Auf Schatzsuche: Indie-Publisher im Porträt

Hier passt das Bild von der Nadel im Heuhaufen: 2020 erschienen allein auf Steam rund 10.000 Computerspiele – viele von Solo-Entwicklern oder kleinen und mittelgroßen Studios. Beileibe nicht jedes dieser Spiele ist so brillant, dass es ein großes Publikum verdient hätte. Aber es ist sehr schade, wenn ein wirklich brillantes Spiel in der Versenkung verschwindet – nur weil es nicht die nötigen Mittel hatte, um Aufmerksamkeit zu erzeugen. Hier aber kommen Indie-Publisher ins Spiel: Ihr Ziel ist es, die besten Spielprojekte zu finden, zu fördern – und dann zu veröffentlichen. Doch worauf kommt es bei dieser kniffligen Schatzsuche genau an? Darüber haben wir mit einigen der Publisher gesprochen.
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© Mihail/stock.adobe.com
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2020 schien für die Indie-Branche ein bitteres Jahr zu werden: Aufgrund der Pandemie wurden reihenweise Messen und Konferenzen abgesagt – also genau die Events, auf die Indie-Entwickler besonders angewiesen sind, wenn sie Networking betreiben und ihre Spiele anpreisen wollen. Klar, die Event-Absagen waren ein Tiefschlag für die gesamte Games-Branche – aber eben besonders für die kleinen Entwickler, die keine großen Marketing-Mittel zur Verfügung haben. Auch Indie-Publisher standen vor einer großen Herausforderung: Nämlich Aufmerksamkeit für ihr Portfolio zu wecken, ohne physisch präsent zu sein. Was also tun?

Neue Plattform
"Bei der GDC 2020 sollte eine Reihe von The-MIX-Events stattfinden", erzählt Justin Woodward. "Aber dann wurde die GDC wegen der Pandemie abgesagt – und wir mussten uns irgendwie daran anpassen." Woodward ist Mitbegründer von The Media Indie Exchange (The MIX), einer Plattform für Indie-Entwickler und -Publisher. Doch holen wir etwas weiter aus: The MIX gibt es schon seit 2012. Seinerzeit begann Woodwards Team, mit Streaming-Shows in aller Welt für mehr Sichtbarkeit von Indie-Games zu sorgen. Schon früh hatte The MIX prominente Partner und Sponsoren wie IGN, GameSpot, PlayStation, Xbox, Amazon und Google. Zur GDC 2020 sollte eigentlich wieder eine rauschende Streaming-Show stattfinden – doch dann kam die Absage der Konferenzveranstalter, und Woodward musste umplanen. "Twitch war schon jahrelang unser Partner gewesen, die Rahmenbedingungen für die Broadcasts standen bereits fest. Also schufen wir eine Plattform dafür", so Woodward. "Und wir entschieden, etwas zur E3 2020 zu veranstalten, die ebenfalls abgesagt worden war. Schließlich taten wir uns mit Raw Fury und einem Haufen anderer Indie- und Nicht-Indie-Publisher [Larian, Funcom, Paradox etc.] zusammen, um eine Show zu veranstalten. Und das war dann das Guerrilla Collective."

Sofortige Sichtbarkeit – und zwar auf allen Plattformen zugleich

Dieses Guerrilla Collective wurde ein großer Erfolg. So groß, dass Woodward und Co. das Ganze im Jahr 2021 wiederholten – nur noch in größerem Maßstab. "In diesem Jahr haben wir uns mit einer Reihe von Broadcasting-Partnern zusammengetan: mit IGN, GameSpot, Twitch und Steam", erzählt Woodward. "Das Event war also auf der Titelseite all dieser Plattformen präsent und wurde gleichzeitig gestreamt." Ziel des Events war, neue und bevorstehende Releases zu präsentieren – und ebenso neue Inhalte für bestehende Spiele. "Wir zeigen den Leuten auch, warum die Entwickler ihre Spiele machen, wie sie ihre Spiele machen und so weiter", erläutert Woodward. "Folglich gibt es bei uns Entwickler- und Publisher-Interviews. Wir haben uns auch mit Wholesome Direct zusammengetan, einem weiteren Indie-Showcase." Das Guerrilla Collective 2021 war für alle Beteiligten ein Erfolg. "Wir hatten ungefähr eine Million Zuschauer, vielleicht sogar mehr", freut sich Woodward. "Das Coole für die Entwickler war, dass alle Trailer nach der Show an IGN, GameSpot, PC Gamer und Steam verteilt wurden. Unsere Partner erhielten Content – und die Entwickler, mit denen wir zusammenarbeiten, erhielten sofortige Sichtbarkeit – und zwar auf allen Plattformen zugleich." Woodward selbst sorgt für geschmeidige Broadcasts: "Ich kümmere mich darum, dass die Visuals großartig und die Kuratierung gut ist." Sein Team sorgt derweil dafür, dass alles reibungslos läuft – das Geschäft, die Sponsorensuche und so weiter. Und auch wenn heute noch niemand mit Bestimmtheit sagen kann, wie die Situation im kommenden Jahr aussehen wird, so steht doch eines fest: Das Format "Guerrilla Collective" hat sich bewährt. Dass es auch 2022 wieder angeboten wird, ist sehr wahrscheinlich.

