„There once was a ship that put to sea / The name of the ship was the Billy of Tea ...“: Diese Zeilen wurden auf TikTok schon abertausendfach geträllert. Sie stammen aus „Soon May the Wellerman Come“, einem neuseeländischen Seemannslied aus dem 19. Jahrhundert. Anfang 2021 sang die britische Folkband das Shanty, während sie das Piraten-Game Sea of Thieves spielte – woraus dann einer der größten TikTok-Trends überhaupt entstand. Schon bald sangen Massen von Usern sogenannte ShantyToks – ob nun einzeln, im Duett oder in der Gruppe. Der Beliebtheit von Sea of Thieves wird der Trend nicht geschadet haben – im Gegenteil: Etliche TikTok-User dürften durch die Sea-Shanty-Welle überhaupt erst auf das Spiel aufmerksam geworden sein.
Kein unbekanntes Land
Für die Games-Branche ist TikTok also keineswegs eine terra incognita. Die Video-Plattform des chinesischen ByteDance-Konzerns ging bereits 2016 an den Start, seitdem haben etliche Spielefirmen TikTok als Marketing-Tool für sich entdeckt. Sie finden dort ein gigantisches Publikum vor: Schon 2021 knackte TikTok laut Pressemitteilung die Marke von einer Milliarde Monthly Active Users (MAU). Den größten User-Zuwachs verzeichnet die Plattform derzeit in Indien – doch auch in Deutschland hat sie über 10 Millionen MAU. Von den großen Spiele-Publishern sind die meisten inzwischen auf TikTok aktiv: Bei unseren Recherchen stießen wir unter anderem auf offizielle Accounts von PlayStation, Xbox, Ubisoft, EA, Bethesda und Activision Blizzard. PlayStation beispielsweise veröffentlichte in KW 44 ein halbes Dutzend Videos: Zu PS VR 2, God of War und MW2 – aber unter anderem auch dazu, wie man einen Kürbis fachgerecht für Halloween aushöhlt. Ubisoft postete zuletzt vor allem meme-kompatible In-Game-Szenen, etwa aus Far Cry oder Skull and Bones – und auch ein Kurzvideo, das SpieleheldInnen als Inspiration für Halloween-Kostüme preist. Der Ubisoft-Account hat 1,2 Millionen Follower, bei PlayStation sind es 2,1 Millionen, bei Xbox immerhin 4,9 Millionen. Doch wie aussagekräftig sind solche Zahlen überhaupt – und wie funktioniert Spiele-Marketing auf TikTok eigentlich im Detail?
Auf TikTok zählen die Inhalte und nicht die Anzahl der FollowerInnen
Michele Waagaard ist Head of Gaming Operations DACH bei TikTok – zuvor arbeitete sie unter anderem für MTV in Asien, für Microsoft News in Europa und für die chinesische Firma YuuZoo. „Als Gaming Lead für TikTok DE ist mein vorrangiges Ziel, die Gaming-Community zu unterstützen und zu fördern“, sagt Waagaard im IGM-Interview. „Das gilt insbesondere für CreatorInnen, Publisher und Entwickler, damit sie sich noch enger mit ihrer Community verbinden können.“ TikTok sei keine Social-Media-Plattform, sondern eine Entertainment-Plattform, betont Waagaard: „Auf TikTok zählen die Inhalte und nicht die Anzahl der FollowerInnen. Das bedeutet, dass potenziell jedes Video auf TikTok die Chance hat, viral zu gehen.“ Unter anderem deshalb helfe man der Gaming-Community mit Schulungen zum Aufbau effektiver Content-Strategien, so die Managerin. Neben etablierten Spielefirmen unterstützt TikTok auch ganz gezielt Indie-Studios, die weniger Marketing-Geld auf der Tasche haben: „TikTok ist eine großartige Möglichkeit für sie, in direktem Kontakt mit der Community zu stehen, um ihre Spiele zu promoten und organisch einen Hype um ihre Spiele zu generieren.“ Genau wie für die großen Spielefirmen.
