Are you serious? IGM-Serie: Serious Games, Teil 1

Was sind die wichtigsten Umsatzbringer im deutschen Spielemarkt? Natürlich AAA-Titel, Hardware und das ganze DLC- und Mikrotransaktionsgedöns. Glaubt man aber dem Bundesverband game, dann steht auch einem anderen Teilmarkt gewaltiges Wachstum bevor: den Serious Games. Für IGM Grund genug, sich die Sparte genauer anzuschauen, deren Potenzial wir in einer zweiteiligen Serie beleuchten. Im vorliegenden Teil 1 geht es zunächst um Themen, Trends und wirtschaftliche Bedeutung, in Teil 2 erörtern wir den Förderbedarf – auch im Vergleich mit anderen Ländern.
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Anfang Juli veröffentlichte der game eine Pressemitteilung. "Der deutsche Markt für Serious Games soll in den kommenden Jahren deutlich wachsen", heißt es darin. "So soll der Umsatz in Deutschland pro Jahr um durchschnittlich 19 Prozent zulegen. Bis 2023 wird demnach mit einem Marktvolumen von 370 Millionen US-Dollar gerechnet." Der Bundesverband bezieht sich dabei auf eine Prognose von PricewaterhouseCoopers. Deutschland liege voll im globalen Trend, so PwC. Weltweit solle der Serious-Games-Sektor ebenfalls jährlich um 19 Prozent wachsen. Und so bis 2023 ein Markt von rund 9,2 Milliarden US-Dollar entstehen.

Rosige Prognose
Das klingt gut. Aber ist es auch realistisch? Tatsächlich kommt auch eine andere Studie zu einer ähnlichen Prognose: Laut Allied Market Research werden Serious Games im Jahr 2023 einen weltweiten Umsatz von 9,167 Milliarden US-Dollar erzielen ("Serious Games Market Outlook: 2023"). Als Key Player in diesem Bereich sieht Allied Market Research Firmen wie BreakAway, Designing Digitally, Diginext, IBM Corporation, Intuition, Learning Nexus, Nintendo, Promotion Software, Revelian und Tata Interactive Systems.

Man muss sich jetzt keineswegs inkompetent fühlen, wenn man aus dieser Liste vielleicht nur IBM und Nintendo kennt. Oder anders formuliert: Diese "Key Player" mögen zwar bei Serious Games eine enorm wichtige Rolle spielen, fliegen in der Games-Branche aber doch ziemlich unter dem Mainstream-Radar. Ohnehin interessiert uns ja zunächst mehr, wie sich die kühne Prognose begründen lässt, dass Serious Games auch hierzulande boomen werden. PwC unterfüttert seine Marktstudie jedenfalls mit den Meinungen von rund 400 deutschen Personalverantwortlichen, deren Unternehmen bereits Serious Games nutzen. 98 Prozent der Personalverantwortlichen finden Serious Games "gut" oder "eher gut", was eine hinreichend unkonkrete Aussage ist. Immerhin haben aber laut PwC 89 Prozent der Befragten "eine verbesserte Lernleistung wahrgenommen", 86 Prozent "denken, dass ihre Mitarbeitenden Gefallen an den Spielen hatten". 76 Prozent haben "eine Motivationssteigerung empfunden", 73 Prozent "sehen das Konzept Serious Games positiv".

Noch immer einige Vorbehalte

Begeisterte Eltern
Man kann jetzt fragen, was genau der Unterschied zwischen "Serious Games gut finden" und "das Konzept Serious Games positiv sehen" ist. Aber das würde dann vielleicht doch eine zu kleinteilige Erörterung. Game-Geschäftsführer Felix Falk jedenfalls zieht aus der Umfrage den Schluss, dass in der Wirtschaft "noch immer einige Vorbehalte" gegenüber Serious Games bestehen, denn Spiele seien für viele "noch das Gegenteil von Arbeit". Falk indes ist rundum zuversichtlich: "Die Umfrageergebnisse zeigen [...], wie positiv Serious Games von Personalverantwortlichen bewertet werden. Mit dem Blick auf die Umbrüche in vielen Branchen sollten mehr Unternehmen mit der Zeit gehen und Serious Games bei der Weiterbildung ihrer Mitarbeitenden einsetzen." Übrigens hat PwC auch bei deutschen Eltern nachgefragt, wie sie Serious Games finden: Von denen haben immerhin schon 74 Prozent Serious Games mit ihren Kindern zusammen ausprobiert – vor allem digitale Lernhelfer für Mathematik, Programmierung, Fremdsprachen und Merkfähigkeitstraining. Beide PwC-Umfragen gingen in den "game Fokus Serious Games" ein, den der Bundesverband im Juli veröffentlichte. Ziel: Ein Überblick "über dieses besonders spannende Feld der Games-Branche". Der Online-Ratgeber bietet neben besagten Studienergebnissen auch eine ganze Reihe von Beispielen, O-Tönen und sogar ein paar Thesen zur Zukunft der Sparte. Zum Beispiel, dass Mobilplattformen, der Gesundheitssektor, VR und AR und auch KI den Serious Games zusätzlichen Auftrieb geben werden.

