Kraftvolle Nachbarn? Die polnische Games-Branche im Überblick

Cyberpunk 2077, Dying Light, Frostpunk: Die polnische Games-Industrie ist ein euro­päisches Powerhouse. Die Krise der Branche geht allerdings nicht spurlos an unseren Nachbarn vorüber. Wie also ist derzeit die Stimmung bei polnischen Ent­wicklern und Publishern? Wir haben mit mehreren Branchen-Akteuren gesprochen.
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Vom 24. bis 27. Oktober findet in Poznan die Game Industry Conference (GIC) statt, eine der wichtigsten Fachkonferenzen der polnischen Spielebranche. Parallel zur Endkundenmesse Poznan Game Arena (PGA) wird es bei der GIC jede Menge Panels, Fachvorträge und Meeting-Möglichkeiten geben. Zu den prominentesten Speakern vor Ort zählen David Santiago von Insomniac, Martha Weiss von IO Interactive, Sami Mylly von Fingersoft und André Berg Bragason von CCP Games. Die GIC-Veranstalter prophezeien ein Wachstum gegenüber dem Vorjahr – und rechnen mit gut 4.000 FachbesucherInnen.

Diverses Ökosystem
AAA-Releases, Indie-Perlen und ein vielfältiges Ökosystem: Die polnische Games-Industrie erscheint selbst in der globalen Branchenkrise erstaunlich vital. Das Flaggschiff CD Projekt Red feierte mit dem Cyberpunk-2077-Addon Phantom Liberty einen veritablen Erfolg und sitzt schon an Project Orion, dem Nachfolger von Cyberpunk 2. Das Studio Techland bastelt derweil an Dying Light: The Beast, das in Q1/Q2 2025 an den Start gehen soll. Bloober Team hat gerade mit Silent Hill 2 ein hochgelobtes Remake vorgelegt, und auch sonst kommt aus Polen ein unerschöpflicher Strom an Spielen. Das hat natürlich mit der schieren Größe der dortigen Industrie zu tun. „Mit 15.000 Beschäftigten in der Games-Produktion ist Polen zu einer der weltweit bedeutendsten Spielequellen geworden“, sagt GIC-Chef Jakub Marszalkowski. „In Europa haben wir Deutschland überholt und liegen in etwa gleichauf mit Frankreich, nur Großbritannien ist als Spieleproduzent eindeutig größer.“ Auch die Vielfalt macht Polens Games-Branche so stark: Sie hat ein Ökosystem, in dem sich AAA neben AA und Indie tummelt. Marszalkowski will allerdings nicht übertünchen, dass die heimische Branche derzeit vor besonderen Herausforderungen steht. „Polen war schon vor der Krise bei der Rentabilität nicht so gut wie etwa die skandinavischen Länder“, sagt er. „Und jetzt, während oder hoffentlich nach der Krise, sind alle Budget-Faktoren noch schwieriger. Der Zugang zu Finanzierung oder Investitionen ist überall begrenzt.“

Wie gut geht es der polnischen Games-Branche also wirklich? Marszalkowski ist Mitverfasser eines online verfügbaren Branchenberichts aus dem vergangenen Jahr („The game industry of Poland — report 2023“). Der Bericht ist also nicht mehr taufrisch, enthält aber einige Passagen, die zumindest Trends erkennen lassen. „Im Mai 2023 gab es in Polen rund 494 aktive Spielehersteller und -Publisher“, heißt es auf S. 9. Und weiter: „Die Zahl der Studios ist fast zum Stillstand gekommen, nachdem sie sich in den letzten zehn Jahren mehr als verdoppelt hatte.“ Zum jetzigen Zeitpunkt lasse sich nicht sagen, „ob diese Statistik eine Art Plateau erreicht hat, von dem aus sie nach Erfüllung bestimmter Kriterien wieder zu wachsen beginnt – oder ob wir bald mit einem Rückgang der Zahl der Studios rechnen müssen“. Noch immer kämen jedes Jahr Neugründungen hinzu, so der Report – und seien auch besser vorbereitet als je zuvor. „Sie ersetzen jedoch in der Regel die aufgelösten Unternehmen und tragen nicht mehr so stark wie früher zum Gesamtanstieg der Zahl der Unternehmen in dieser Branche bei“, heißt es weiter. Das klingt dann doch nicht mehr ganz so dynamisch wie noch vor ein paar Jahren.

