Ab in die Box: Indie-Games als physische Releases

Täglich erscheinen in den diversen Download-Stores große Mengen neuer Indie-Games. Einige finden auch den Weg ins Retail-Geschäft. Doch Boxed Releases von Indie-Games wollen gut überlegt und umgesetzt sein. Wir haben mit vier Experten über das Thema gesprochen.
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© eyetronic /stock.adobe.com
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Katzen lieben Kartons! Wer auf Youtube nach „cats“ und „boxes“ sucht, findet Videos von allerlei putzigen Miezen, die in Pappkonstrukte unterschiedlicher Größe und Herkunft kriechen, um anschließend neckisch daraus hervorzuspähen. Aus diesem Grund verwundert es auch nicht, dass sich die Protagonistin des Indie-Games Stray in herumliegenden Kartons verstecken kann, um feindlichen Überwachungsdrohnen zu entwischen. Schon weniger selbstverständlich ist, dass das Spiel selbst ebenfalls in einer Box erscheint – mit physischen Releases für die PS5 (20.9.) und die PS4 (8.11.). Weniger selbstverständlich deshalb, weil Stray bereits seit Mitte Juli bei Steam und PSN heruntergeladen werden kann – und sogar Teil von PS Plus Extra/Premium ist. Braucht es da wirklich noch eine Boxed-Version?

Enorme Nachfrage
Aus Sicht von Markus Biehl hat sich der physische Release des Spiels jedenfalls definitiv gelohnt. „Für uns war die enorme Nachfrage nach der Retail-Version eine Riesenüberraschung“, sagt der Geschäftsführer von Distributor NBG. „Wir wurden davon geradezu überrannt.“ In KW 38 stand die physische PS5-Version (39 Euro) sogar auf Platz 1 der GfK-Charts. „Und die Nachfrage lässt auch nicht nach“, freut sich Biehl. Den Erfolg des Spiels führt er primär auf die Protagonisten zurück: „Durch die Katzen hat es natürlich eine große Zielgruppe.“ Eine Katze zu spielen, sei zudem ein vergleichsweise unverbrauchtes Setting – das Spiel habe es sogar in die Berichterstattung des „Morgenmagazins“ geschafft.

Stray ist einer der Titel, die der Distributor aus Burglengenfeld über Skybound Entertainment bezieht. Die US-Firma wiederum kooperiert für die Boxed-Version mit dem Publisher Annapurna Interactive, der das Spiel von Blue Twelve entwickeln ließ. Neben Stray hat Skybound auch etliche andere Indie-Games im Portfolio, darunter Cuphead, Spiritfarer, Disco Elysium und Untitled Goose Game. „Die Skybound-Titel passen in keine Schublade“, sagt Biehl. „So etwas wie Untitled Goose Game gab es in dieser Form ja auch noch nicht.“ Neben den Produkten von Skybound distribuiert NBG unter anderem auch Indie-Titel von Firmen wie Fireshine Games (vgl. IGM 07/2022), Wild River Games, United Games Entertainment und GameMill. Zu den wichtigsten Weihnachtstiteln zählt laut Biehl neben Stray auch das Shoot ’em up Cuphead – ein Spiel, das digital immerhin schon seit 2017 verfügbar ist und am 6.12. für PS4, Xbox One und Switch erscheint.

 

Eine Riesenüberraschung

 

Boni in der Box
Allein mit den originellen Settings lässt sich allerdings nicht erklären, warum Indie-Games im Retail funktionieren. „Zum großen Teil sind in den Verpackungen noch Boni enthalten“, erläutert Biehl. „Häufig sind das Codes, die man freischalten kann.“ Mit der Retail-Fassung erhielten KäuferInnen meist auch alle bisherigen DLCs des jeweiligen Spiels – zu einem entsprechend höheren Preis. Natürlich bietet sich auch an, die Boxed-Version mit physischen Goodies auszustatten: Die Stray-Verpackung beispielsweise enthält sechs farbige Kunstkarten mit Motiven aus dem Spiel, die man sich postkartenartig ins Regal stellen oder an die Wand hängen kann – gewissermaßen als hochwertigen Cat Content für zuhause.