Um eines vorwegzunehmen: IGM findet den Online-Ratgeber durchaus löblich und Serious Games an sich eine feine Sache. Gleichwohl lassen sich mehrere Dinge hinterfragen. Zum Beispiel, ob die PwC-Wachstumsprognose nicht etwas zu optimistisch ist – in einem Land, in dem der Umsatzanteil "einheimischer" Games beständig schrumpft. Es könnte womöglich sein, dass die Deutschen ein besonderes Talent für "Serious Games" haben – und dass daraus vielleicht sogar Exportschlager wie Autos, Maschinen oder Bier werden. Doch dafür müssen auch die Voraussetzungen geschaffen werden – zum Beispiel durch eine systematische Bundesförderung, die ja bekanntlich auch bei Unterhaltungsspielen derzeit noch mächtig hakt. Ein weiterer Anhaltspunkt für das prognostizierte Wachstum wäre, dass es bereits vitale Serious-Games-Firmen oder gar entsprechende Cluster gibt – auch das wäre noch zu prüfen. Was wir in diesem Special zumindest versuchen wollen.

Definitionssache
Zu Beginn stellt sich aber natürlich die Frage, was überhaupt unter "Serious Games" zu verstehen ist. Denn von dieser Definition hängt unter anderem ab, welche Sparten überhaupt in Statistiken, Umsatzprognosen und so weiter einfließen. Versuchen wir es zunächst mit der Definition aus Wikipedia: Danach versteht man unter Serious Games "digitale Spiele, die nicht primär oder ausschließlich der Unterhaltung dienen, wohl aber derartige Elemente enthalten können". Serious Games bzw. Lernspiele eine das Anliegen, "Information und Bildung zu vermitteln; dies sollte in einem möglichst ausgeglichenen Verhältnis zu Unterhaltungsaspekten geschehen". Wikipedia definiert fürderhin, dass "ein authentisches und glaubwürdiges, aber auch unterhaltendes Lernerlebnis" im Mittelpunkt des Interesses stehe: "Genre, Technologie, Plattform und Zielgruppe variieren hingegen."

Fassen wir zusammen: Serious Games sollen Wissen vermitteln, aber auch unterhalten. Doch welche Themen beackern sie? "Es sind nahezu alle Anwendungsfelder möglich", sagt Linda Breitlauch, Professorin für Game-Design (genauer: "Intermedia Games") an der Hochschule Trier. Ihr zufolge umfasst die Serious-Games-Palette "Aus- und Weiterbildung in Betrieben, Lernspiele in der Schule flankierend zu Unterrichtsthemen, natürlich therapeutische Spiele zur Unterstützung klassischer Therapiemethoden – bis hin zu Themen mit gesellschaftspolitischer Relevanz." Hier nennt Breitlauch Themen wie Umweltschutz, Nachhaltigkeit, Energieversorgung, Mobilität und Smart Cities. "Ein Serious Game ist dann sinnvoll und nutzbringend", so die Professorin, "wenn die Bedarfe der Zielgruppe gut evaluiert, in einem sinnvollen pädagogischen Konzept entwickelt und entsprechend der jeweiligen Problemfelder in eine sinnvolle Spielmechanik übersetzt werden können".

Spaß muss sein
Das klingt nach einer ziemlichen Herausforderung – die es auch ist. Das bestätigt Thomas Bedenk, Director Immersive Media bei der Berliner Firma Exozet. Serious Games würden häufig als sperrig empfunden, weil die falschen Schwerpunkte gesetzt würden, so der Experte. "Das liegt häufig nicht am Entwickler, sondern eher an der Konzeption. Häufig werden sie zu sehr vollgepackt mit Faktenwissen, das mehr oder weniger interessant abgefragt wird." Der Mensch lerne ja besonders gut spielerisch, weil Ausprobieren und Entdecken Spaß mache und es dabei keine echten negativen Konsequenzen gebe. "Gute Serious Games sollten vor allem erstmal Spaß machen und auf eher implizite Weise Erfahrung mit Inhalten und Prozessen vermitteln", erläutert Bedenk. "Auch deshalb ist die Benennung als ‚Serious' so ungeschickt." Serious Games sollten laut Bedenk mit anderen Lernmethoden verschränkt werden und da ihre Stärken ausspielen, wo sie besonders effektiv seien: "Um das volle Potenzial auszuschöpfen, muss man bei der Konzeption vor allem mutig genug sein, den Spielspaß als Hauptmotivator in den Vordergrund zu stellen und das Spiel erstmal Spiel sein lassen." Auch Linda Breitlauch sieht Dinge wie "Probehandlung", "Selbstwirksamkeit" und die "Freude am Lernfortschritt" als wichtige Qualitätskriterien. Oder anders formuliert: Wer drei trockene Vokabelaufgaben löst und dafür eine virtuelle Ritterrüstung bekommt, wird das wohl weniger spaßig finden, als wenn die Vokabelabfragen in das mittelalterliche Gefecht eingebunden sind. (Wir stellen uns hier einfach eine montypythoneske Szene vor.)