 

In Europa haben wir Deutschland überholt

 

Schnell profitabel
Wie aber sehen polnische Branchenvertreter die Entwicklung? Wie ergeht es ihren Unternehmen – und welche Transformationsprozesse erkennen sie in der Branche? Wir fragen zunächst bei 11 bit studios nach: Die Warschauer Firma (This War of Mine, Children of Morta) zählt zu den renommiertesten Entwicklern und Publishern des Landes. Gerade erst im September hat 11 bit das Aufbaustrategiespiel Frostpunk 2 herausgebracht und dafür sehr gute Bewertungen erhalten (Metacritic-Durchschnitt: 86/100). Bereits nach drei Tagen hatten mehr als 350.000 User das Spiel gekauft und die Entwicklung damit bereits profitabel gemacht – wobei das den Shareholdern offenbar noch nicht reichte: Die Aktie brach nach Verkündung der Zahlen direkt um 38 Prozent ein.

Für 11 bit dürften die sehr guten Kritiken in der Presse und auf Steam in jedem Fall eine Genugtuung sein. Als wir den Director of Business Development bei der diesjährigen gamescom – also vor dem Frostpunk-2-Release – trafen, war Piotr Bajraszewski die Spannung noch deutlich anzumerken: Schließlich hatte das Team seit mehreren Jahren an dem Sequel gearbeitet und hoffte nun, an den Erfolg des ersten Frostpunk-Spiels von 2018 anknüpfen zu können. Löblicherweise nahm sich Bajraszewski Zeit, mit IGM auf der Messe über die polnische Games-Branche zu sprechen – und nahm dabei auch kein Blatt vor den Mund. „Wir hatten in Polen einen Boom“, blickt er zurück. „Im Jahr 2020, als Covid aufkam, schossen die neuen Entwicklerfirmen aus dem Boden. Ich glaube, wir haben etwa 90 oder 100 Unternehmen an der polnischen Börse – das ist eine enorme Zahl.“ Darunter seien eine Handvoll Mobile-Game-Studios, der Rest entwickle für PC und Konsolen. Bajraszewski sieht die polnische Games-Branche in einer Konsolidierungsphase: „Vor allem die börsennotierten Unternehmen versuchen, sich umzustrukturieren“, berichtet er. „Sie machen also nicht offiziell dicht, aber es gab viele Unternehmen, die vor kurzem rund 90 Prozent ihrer MitarbeiterInnen entlassen haben.“

Neue Rahmenbedingungen
Dass es Probleme gibt, hat laut Bajraszewski auch mit den steigenden Produktionskosten zu tun. „Wenn wir uns das Budget für die Spieleentwicklung anschauen, das wir vor fünf, sechs Jahren hatten, wäre es heute unmöglich, solche Spiele für so wenig Geld zu entwickeln“, sagt er. „In Polen ist es immer noch billiger als in Deutschland oder den USA, aber wir sind kein Land mehr für niedrige Budgets.“ Dennoch bleibt Bajraszewski positiv: „Das Gute ist, dass wir in Polen eine sehr starke Industrie mit talentierten Leuten haben. Und es gibt immer noch Spiele, die sich sehr gut verkaufen, auch wenn einige Unternehmen untergehen.“ Bajraszewski glaubt, dass einige Firmen „die nächsten zwei oder drei Jahre leider nicht überleben werden“. Als große Herausforderung sieht er – ähnlich wie Jakub Marszalkowski – die Suche nach frischem Geld. „Aber auf der anderen Seite sehen wir schon jetzt, dass neue Investitionen nach Polen kommen, dass Kreative für ihre Arbeit gewürdigt werden und dass neue Projekte auf den Markt kommen“, freut sich der Business Director. „Ich denke also, dass es uns nach der Konsolidierung und einer gewissen Bereinigung gut gehen sollte. So etwas ist uns schon einmal passiert. Es ist nur ein Zyklus.“