Auf hochwertige Inhalte setzt auch United Games Entertainment, einer der Partner von NBG. Der Publisher aus dem schwäbischen Kirchheim unter Teck betreibt vier verschiedene Label – zwei davon sind auf Indie- und Retro-Games fokussiert. „Mit dem Publishing-Label ININ sprechen wir ein recht breites Publikum an“, sagt Head of Sales Dominik von Cetto. „ININ ist also ein eher traditioneller Publisher, der Spiele weltweit physisch und digital vermarktet.“ Der Fokus liege hier auf Retro, Arcade und Japan. Mit den ININ-Titeln sei United Games nicht nur im europäischen und nordamerikanischen, sondern auch im japanischen Einzelhandel vertreten. „Diese sehr breite Platzierung im Markt hilft uns zudem, Marken wie Cotton, Turrican oder Wonder Boy zu etablieren – und sie in diesem Zuge auch weiterzuentwickeln“, sagt von Cetto.

Das zweite Label des Publishers heißt Strictly Limited Games (SLG) und hat sich auf umfangreiche Sammlereditionen spezialisiert. „Gleichzeitig wagen wir uns hier auch in Bereiche, in die sich ‚normale‘ Publisher vielleicht nicht wagen möchten oder können“, berichtet der Head of Sales. SLG gräbt dafür teils jahrzehntealte Spieleschätze aus, um sie – liebevoll restauriert und teils final entwickelt – in den Einzelhandel zu bringen. Ein Beispiel ist die Neuauflage des Sega-Klassikers Wonder Boy.

 

Simultaner Release von Boxed- und Digitalversion

 

Timing und Preis
Zu den Boxed-Versionen, die unter dem ININ-Label laufen, zählen unter anderem Bubble Bobble, Space Invaders Forever und die Wonder Boy Col­lection. Darüber hinaus veröffentlicht United Games aber auch aktuelle Indie-Titel, etwa das knallbunte Beat ’em up Jitsu Squad oder den Action-Platformer Warhammer 40,000: Shootas, Blood & Teef. Doch worauf kommt es – neben der ansprechenden Gestaltung – bei einem physischen Release sonst noch an? Für Dominik von Cetto spielt das Timing eine große Rolle. „Ein simultaner Release von Boxed- und Digitalversion ist für einen erfolgreichen Verkauf der Boxed-Version sehr zu empfehlen“, rät er. Das sei gerade im Hinblick auf die hohen Produktionskosten sehr wichtig. Bei einem zeitverschobenen Release bestünde die Gefahr, dass die Boxed-Verkäufe zum Teil von den Digitalverkäufen kannibalisiert würden. „Fans, die sich teilweise schon lange auf einen Titel freuen, werden in der Regel die Version kaufen, die am ehesten verfügbar ist“, sagt von Cetto. Andererseits seien manche Fans auch bereit, etwas länger auf die Boxed-Version zu warten, wenn das Spiel auf einer Cartridge ausgeliefert werde. Eine wichtige Rolle für den Erfolg der Boxed-Version spiele auch der Verkaufspreis, so er Experte. Grundsätzlich habe seine Firma das Ziel, Boxed- und Digitalversionen zum gleichen Preis anzubieten. Allerdings sei das nicht immer möglich – zum Beispiel, wenn United Games nicht die digitalen Rechte am Spiel besitze. Sei die Boxed-Version teurer, dann versuche man sie durch Boni aufzuwerten: „Zum Beispiel durch Manuals, Poster, OSTs oder DLC.“

Von Cetto sieht ganz grundlegende Vorteile darin, ein Indie-Game auch physisch zu veröffentlichen. „Es ist nach wie vor nicht zu unterschätzen, wie hoch der Marketing-Effekt einer Boxed-Version im Einzelhandel ist“, betont er. „Viele potenzielle Käufer werden erst durch ihren Besuch bei MediaMarkt auf einen Titel aufmerksam, was dann oft auch in einem Spontankauf resultiert.“

Ähnlich sieht das auch Markus Biehl. „Der Konsument denkt sich: Wenn das Spiel im Regal steht, dann ist es wahrscheinlich den Kauf wert“, so der NBG-Chef. Viele Publisher hätten auch Mühe, in der Titelschwemme der diversen Download-Stores sichtbar zu bleiben – ein Platz im Retail-Regal schaffe da ganz gezielt Aufmerksamkeit. Wie genau diese Regalfläche bewirtschaftet werde, habe NBG meist selbst in der Hand. „Das Risiko liegt dann natürlich auch bei uns“, so Biehl. Um das Risiko klein zu halten, verhandelt NBG mit den Lieferfirmen zunächst Chargen von 3000 bis 5000 Stück. „Man sieht in den ersten vier Wochen, ob es funktioniert oder nicht“, sagt Biehl. „Dann macht man da weiter oder hört auf.“