Der Bundesverband game führt in seinem Serious-Games-Ratgeber ein paar konkrete Beispiele auf. Etwa das Point-and-Click-Adventure "Moving Tomorrow – An Intercultural Journey" von der Berliner Firma waza!, das 2019 für den Deutschen Computerspielpreis nominiert war. SpielerInnen schlüpfen in die Rolle von Lucy, die im Öko-Start-up Runergy arbeitet, dafür die ganze Welt bereist und mit unterschiedlichen Unternehmenskulturen konfrontiert wird. Das Spiel wird unter anderem an der Berliner Business School ESCP Europe in Seminaren genutzt, um interkulturelles Wissen zu vermitteln. Waza!-Gründer und CEO Eric Jannot erläutert gegenüber IGM die Zielsetzung seines Unternehmens: "Wir entwickeln vorrangig für Institutionen Spiele, die sich mit Themen der politischen Bildung sowie Medienkompetenz auseinandersetzen. Einige Unternehmen haben uns auch kontaktiert, um maßgeschneiderte Spiele für sie zu konzipieren, die spielerisch Fähigkeiten vermitteln – wie zum Beispiel ein gamifiziertes Onboarding für ein Call-Center." Militärische Aufträge sowie Aufträge von ethisch fragwürdigen Unternehmen – zum Beispiel Geldspielanbietern – lehne waza! hingegen prinzipiell ab. Neben Moving Tomorrow hat die Firma auch das preisgekrönte Spiel Konterbunt entwickelt, das SpielerInnen dabei unterstützt, Argumente gegen Stammtischparolen zu entwickeln.

Gesund und nachhaltig
Jannot ist der Meinung, dass sich bei Serious Games enorm viel getan hat: "EntwicklerInnen achten viel mehr darauf, dass der Lernaspekt nicht schwerfällig über ein Spiel gestülpt wird, sondern mit den Spielmechaniken und der audiovisuellen Gestaltung eine Einheit bildet. Mittlerweile gibt es zudem bei den Auftraggebern weniger Berührungsängste mit dem Medium Spiel: Gute Unterhaltung und eine gehaltvolle Botschaft schließen sich nicht gegenseitig aus." Aus Sicht von Linda Breitlauch tut sich gerade besonders viel in den Bereichen Health Games und Nachhaltigkeit: "Mobile Plattformen werden für Lernprogramme immer attraktiver, da sie erlauben, zwischendurch kleine Lern- und Trainingseinheiten zu absolvieren." Stefan Göbel von der TU Darmstadt sieht Serious Games als Türöffner für Bereiche wie Bildung und Gesundheit: "Dabei werden Game-Konzepte und Game-Technologie genutzt, um Wissen zu vermitteln, spielerisch die Fitness zu verbessern oder auf spielerische Art und Weise auf gesellschaftlich relevante Themen wie verantwortungsvolle Digitalisierung, Sicherheit, Energie oder umweltfreundliches Mobilitätsverhalten hinweisen." Alles Themen, die in der heutigen Zeit hochgradig relevant sind.

 

Wir entwickeln vorrangig für Institutionen

Laut Göbel spielen Serious Games aus wirtschaftlicher Sicht allerdings noch eine vergleichsweise geringe Rolle im gesamten Spielemarkt: "Genaue Marktzahlen gibt es nicht, da die Produktion von Serious Games oftmals als B2B-Auftragsarbeiten durchgeführt werden und die Entwicklungsbudgets nicht veröffentlicht werden." Allerdings ist Göbel optimistisch, dass die Bedeutung von Serious Games kontinuierlich wachsen wird – auch er bezieht sich dabei auf Studien wie die von PwC. Zwischenfazit: Serious Games sind enorm vielfältig. Doch um ihr Potenzial auszuschöpfen, brauchen sie noch mehr Sichtbarkeit, Expertise und Förderung. (Achim Fehrenbach)

In Teil 2 unseres Specials (IGM 13/2020) wird es um genau diese Aspekte gehen: Wie erreichen Serious Games mehr Aufmerksamkeit? Wie werden sie bereits gefördert? Und wo lässt sich die Förderung noch verbessern?

 

IGM 12/20
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