Ein weiterer Experte, den wir bei der gamescom treffen, ist Jakub Kwinta. Als Head of Publishing arbeitet er für eine aufstrebende Firma aus Katowice, nämlich Anshar Publishing. Die Firma gehört zur Anshar Group und ist das Schwesterunternehmen der Anshar Studios, die derzeit rund 150 Fachkräfte beschäftigen. „Wir bieten Marketing- und Publishing-Services sowie Crowdfunding-Unterstützung für andere unabhängige Spieleentwickler“, berichtet Kwinta – und sieht den inhaltlichen Schwerpunkt im Boutique-Publishing. „Bisher haben wir uns auf isometrische, narrative RPGs konzentriert, aber im Moment versuchen wir – auch aufgrund der Marktveränderungen –, unser Portfolio zu erweitern“, berichtet er. „Wir haben also RPGs, wir haben Roguelites, wir haben Würfelspiele und wir haben auch familienfreundliche Koop-Games.“ Bei der gamescom zeigte Anshar Publishing vier Titel, nämlich Bytebond (DVD Unicorns), Sigilfarer (Viabo Games), Coridden (Aftnareld) sowie Zoria: Age of Shattering (Tiny Trinket Games). DVD Unicorns und Viabo Games sind polnische Studios, die anderen Firmen stammen aus Schweden und Rumänien. Genau das sei die Idee gewesen, erläutert Kwinta: „Sich für externe Kunden zu öffnen, für kleinere Studios aus verschiedenen Ländern.“

 

Kein Land mehr für niedrige Budgets

Zahlreiche Kooperationen
Im IGM-Interview spricht Kwinta auch über die große Unternehmensschwester, die Anshar Studios. Der Entwickler strebe stark nach Full SKU Development; zudem biete er Auftragsarbeiten wie Programmier-, Design- und Art-Services an. „Anshar Studios hat bereits mit Bloober Team bei Layers of Fear und bei Observer: System Redux zusammengearbeitet“, berichtet Kwinta. „Wir haben auch mit Larian Studios an Baldur‘s Gate 3 und an Divinity: Original Sin gearbeitet.“ Im Moment verfolge man ein paar Projekte aus dem AAA-Bereich – zu denen könne er aber derzeit noch nichts verraten. Die Situation der heimischen Spieleproduktion ist aus Kwintas Sicht nicht gerade rosig. „Ich bin mir ziemlich sicher, dass es in der polnischen Games-Industrie weitere Entlassungen geben wird“, sagt er. Als Firma für Auftragsarbeiten sei Anshar Studios davon aber nicht so sehr betroffen: Man habe ein paar Anpassungen (inkl. Budget-Kürzungen) vornehmen müssen, ansonsten aber seien Auftragsarbeiten ein vergleichsweise sicheres Geschäftsmodell. „Wir wünschten, wir könnten Work for Hire von A bis Z machen“, sagt Kwinta. „Dann hätten wir Full SKU Development, und alle unsere Profis würden an dem das Spiel arbeiten.“ Allerdings sei der Markt derzeit ein „abgrundtiefes Loch“. Anshar versuche deshalb, sich breiter aufzustellen und mehr Spiele ins Portfolio zu nehmen. „Manchmal braucht ein Kunde nur Programmierunterstützung oder Outsourcing für die Designer, also versuchen wir, verschiedene Spiele in verschiedenen Entwicklungsstadien zu haben.“ An Massenentlassungen werden man so glücklicherweise vorbeikommen; die derzeitige Zahl an MitarbeiterInnen werde von der Auftragslage gerechtfertigt.