Ein Platz im Retail-Regal schafft ganz gezielt Aufmerksamkeit

 

Bekannte Marken
Ein weiterer Kooperationspartner von NBG ist Wild River Games. Die Firma aus dem bayerischen Ismaning veröffentlicht Eigenproduktionen, distribuiert in DACH aber auch ausgewählte Produkte seiner Partner Merge Games (Foreclosed, Road 96 etc.) und Marvelous Games (Story of Seasons). „In beiden Bereichen – Distribution und Self-Publishing – stellen wir fest, dass auch Indie-Games in den letzten Jahren verstärkt dann Erfolg haben, wenn ein gut gemachtes Game mit einer bekannten Marke kombiniert wird“, sagt CEO und Co-Founder Ralf Gronwald. Als Paradebeispiel nennt Gronwald das erste inhouse produzierte Game Horse Club Adventures, das auf der Horse-Club-Toyline des Spielzeugherstellers Schleich basiert. „Dieses Game haben wir im Juni 2021 veröffentlicht – und der weltweite Erfolg war gerade auch im Retail so groß, dass wir in diesem Jahr mit einem zweiten Teil daran anknüpfen wollen“, freut er sich. Die Fortsetzung trägt den Titel Horse Club Adventures 2 – Hazelwood Stories. Als Boxed Version erscheint sie am 27. Oktober für die Switch  – und im November für PS5 und PS4. Den Vertrieb übernimmt ak tronic, so wie beim Vorgänger.
 
Der zweite wichtige Weihnachtstitel von Wild River Games ist die Neuauflage eines Klassikers: Winter Games 2023 wurde von Independent Arts in Hamm produziert und ist bereits am 14. Oktober erschienen – unter anderem auch als Boxed-Version (PS5, PS4, Switch). Sehr wichtig fürs Weihnachtsgeschäft ist auch der Merge-Games-Titel Teenage Mutant Ninja Turtles: Shredder‘s Revenge – sozusagen ein echter Klopper!

Nun stellt sich natürlich schon die Frage, wo die Grenze zwischen „Indie“ und anderen Sparten verläuft. Die Horse Club Adventures beispielsweise sind Casual Games, die sich primär an Mädchen zwischen 5 und 12 Jahren richten. Definiert man „indie“ als jene Spiele, die mit teils nischigen Themen und unkonventionellem Gameplay aufwarten, dann sind die Pferdehof-Abenteuer wohl eher nicht „indie“. Zieht man die Definition aber weiter und nimmt auch kleine Studios hinzu, die Spielkonzepte selbstständig umsetzen, dann ist Horse Club Adventures ebenfalls „indie“. An der (mangelnden) Mainstream-Tauglichkeit eines Titels lässt sich ein Indie-Game jedenfalls nicht mehr erkennen – ein gutes Beispiel ist Overcooked!, das zwar klein startete, mittlerweile aber von Millionen Menschen gespielt wird – und auch zum NBG-Portfolio (via Fireshine Games) gehört. Die Horse Club Adventures sind derweil noch aus einem anderen Grund sehr interessant. „Die SpielerInnen sind hier nicht die Käufer – das sind in der Regel Mama, Papa, Oma, Tante etc.“, erläutert Gronwald. Die nämlich würden solche Produkte eher im Einzelhandel als in unbekannten Digitalwelten kaufen. „Denn seien wir mal ehrlich“, sagt Gronwald, „die bestehenden Shops einiger First Parties sind für diese Käufergruppe mitunter alles andere als intuitiv gestaltete, schnell verständliche Einkaufsorte“. Hier ist sie also wieder, die Stärke lokaler Retail-Händler – und das gerade auch jenseits von AAA.

