Nischengenres: Die Faszination des Andersartigen

Globalstrategie, Dating Sims und Visual Novels oder doch Hardcore-Simulationen mit hohem Anspruch: Computer- und Videospiele aus Nischengenres versprechen Spaß fernab des Mainstream-Einerleis. Was macht die Nische für Gamer attraktiv? Und wieso können dort auch Entwicklerteams den Erfolg finden?
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© Alterfalter/stock.adobe.com
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Der Duden definiert die Nische als "privaten, gesellschaftlichen Rückzugsort; Bereich, der [trotz ungünstiger Umstände] relative freie Entfaltung erlaubt". Bezogen auf Genres für Computer- und Videospiele wird der Begriff "Nische" oft verwendet, um alles Spielbare einzuordnen, das nicht oben in den Verkaufscharts steht oder dem aktuellen Mainstream angehört. Digitale Spiele aus Nischengenres besitzen einen besonderen Reiz: Sie setzen sich von aktuellen Trends ab und gehen eigene Wege. Aber genau deshalb sind sie und ihre Faszination auch schwer greifbar – sowohl für Spielerinnen und Spieler als auch für Entwickler und Publisher.

Aufsteiger, Absteiger und Neuschöpfungen
Denn auch der Gaming-Sektor der Nischengenres ist ständigen Entwicklungen unterworfen. Einstmals populäre Genres verlieren mit der Zeit an Reiz, werden abgelöst und rutschen so in die Nische ab. Während etwa Point-and-Click-Adventures Anfang der 1990er-Jahre dank Titeln wie "The Secret of Monkey Island" oder "Day of the Tentacle" boomten, wurden Adventures zunehmend zu Liebhaberspielen. Daedalics "Deponia"-Reihe (ab 2012) oder auch "Thimbleweed Park" (2017) feierten zwar immer noch Achtungserfolge, die Dichte an veröffentlichten Adventure-Spielen ließ aber spürbar nach. Entsprechend widmeten sich Entwickler angesagteren und finanziell vielversprechenderen Genres. Aus den traditionellen Adventures mauserten sich Untergenres wie interaktive Filme im Stile von "Heavy Rain" (2010), "Life is Strange" (2015) oder "The Walking Dead" (ab 2012). In diesen Werken stehen die Geschichte und deren Beeinflussung durch Entscheidungsoptionen stärker im Mittelpunkt als Rätsel und das richtige Kombinieren gefundener Gegenstände.

Inspiration für Triple-A-Produktionen

Im gleichen Atemzug aber dienen Nischengenres auch immer wieder als Inspiration für Triple-A-Produktionen. Das vom finnischen Studio Housemarque entwickelte und von Sony vertriebene PlayStation-5-Actionspiel "Returnal" greift mit dem sehr hohen Schwierigkeitsgrad, einem Rogue-Lite-System und Bullethell-Action gleich mehrere Gameplay-Elemente aus Nischengenres auf. "Returnal" passte trotz Hochglanzgrafik so gar nicht in den aktuellen Trend, erhielt allerdings gute Kritiken und verkaufte sich in den ersten Monaten seit seinem Release Ende April 2021 weltweit 550.000 Mal. Viele Spieler und Kritiker beklagten sich allerdings über die "untypische" Speicherfunktion und den hohen Schwierigkeitsgrad. Housemarque-CEO Ilari Kuittinen bedankte sich nach Beendigung der Entwicklung bei Sony für die Unterstützung. Schließlich sei das Projekt in Zeiten entstanden, in denen Spiele-Publisher immer weniger kreative Risiken eingehen würden.

Der Begriff "Nischengenre" hängt indes nicht nur vom Verkaufserfolg, sondern auch von der Sichtweise ab. Beispielsweise genießen Prügelspiele wie "Tekken" oder "Soul Calibur" ein hohes Ansehen, besitzen aber doch eine vergleichsweise kleine Zielgruppe. Ganz im Gegensatz etwa zu Wimmelbildspielen, die zwar von Core-Gamern verspottet werden, aber bei älteren Gelegenheitsspielern einen Stein im Brett haben.

Spielspaß fernab des Mainstreams
Eine klare Kategorisierung der Nischengenres lässt sich also schwer treffen. Oftmals greifen Produktionen Subgenres auf oder vermischen gar bekannte Spielarten miteinander. Allerdings steht häufig die Andersartigkeit des Erlebens für die Spielerinnen und Spieler im Mittelpunkt dieser Einordnung. In der Nische spielt es sich anders als bei "Far Cry", "The Last of Us" oder "Call of Duty": Mal komplexer, mal künstlerischer oder mit stark erzählendem Charakter. Entwickler probieren sich in der Nische aus, und Interessierte finden hier Abwechslung, Komplexität, Andersartigkeit oder sogar Eskapismus.