Für die polnische Games-Branche sieht Jakub Kwinta durchaus Herausforderungen. „Es ist nicht so, dass wir nicht vom ‚Krisenblitz‘ getroffen werden“, sagt er. Auch in Polen gebe es Höhen und Tiefen, „vor allem in Bezug auf die Anzahl der Spiele, die wir ausliefern, und in Bezug auf unsere Spielefirmen“. Gleichwohl bezeichnet Kwinta die polnische Games-Branche als „nach wie vor ziemlich stark“. Als Beispiel nennt er den Gaming-Hub, den Schlesien gerade in Katowice aufbaut – einer Stadt, die ja auch für die Intel Extreme Masters bekannt ist. „Es ist gut, dieses große E-Sport-Turnier in unserer Stadt zu haben“, lobt Kwinta, vergisst aber auch nicht, die dort ansässigen Spielefirmen zu nennen. „Artifex Mundi zum Beispiel entwickelt Wimmelbildspiele“, berichtet er. „Wir haben auch Farm 51 mit Chernobylite 2.“ Katowice sei in puncto Spieleentwicklung zwar „nicht das Silicon Valley Polens“, sagt Kwinta. „Aber es ist gut, dass die Regierung das dortige Potenzial sieht.“ Als Zentren der polnischen Games-Entwicklung nennt der Experte neben Warschau auch Krakau, Breslau, Danzig, Poznan und Lodz. „Dank der Offenheit für Remote Work ist es nicht so wichtig, in welcher Stadt man lebt“, betont Kwinta. „Natürlich ist die Intensität in den großen Städten höher – dank der Gaming-Hubs und der Orte, an denen man Spiele ausprobieren kann.“ Zu den wichtigsten Branchen-Events zählt er – neben der GIC – auch Digital Dragons in Krakau, DevGAMM in Danzig, das Promised Land Festival in Lodz sowie den gameDev Evening, der in der Nähe von Warschau stattfindet. Genügend Orte also, um das polnische Ökosystem weiter zu vernetzen.

Neuer Dienstleister
Zu diesem Ökosystem zählt auch die Firma ReadyCode aus Warschau. Deren Co-Founder und COO Michael Szklarski treffen wir ebenfalls auf der gamescom. „ReadyCode bietet eine Reihe von Produkten und Dienstleistungen an, die sich auf User-Generated Content konzentrieren“, erläutert Szklarski. „Manche nennen das Mods, also Modifikationen für Games.“ ReadyCode unterstütze Entwicklerstudios darin, bestimmte Features wie Karten-, Character- oder Fahrzeug-Editoren in ihre Spiele einzubauen. Ein solcher Einbau dauere nur wenige Wochen – und nicht etwa Wochen und Monate, wie das bei hauseigenen Editoren oft der Fall sei. „ReadyCode ist ein Tool, das für den Betrieb keine Server benötigt“, erklärt Szklarski. „Es läuft in jedem Spiel – es ist eine Art lokaler Editor.“ Die von den Usern auf PC, Konsolen oder Smartphone erstellten Mods lassen sich direkt auf Partner-Plattformen wie  Mod.io, CurseForge oder Steam Workshop hochladen – und auf diese Weise mit anderen Usern teilen. Entwicklerstudios erwerben eine Lizenz, um ReadyCode nutzen zu können, so der COO. „Sie kaufen also ein SDK von uns, passen es an und verwenden es für ihre Spiele.“

Doch wie kam Szklarski eigentlich auf die Geschäftsidee? „Ich bin seit 2001 Modder und Erschaffer von UGC“, erläutert er. Alles habe mit dem Modding von The Elder Scrolls III angefangen. Inzwischen ist ReadyCode auf Wachstumskurs – weil es mit dem Service ganz offensichtlich eine Marktlücke aufgetan hat. Durch die Zusammenarbeit mit internationalen Spielestudios sammle sein Unternehmen wertvolle Erfahrungen und Glaubwürdigkeit, freut sich Szklarski. „Diese Erfahrung ist eine hervorragende Ausgangsbasis für die Ausweitung unserer Services auf andere europäische Länder und auf die Vereinigten Staaten.“ Dort arbeitet ReadyCode beispielsweise mit den Gaggle Studios aus L.A. zusammen, die den Indie-Hit Goose Goose Duck entwickeln – ein Game mit einem ähnlichen Prinzip wie das äußerst erfolgreiche Among Us.

Bei der gamescom war ReadyCode – so wie 11 bit und Anshar Publishing – am polnischen Gemeinschaftsstand präsent. „Es ist sehr schön, dass wir hier einen Platz bekommen haben und die Möglichkeit haben, unsere Technologie vorzuführen – und in den B2B-Teil der gamescom-Konferenz zu gelangen“, sagt Szklarski. Die Teilnehmer der „Polish Booth“ haben einmal mehr bewiesen, wie vielfältig die Games-Branche unseres Nachbarlands ist – und wie vital selbst in der Branchen-Krise. (Achim Fehrenbach)

IGM 12/24
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