Umtriebiger Networker
Dass das Guerrilla Collective so erfolgreich ist, hat viel mit Woodwards Werdegang zu tun. Der Chef-Networker kennt die Bedürfnisse der Indie-Entwickler besonders gut – auch deshalb, weil er selbst ein Spielestudio leitet. Interabang Entertainment arbeitet mit dem US-amerikanischen Film- und Comic-Kreativen Kevin Smith zusammen. "Wir haben ein Spiel namens Jay and Silent Bob: Mall Brawl veröffentlicht", so Woodward. "Außerdem arbeiten wir an einem Spiel namens Jay and Silent Bob: Chronic Blunt Punch. Und an einer Reihe weiterer Projekte." Außerdem ist Woodward für den Publisher Humble Bundle tätig – und zwar als einer der leitenden Berater für den Humble Black Game Developer Fund. "Das ist ein Fonds mit einem Volumen von einer Million Dollar, der für schwarze Entwickler aus Kreativ-Teams in aller Welt erstellt wurde", berichtet Woodward. "Als Berater arbeite ich mit dem Team von Humble Games zusammen: Wir kuratieren Spiele von großartigen schwarzen Entwicklern, die Unterstützung – sowohl finanziell als auch beim Networking – für ihre Spiele benötigen." Für ihn selbst sei die Fonds-Arbeit eine großartige Gelegenheit, Entwicklern aus besonderen Verhältnissen zu helfen, schwärmt Woodward: "Vor allem, weil ich selbst in einer ähnlichen Situation war, als ich in der Branche angefangen habe."

Humble Bundle ist nur einer von vielen Indie- bzw. Boutique-Publishern in den USA. Zu den bekanntesten Namen zählen Devolver Digital (vgl. IGM 09/2021), Annapurna Interactive, tinyBuild, Skystone, Modus Games und Versus Evil. Daneben existieren aber noch viele weitere Unternehmen, die sich noch stärker auf bestimmte Nischen spezialisiert haben – zum Beispiel solche, die vorwiegend Games mit starkem Narrativ veröffentlichen. (Zu den anderen Weltregionen folgen Infos in der kommenden IGM.) Initiativen wie das Guerrilla Collective ermöglichen Indie-Publishern, schlagartig eine Menge "Aufmerksamkeit zu generieren", wie es Neudeutsch heißt. Gleichwohl hat jede dieser Firmen eine ganz eigene Herangehensweise ans Indie-Publishing.

Erfolgreicher Börsengang
Nehmen wir als Beispiel tinyBuild: Die US-Firma wurde 2013 gegründet – und hat sich seitdem zu einem der führenden Publisher und Entwickler von Premium-AA und von Indie-Games gemausert. "TinyBuild erwirbt strategisch IPs und arbeitet mit Entwicklern zusammen, um Multi-Game- und Multimedia-Franchises aufzubauen", sagt CEO Alex Nichiporchik. Man habe ein starkes Portfolio von 40 Titeln, 20 davon seien aktuell in der Entwicklungs-Pipeline. Das Unternehmen hat seinen Hauptsitz in Seattle und nicht weniger als 166 Mitarbeiter auf fünf Kontinenten. "Die geografische Vielfalt von tinyBuild ermöglicht es dem Unternehmen, IPs mit hohem Potenzial und kostensparende Enwicklungsressourcen zu erschließen – und mittels innovativem Graswurzel-Marketing eine loyale Kundenbasis zu erschaffen", betont Nichiporchik. Mit Erfolg: Im März 2021 wurde tinyBuild in den AIM Index der London Stock Exchange aufgenommen. Mit einer Marktkapitalisierung von 340,6 Millionen Pfund.