Gerade im Sektor der Simulationen und Global- beziehungsweise Grand-Strategiespiele finden sich echte Brocken, die Otto-Normal-Spieler überfordern, aber wahre Cracks mit ihrer Tiefe Hunderte von Stunden motivieren. Das von Paradox Interactive entwickelte "Crusader Kings III" (2020) mag zwar zugänglicher als seine Vorgänger sein, setzt Möchtegern-Herrschern aber weiterhin in einen Mittelalter-Sandkasten und lässt sie ihre Version von "Game of Thrones" nachspielen. Von der Kriegsführung bis zur Familienplanung liegt hier das Schicksal der eigenen Dynastie nahezu vollständig in den Händen der Spielerinnen und Spieler. In die gleiche Kerbe schlagen die "Europa Universalis"-Serie (seit 2000) oder auch "Hearts of Iron IV" (2016). Die Faszination hinter diesen Simulationen: Entscheidungsmöglichkeiten, Komplexität und ein individuelles Spielerlebnis.

Das genaue Gegenstück dazu scheinen die aus Japan stammenden Visual Novels wie "Phoenix Wright: Ace Attorney" (ab 2001) oder "Doki Doki Literature Club!" (2017) zu sein. Dabei handelt es sich um virtuelle Bücher, in denen man durch Entscheidungen die Handlung mitprägt und so oft auf positive, aber auch negative Enden zusteuert. Im Gegensatz zu den angesprochenen Strategiespielen und Simulationen erfordern Visual Novels keinerlei spielerische Fertigkeiten. Der Reiz besteht in der mitbestimmbaren Handlung und dem oft an Animes orientierten Zeichenstil. Spannend: Inzwischen kristallisierte sich aus den Visual Novels das Subgenre der Dating Sims heraus, die immer stärker ihren Weg in den Westen finden und Liebe sowie Zwischenmenschliches als Aufhänger nehmen.

Titeln aus Nischengenres kommt nicht selten ein künstlerischer und kreativer Charakter zu: In "Penko Park" (2020) etwa gehen User auf Fotosafari und machen in einem kunterbunten Wildpark Aufnahmen der dortigen Tiere. Titel wie "NUTS" (2021) oder "Mýrdalssandur, Iceland" (2020) rücken ebenfalls den "Fotomodus" sowie das Erleben und Erforschen der Spielwelt ins Gameplay-Zentrum. Ganz wichtig: Keine Gewalt! Im Gegensatz zu vielen modernen Blockbustern verzichten diese Spiele auf Action, sie entführen Nutzer stattdessen in andere Welten – ganz ohne Erfolgsdruck oder Wettbewerb mit anderen Teilnehmern. Den Faktor des "Erlebens" einer Welt nahmen in der Vergangenheit auch Spiele wie "Journey" (2021) oder zuletzt "Sable" auf.
 

Aus der Masse hervorstechen

 
Spiele aus Nischengenres bieten Usern eine andersartige Spielerfahrung, künstlerischen Anspruch oder auch mehr Tiefe. Die Faszination liegt hier auch im Erkunden des Unbekannten und im Entdecken neuer Spielarten. Zugleich aber dienen Nischengenres immer wieder als Inspiration für die großen Produktionen und sind somit ein wertvoller Teil der Gamesbranche.

Die Nische als Chance
Für Entwickler können Nischengenres zudem eine Möglichkeit sein, um aus der Masse hervorzustechen. Kleine Studios oder Startups können nicht mit großen Produktionen wie "Grand Theft Auto 5", "Assassin's Creed: Valhalla" oder "FIFA 22" konkurrieren. Hier fehlen schlicht die finanziellen Mittel, um gegen Rockstar Games, Ubisoft, Sony und Co. zu bestehen. Das Entwickeln aus der Nische heraus kann – ein gut umgesetztes Produkt vorausgesetzt – eine Chance sein, Interesse beim Konsumenten zu erzeugen und so ein Spiel entsprechend zu bewerben und zu verkaufen.

Das 2008 gegründete Studio Mimimi Games ist ein gutes Beispiel für das Suchen und Finden der richtigen Nische. Das Münchener Team schaffte 2016 mit dem Echtzeitstrategiespiel "Shadow Tactics: Blades of the Shogun" den Durchbruch. Echtzeitstrategiespiele hatten ihre Hochzeit Mitte der 90er und gehörten dank Titeln wie "Command & Conquer", "Warcraft" oder "Age of Empires" lange zu den populärsten Spielarten. Doch mit dem Aufstieg von Open-World-Games sank dieser Stern und Echtzeitstrategiespiele rutschten in eine bekannte, aber dennoch vergleichsweise überschaubare Nische. Die wenigen großen Titel wie Blizzards "Starcraft 2", "Company of Heroes" oder die "Total War"-Reihe streiten auf qualitativ hohem Niveau um eine begrenzte Käuferschaft. Mimimi Games aber fand für "Shadow Tactics" seinen eigenen Ansatz in diesem Genre und vermischte Taktik mit Puzzles und Schleichelementen. Diesem Schwerpunkt blieb der Entwickler auch nach diesem für das Unternehmen notwendigen Erfolg treu und legte 2020 mit "Desperados III" erfolgreich nach.

Aktuell arbeitet das Studio an dem "Projekt Süßkartoffel" und erhielt dafür eine staatliche Förderung von mehr als zwei Millionen Euro. Auch dieses Projekt wird ein Echtzeit-Taktikspiel und soll 2023 auf den Markt kommen. Man sieht: Auch aus der Nische heraus kann man kleine Erfolgsgeschichten schreiben! (ob/bpf)

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