressungen verkauften", erzählt Gründer und CEO Danny Kelleher. Seitdem hat Laced Records mit etlichen bekannten Namen der Games-Branche zusammengearbeitet, darunter 2K, Bandai Namco, Bethesda, Capcom, Devolver Digital, Hello Games, Gearbox Software, id Software, Remedy Entertainment, Sega und Square Enix. "Wir haben Soundtracks für handgemachte Indies, klassische Game-Reihen, MMOs und AAA-Blockbuster herausgebracht", berichtet Kelleher stolz. Zu den bekanntesten Titeln zählen Bloodborne, Devil May Cry 5, Doom, Gears 5, No Man's Sky, Shadow of the Tomb Raider, Warhammer und Wolfenstein. Die jüngsten Veröffentlichungen sind eine 4-LP-Box zu Resident Evil 4, eine Doppel-LP zu Tekken/Tekken 2, ein 5-LP-Set zu Dishonored, eine Doppel-LP zu Control ... und eine Collection zu Mega Man X mit sage und schreibe acht LPs. Kelleher kündigt an, man werde dieses Jahr noch sämtliche Soundtracks der Tekken-Hauptserie veröffentlichen. Weitere Vinyl-Releases wird es zu Resident Evil und zu Borderlands 3 geben.
Laced Records ist Teil der Keywords Studios – eines internationalen Konzerns,, der mehr als 50 Studios in 21 Ländern betreibt. Für die Vinyl-Releases nennt Kelleher zwei Hauptzielgruppen: "Sammler von Game-Schallplatten, für die das ein Hobby ist – und Fans der entsprechenden Spiele und Serien, die Musik lieben und ein physisches Luxusprodukt mit wunderschöner Kunst und tollem Design haben möchten." Kelleher geht davon aus, dass längst nicht alle Vinyl-Käufer einen Plattenspieler besitzen – sondern sich die Platten als Eye-Catcher ins Regal stellen. Ähnliches berichtet Sebastian Wolff, CEO von Materia Collective: "Mindestens ein Viertel unserer Fans besitzt keinen Plattenspieler, kauft aber dennoch Platten. Vielen reicht schon die Verpackung, schon das reine Vorhandensein der Platte aus. Schon auf diese Weise können sie das entsprechende Spiel feiern." Was zähle, sei die Quelle und der Kontext der Musik: "Nostalgie muss schön verpackt sein." Wolff ist vor rund 20 Jahren aus Deutschland in die USA ausgewandert. Materia Collective ist ein Label und Musikverlag, dessen ExpertInnen "an der Schnittstelle von Games- und Musikindustrie sitzen", wie Wolff es formuliert. Binnen zweier Jahre sei der Vinyl-Katalog des Verlags auf fast 30 Produkte angewachsen, so der CEO. "Es gibt lizenzierte Musik von Pokémon, The Legend of Zelda und Kingdom Hearts – und Aufnahmen unserer Piano-Collections-Serie." Vinyl-OSTs hat Materia unter anderem zu Moss (Jason Graves), Rend (Neal Acree), CrossCode (Deniz Akbulut) und VVVVVV (Magnus Pålsson) herausgebracht. Für Oktober kündigt Wolff denn auch weitere Releases an: "Wir wollen nichts spoilern – aber wir haben ein neues und spannendes Projekt mit einer 3-Disc-LP."