Das wichtigste Franchise von tinyBuild ist Hello Neighbor. Das Spiel debütierte 2017 auf Windows und Xbox One – und ist mittlerweile auf nahezu allen Plattformen verfügbar. Hello Neighbor ist ein Stealth-Horror-Game: Es geht darum, sich in das Haus eines Nachbarn hi­neinzuschleichen – um herauszufinden, welche schrecklichen Geheimnisse der in seinem Keller versteckt. Dabei tritt man gegen eine recht fortschrittliche KI an, die aus jeder Bewegung lernt – und ihr Verhalten entsprechend anpasst. Zu den wichtigsten tinyBuild-Releases für 2021/22 zählen das Action-RPG Undungeon, das Roguelike Despot's Game, der Alchemie-Simulator Potion Craft, der "Segelsimulator" Trash Sailors – und natürlich Hello Neighbor 2. Die Fortsetzung des tinyBuild-Bestsellers bringt einen neuen Dreh: Nun muss man den verschwundenen Nachbarn finden, während man von einer mysteriösen, KI-gesteuerten Kreatur verfolgt wird. Klingt unangenehm.
 

Wir verstehen besser als andere, womit Studios zu kämpfen haben

 
Starkes Gameplay
Will man die tinyBuild-Games auf einen gemeinsamen Nenner bringen, dann vielleicht so: Sie bieten ein besonders packendes Gameplay. Dass die Firma so dermaßen erfolgreich ist, hat aber noch andere Gründe. "TinyBuild hat als Entwickler begonnen und sich zum Publisher weiterentwickelt", so Nichiporchik. "Das bedeutet, wir verstehen besser als andere, womit Studios zu kämpfen haben – und wo ihr Potenzial liegt." Die MitarbeiterInnen seien das wichtigste Kapital seiner Firma, betont der Gründer. "Wir bemühen uns, ihnen die bestmöglichen Arbeitsbedingungen zu bieten." So habe tinyBuild beispielsweise klare Richtlinien gegen Crunching implementiert, berichtet Nichiporchik. "Im Juni hat tinyBuild allen direkten MitarbeiterInnen eine zusätzliche Woche Urlaub geschenkt, um sich für die harte Arbeit aller zu bedanken." Nichiporchik selbst ist in der Branche sehr sichtbar – und bezieht häufig sehr klare Positionen. Vergangenes Jahr veröffentlichte der CEO ein Youtube-Video mit dem provokanten Titel "Indie Publishing is Dead". Die Kernaussage: Der Markt habe sich über vom alten Modell des One-and-Done entfernt. "Früher hatten Publisher eine rein transaktionale Beziehung zu Studios", sagt Nichiporchik: "Es ging schlichtweg darum, ein Spiel zu veröffentlichen – und dann weiterzuziehen. Das neue Modell ist partnerschaftlich: Der Publisher ist aktiver daran beteiligt, rund um das Spiel auch ein Franchise zu erschaffen. Und es dann auf verschiedene Mediengattungen auszudehnen – von Büchern über Graphic Novels bis hin zu TV-Episoden."

Deutlich jünger als tinyBuild ist Modus Games (vgl. IGM 14/2019). Der Indie-Publisher wurde 2017 von der US-Firma Maximum Games als eigene Abteilung gegründet. Modus Games konzentriert sich auf Full-Service-Publishing für unabhängige Videospielentwickler. Mutter- und Tochterfirma haben insgesamt rund 65 MitarbeiterInnnen, die in den USA, in UK und Brasilien tätig sind. "Unsere Philosophie ist es, weltweit Indie-Entwicklern Publishing-Service auf AAA-Niveau zu bieten", sagt Shane Bierwith, EVP of Global Marketing at Maximum Games and Modus Games. "Das umfasst weltweites Marketing, Produktion, Co-Development und betriebliche Unterstützung. Wir wollen sicherzustellen, dass die Entwickler beim Medienecho und bei den Verkäufen bestmögliche Ergebnisse erzielen." Das Unternehmen wolle seine Aktivitäten weiter ausbauen, so Bierwith: "Wir erwerben weitere Entwicklerstudios, die eigene IPs erschaffen – die aber auch Third-Party-Entwickler unterstützen können, wenn diese keine ausreichenden Ressourcen für ihr geplantes Spiel haben." Man habe bewiesen, dass dieses Modell erfolgreich sei – als Beispiele nennt Bierwith das (in der Tat wunderhübsche) Zeitreise-JRPG Cris Tales und das kunterbunte Top-Down-Kampfspiel Super Animal Royale [Early Access]. Ziel ist laut Bierwith, eine treue Fan-Gemeinde aufzbauen, "die die von uns erschaffenen und veröffentlichten Spiele liebt."