 

Gutes Preis-Leistungs-Verhältnis anbieten

 

Keine Vollpreistitel
Auch für Ralf Gronwald ist die Preisgestaltung der Boxed Versions einer der zentralen Erfolgsfaktoren. „Gerade in den jetzigen, recht unsicheren Zeiten – getrieben durch Inflation und erwartete hohe Energiekosten für Verbraucher – halte ich es für ganz wichtig, ein gutes Preis-Leistungs-Verhältnis anzubieten“, so der Wild-River-CEO. Die Titel der Horse Club Adventures lägen denn auch in einem Preissegment zwischen 30 und 40 Euro, seien also – trotz starker Marke und hoher Produktionsqualität – keine sogenannten Vollpreistitel. „Winter Games 2023 liegt in der vergleichbaren Preisschiene“, ergänzt Gronwald. Auch verfolge man die Strategie, eigene Titel  physisch und digital zeitgleich zu vermarkten. „Hier gibt es keinen Vorteil für Digitalportale, so der CEO. „Auch übrigens preislich nicht.“

Die Firma HandyGames hat bereits etliche ihrer Indie-Games als Boxed-Versionen herausgebracht. Zuletzt waren das unter anderem Endling – Extinction is Forever sowie Chicken Police – Paint it Red. „Die Königsklasse der Spieleentwicklung ist ein Simultan-Release auf allen weltweiten Plattformen und Stores“, sagt HandyGames-Chef Christopher Kassulke. „Das bedeutet, als Box sowie in allen digitalen Shops der Welt gleichzeitig live zu gehen.“ Für einen Indie-Publisher wie HandyGames sei das jedoch ein echter Kraftakt, so Kassulke. Zwar können man Games physisch auch erst nach dem Online-Release veröffentlichen – das habe seine Firma beispielsweise beim Klassiker Townsmen – A Kingdom Rebuilt so gemacht. „Dafür benötigt man aber eine sehr spezielle Zielgruppe und eine riesige Fanbase“, betont er. „Gegebenenfalls man muss auch auf limitierte Editionen zurückgreifen.“ Nicht immer eigneten sich Indie-Games für physische Releases: Die Produktion der Boxen koste viel Geld, zugleich solle der Preispunkt von 29,99 Euro nicht unterschritten werden.

Wege in den Markt
Wenn man sich denn für den physischen Release entscheidet, dann sollte man mehrere Dinge berücksichtigen, erläutert Kassulke. „Das Timing ist wichtig! Eine Box sollte am Tag der digitalen Veröffentlichung auch in den stationären Läden zu kaufen sein.“ Grundsätzlich gebe es zwei verschiedene Wege, mit Boxed Games in den Markt zu gehen, so der Studiochef. „Eine Möglichkeit sind limitierte Editionen, die sich an Sammler richten, mit vielen Extras kommen und viel teurer sind als die Online-Versionen – und auch preisstabil.“ Der zweite Weg sei ein Release auf dem freien Markt. Der biete natürlich mehr Absatzmöglichkeiten, berge aber auch ein größeres Risiko für den Publisher oder Distributor, so Kassulke, „weil dieser Markt sehr aggressiv und schnelllebig ist“. Trotz – oder gerade wegen – dieser Risiken freut sich Kassulke über jedes seiner Indie-Games, das boxed erscheint: „Es ist einfach immer noch ein geniales Gefühl für jeden Entwickler, sein ‚Baby‘ in der Hand zu halten beziehungsweise im lokalen Handel zu sehen! Bei Endling gab es sogar eine umweltfreundliche Papierbox für die PC-Version, die natürlich stark ins Auge fiel, weil es sich um ein Climate Change Game handelt.“ Mehrere Händler hätten auch zusätzliche Gimmicks mit in die Box gepackt – zum Beispiel einen Origami-Fuchs, Pins oder wiederverwendbare Microfasertücher. Mit anderen Worten: Die Boxed-Version bot genau den Mehrwert, den es brauchte, um sich von der Digitalvesion abzuheben.

Wie aber wird sich der Handel mit physischen Games weiterentwickeln? Markus Biehl glaubt, „dass Indie-Games im physischen Handel Wachstumspotenzial haben. Man hat gesehen, dass sich viele dieser Themen hervorragend entwickelt haben – und wirklich auch langfristig nachgefragt werden“. Man dürfe auch nicht vergessen, dass Indie-Games recht stabile Preise hätten, weil sie nicht im heftigen AAA-Wettkampf stünden. „Jeder kann mit physischen Indie-Games sein Geld verdienen – und das über einen langen Zeitraum“, so Biehls Fazit. „Das ist für alle Seiten wichtig.“ (Achim Fehrenbach)

IGM 14/22
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