Nicht nur Schauwert
Was aber macht die Vinyl-OSTs für SammlerInnen so besonders – mal abgesehen vom Schauwert im Regal? "Hier spielen zwei Faktoren eine Rolle", sagt Danny Kelleher. "Erstens muss man sich Zeit nehmen, um sich eine Schallplatte anzuhören und physisch mit dem Produkt zu interagieren." Fans betonen, dadurch stärker auf die Musik selbst zu achten – und es mehr zu genießen, als durch Musik-Streaming-Dienste mit Spreadsheets-Layout zu scrollen. "Der zweite Faktor hängt mit der Quelle der Musik zusammen", sagt Kelleher. "Das analoge Hörerlebnis, das Vinyl bietet, kann Aspekte der Musik herauskitzeln, die in komprimierten Dateien verloren gehen. All unsere Schallplatten sind speziell für Vinyl mastered oder remastered, um eine optimale Klangqualität zu bieten." Laut Sebastian Wolff spielt für SammlerInnen Vollständigkeit eine wichtige Rolle: "Wir versuchen deshalb, keine Lieder wegzulassen oder auszuschließen. Aber veraltete Produktionsmethoden bringen gewisse Beschränkungen mit sich." Will heißen: Ist das Ausgangsmaterial lückenhaft, muss hin und wieder auf Vollständigkeit verzichtet werden.
Mindestens ein Viertel unserer Fans besitzt keinen Plattenspieler
Alexander Pieper ist ein echter Vinyl-Aficionado. "Die wertvollste Platte in meiner Sammlung ist der Hotline Miami 2: Wrong Number OST", sagt er. "Die gab es nur in limitierten Stückzahlen – und ich habe sie mir direkt bei Release besorgt, für rund 60 US-Dollar." Jetzt würden dafür auf ebay und anderen Portalen teils mehrere 100 USD aufgerufen. Zu den besten Vinyl-Releases der letzten Jahre zählt Pieper – natürlich – "The Inner World 1+2", aber auch die Battletoads-LP und die Super Hexagon EP, beide vom kalifornischen Label iam8bit. "Chiptunes kommen einfach ziemlich geil auf Schallplatte", sagt Pieper. "Da trifft Retro auf Retro mit einer ordentlichen Klangdynamik." Für den Spieleentwickler ist Plattenhören definitiv "kein Nebenbei-Genuss, dafür ist es viel zu aufwendig. Man muss die Platte gefühlt ‚ständig' wenden". Piepers Sammlung besteht "ausschließlich aus Spiel-OSTs bzw. -Bands, die ich wirklich liebe". Auch er kann sich aber vorstellen, dass ein Fan Vinyl-OSTs so kauft, "wie er eben auch Collector's Editions kauft. Man stellt sie sich halt hin". Um so wichtiger ist denn auch die Gestaltung der Plattencover. "Eine hohe musikalische und künstlerische Qualität ist für uns entscheidend", sagt Sebastian Wolff.
Langfristigkeit zählt
Bei der Wahl der Releases ist Langfristigkeit für Materia Collective eines der wichtigsten Kriterien. "Wir investieren bevorzugt in Spiele und Partner, die etwas weiter in die Zukunft blicken – über die ‚Haltbarkeit' eines bestimmten Spiels hinaus", betont Wolff – und nennt auch gleich einige grundsätzliche Überlegungen, die sich das Kollektiv in der Vorauswahl der Soundtracks macht. Wichtig sei natürlich die Frage, ob sich Fans auch noch in zehn Jahren voller Nostalgie an ein Spiel und seine Musik erinnern werden. Aber auch: "Bietet das Spiel interaktive Geschichten, die teils durch die Musik selbst erzählt werden? Wurde das Spiel von Personen bzw. Minderheiten erschaffen, die gesellschaftlich unterrepräsentiert sind – und deren kreative Bedürfnisse wir durch eine Veröffentlichung stärken und unterstützen können?" Solche Projekte sind Materia Collective am liebsten, sagt Wolff.