Service für Sammler
Ein Meilenstein der Firmengeschichte war der 29. August 2019: An diesem Tag gab Modus Games die Übernahme des brasilianischen Spielestudios The Balance, Inc. bekannt. Zuvor schon hatten der Publisher und das Studio beim Actionspiel Override: Mech City Brawl zusammengearbeitet. The Balance wurde in "Modus Studios Brazil" umbenannt und arbeitet –  weitgehend unabhängig – an Portierungen, Co-Development sowie neuen IPs. Seit 2019 hat sich Modus Games mit weiteren Studios zusammengetan – sei es nun für physische und digitale Releases oder auch für F2P-Games mit Live-Service. Unlängst hat Modus Games auch eine Collector's Edition für Cris Tales (Dreams Uncorporated) angekündigt – und damit einen ersten Vorstoß in den Collectibles-Markt unternommen. Auch sonst ist der Publisher sehr umtriebig. "Am 20. Oktober 2020 hat Modus Games eine Wohltätigkeitsinitiative namens Games Giving Back angekündigt", berichtet Bierwith. "Dabei spendet das Unternehmen einen Teil der Erlöse jedes Spiels an Wohltätigkeitsorganisationen, die häufig ähnliche Themen wie die jeweiligen Spiele haben." Der Release von Cris Tales (20. Juli) ist übrigens erst der Anfang einer Reihe hochinteressanter Veröffentlichungen: Noch in diesem Sommer erscheinen die finale Version von Super Animal Royale und das Action-Spiel Rustler ("GTA meets Mittelalter"). Im Herbst folgt der Horror-titel In Sound Mind – und 2022 dann das Next-Gen-Action-Games Soulstice. "Wir haben noch viele andere, unangekündigte Games", sagt Bierwith.
 

Indie-Publisher müssen Beziehungen aufbauen

 
Die Games-Branche verändert sich beständig – und damit auch die Arbeit der Indie-Publisher. Möglichst frühzeitig auf neue Trends zu reagieren, sie im besten Fall sogar mitzugestalten – das zählt zu ihren wichtigsten Erfolgsfaktoren. Shane Bierwith sieht Nostalgie als einen der Haupttrends der Branche: "In diesem Bereich ist die Nachfrage hoch. Wir erwarten in den kommenden ein bis zwei Jahren viele weitere Reboots." Ein weiterer Trend – nämlich Abo-Services wie Game Pass oder PS Plus – müssten ebenfalls in die Planung einbezogen werden, so Bierwith: "Indie-Publisher müssen Beziehungen aufbauen, damit sie ihre Inhalte pitchen können. Und sie müssen Ertragsmodelle finden, die die Opportunitätskosten einer Kannibalisierung im traditionellen Premium-Verkauf abwägen." Der Wandel der Ertragsmodelle werde sich auf viele Bereiche auswirken: auf Spiele-Vermarktung, Aufbau und Pflege der Communitys – und auch auf die Spielmechaniken selbst. (Stichwort: Twitch-Tauglichkeit.)

Physisch stark
Interessant ist, dass Modus Games stark auf physische Distribution setzt – damit unterscheidet sich der Indie-Publisher deutlich von etlichen anderen Vertretern seiner Zunft. "Der physische Einzelhandel ist für unser Geschäft nach wie vor ein sehr wichtiger Vertriebs- und Marketingkanal", betont Bierwith. "Da Modus Games ein Geschäftsbereich von Maximum Games ist, haben wir direkten Zugang zu einem der größten physischen Vertriebskanäle weltweit. Und wir sind einer wenigen Publisher, der diese Möglichkeit überhaupt besitzt." (Cris Tales beispielsweise wird in Deutschland von astragon distribuiert.)

Die Vorstellung, dass der physische Verkauf den digitalen Verkauf kannibalisiere, sei schlichtweg falsch, so Bierwith – ein physischer Release habe eine ganze Reihe von Vorteilen. Bierwith zählt sie auf: "Eine größere globale Bekanntheit, eine zusätzliche Marketing-Sichtbarkeit durch jeden Retailer, eine größere Unterstützung durch die Plattform-Partner, genauere Prognosen durch Vorbestellungen. Um nur einige zu nennen." Fazit: Indie-Publisher haben viele Möglichkeiten, die Sichtbarkeit ihrer Produkte zu erhöhen – ob nun durch Streaming-Shows, Networking oder physische Releases. (Achim fehrenbach)

In IGM 11/2021 porträtieren wir weitere Indie-Publisher, ihre Strategien und bevorstehenden Releases.

IGM 10/21
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