Nostalgie muss schön verpackt sein
Die Community bezeichnet der Materia-CEO als "begeisterungsfähig, sehr aktiv und immer an den neuesten Releases interessiert". Das sei verständlich, "denn es gibt nichts Schöneres als physische Medien, die der Inbegriff des eigenen, nostalgischen Fan-Daseins sind". Danny Kelleher gibt allerdings zu bedenken, dass nur wenige Vinyl-OSTs ein Publikum jenseits der Schnittmenge aus Games- und Plattenfans erreichen: "Das trifft nur auf eine Handvoll Titel zu, beispielsweise Hotline Miami, Journey und No Man's Sky. Dennoch wollen wir schöne Produkte erschaffen, die man besitzen möchte – und wenn sie nur ins Regal gestellt werden." Kelleher sieht Vinyl-OSTs als wachsenden Markt, dessen Potenzial allerdings begrenzt ist: "Es ist ein teures, aber spaßiges Hobby. Nicht jeder mag diesen filigranen Vorgang des Abspielens von Schallplatten. Wir richten uns an ein Nischenpublikum: An Fans dieser Games, die auch Musikfans sind." Wolff konstatiert, dass CDs und Platten von Spiele-Soundtracks immer noch vergleichsweise rar sind: "CDs werden, wenn Spielefirmen sie überhaupt produzieren, in Deluxe Editions zusammen mit Aufklebern und Figuren verkauft. Und nicht separat, wie das eigentlich Standard ist."
Mehrere Vertriebskanäle
Speziell die Vinyl-Soundtracks sind nach wie vor eine ziemliche Nische. Aber was sind eigentlich die wichtigsten Vertriebskanäle der Platten? Und kann vielleicht auch der stationäre Games-Handel von ihnen profitieren? "Als Boutique für Spielmusik ist es am besten, wenn man direkt an die Spiel- und Musikfans verkauft", sagt Sebastian Wolff. "Das machen wir vor allem über Bandcamp und über unserem Online-Shop. Über den Großhandel sind unsere CDs und Platten auch weltweit erhältlich – und in Deutschland bei Black Screen Records, HHV und anderen Händlern." Ob Gaming-Vinyl auch für den stationären Handel ein lohnendes Zusatzgeschäft sein kann, ist laut Wolff schwierig abzuschätzen – besonders in Zeiten von Corona. Gleichwohl ist Wolff hier zuversichtlich: "Vinyl wird auch in der Quarantäne noch verkauft. Ich glaube, dass diese Leidenschaft auch in den physischen Läden zum Ausdruck kommt, sobald sie wieder zugänglich sind." Auch Laced Records setzt beim Vinyl-Verkauf auf unterschiedliche Vertriebskanäle. "Über unseren eCommerce-Store verkaufen wir direkt an unsere Kunden", berichtet Danny Kelleher. "Dort bieten wir tendenziell teils exklusiv unsere Limited Editions an. Außerdem beliefern wir viele Third-Party-Retailer, zum Beispiel Amazon. Und Spezialisten wie Black Screen Records oder Light in the Attic." Dabei handle es sich meist um Standardausgaben mit traditionellen, schwarzen Schallplatten. "Mit dem Laced Store liefern wir nur aus UK und den USA, deshalb sind diese Third-Party-Seller bei Kunden beliebt, die Versandkosten sparen wollen." Vinyl sei wegen Umfang und Verpackung nicht ganz einfach zu lagern, auch die Präsentation am PoS sei eine Herausforderung. "Es passt aber durchaus zu High-End-Merchandise und Collectibles und macht auch eine Menge her."
Alexander Pieper jedenfalls freut sich immer, wenn neue Platten erscheinen. Leider habe er seinerzeit versäumt, den Vinyl-Soundtrack von The Last of Us zu kaufen: "Gustavo Santaolallas Musik passt einfach auf die Ohren, wenn man im Sessel sitzt. Ich hoffe auf einen Re-Release." Definitiv noch kaufen will sich Pieper die EP zum Indie-Hit Ape Out: "Ich habe das Spiel lange vor Release auf einer Convention in Boston mal angespielt und konnte dank Kopfhörer in den durch das Spiel generierten Jazz eintauchen." Bei diesem Release wurde eine Spiel-Session vom Entwickler selbst aufgenommen und auf Platte gepresst. "So ein experimentelles Teil muss ich haben", sagt Pieper.
Fazit: Vinyl-Soundtracks sind eine Nische. Aber definitiv eine Bereicherung für die Spielebranche. (Achim Fehrenbach)