Heldin in Berlin
Wie das aussehen kann, erläutert Waagaard an einem aktuellen Beispiel. Der Publisher Riot Games hat für seinen Online-Shooter Valorant einen TikTok-Account eingerichtet, auf dem die Valorant-Heldin Killjoy aus ihrem Alltag berichtet – und zwar als Cosplayerin aus Berlin. „Das ist so originell, einzigartig und unkonventionell, dass es perfekt zu TikTok passt“, freut sich Waagaard. „Außerdem kann man sich so gleichzeitig mit der Community verbinden.“ Um solch ausgefeilte Inhalte zu produzieren, benötige man zwar deutlich mehr Ressourcen als für ein spontan gefilmtes TikTok-Video. Dennoch zeige das Beispiel sehr anschaulich, wie man Videospiel-Inhalte zum Leben erwecken könne. „Ich finde es toll, dass hier etwas komplett neu gedacht wurde“, lobt Waagaard.
Neben CreatorInnen und Spielefirmen hat TikTok auch Gaming-Events im Fokus. Bei der diesjährigen gamescom bot TikTok auf einer Bühne acht Stunden Live-Programm pro Tag. Nebenan stellte die Firma auch Streaming Pods zur Verfügung, in denen prominente CreatorInnen (u.a. @kaatsup, @itsnickandcam, @jasmingnu, @luis_freitag_ und @annitheduck) neue Spiele live testen konnnten – darunter Street Fighter 6, TMNT: The Cowabunga Collection und Sonic Frontiers. Außerdem präsentierte TikTok zur gamescom einen neuen In-App-Effekt („Your Gamer Name“) und einen neuen Hashtag (#GamingWorld), unter dem BesucherInnen ihre Videos posten und entdecken konnten. Und auch beim Thema „E-Sport“ ist TikTok zunehmend aktiv, berichtet Waagaard. Zwar sei TikTok eine „extrem schnelllebige Plattform“, für die sich leicht verständliche Inhalte am besten eigneten. „Wir glauben aber auch, dass TikTok im E-Sport-Bereich noch mehr bieten kann als reines Gameplay – damit meine ich beispielsweise Einblicke in den Alltag der SpielerInnen aus den verschiedenen E-Sport-Ligen.“ Das könne die Profis nahbarer machen – und den Ligen zusätzliche Fans einbringen.
Riesiges Potenzial
CreatorInnen, Publisher, Entwickler, Event-Organisatoren und E-Sport-Ligen: Sie alle können also prinzipiell von TikTok profitieren. Doch wo liegen beim Marketing eigentlich die Hauptunterschiede zu anderen Plattformen wie Twitter, YouTube, Facebok oder Instagram? Fragen wir doch einfach ein paar Indie-Studios, die Waagaard ja als veritable TikTok-Profiteure bezeichnet hatte. Tobias Graff ist CEO und Publishing Director bei den Hamburger Mooneye Studios: Die 2014 gegründete Firma ist sowohl als Entwickler (Lost Ember) wie auch als Publisher (Haven Park) tätig. „TikTok ist für uns innerhalb der letzten zwei Jahre sehr schnell zu einer der – wenn nicht wirklich der – wichtigsten Platform geworden, gerade für Werbung“, sagt Graff. Die Plattform habe ein riesiges virales Potenzial – und ein sehr viel höheres User-Engagement als die meisten Social-Media-Plattformen. Auf TikTok hat Mooneye Studios bisher rund 100.000 Follower und 450.000 Likes eingesammelt. Doch welchen Content postet Mooneye dort eigentlich? „Viele unserer TikTok-Posts veröffentlichen wir auch ähnlich auf anderen Plattformen“, erläutert Graff. „Es gibt also durchaus eine große Schnittmenge im Content – und man muss nicht explizit für TikTok eigenen Content erstellen.“ Grundsätzlich versucht das Studio, persönlich gefärbte Blicke hinter die Kulissen der Games-Entwicklung zu gewähren. „Das ist etwas, das wir vermehrt bei anderen Accounts sehen – und das sich immer größerer Beliebtheit erfreut“, berichtet Graff. „Auf TikTok geht es dabei meistens weniger um wirkliche Informationsvermittlung und mehr um kurze witzige oder interessante Einblicke, Stichwort ‚relatable‘.“ Ganz konkret sind das beispielsweise Kurzvideos, in denen Mooneye die Entwicklung von Shumi Come Home erläutert – das Spiel mit dem putzigen Pilzmännchen eignet sich hervorragend, um auf der schnell drehenden Plattform Aufmerksamkeit zu erzeugen.
Witzige oder interessante Einblicke
Was aber ist das Rezept, mit dem Mooneye auf TikTok ganz offensichtlich Erfolg hat? „Das ist eine gute Frage und immer sehr schwer zu beantworten“, sagt Graff. Ein Vorteil sei definitiv, dass man sehr schnell eine eigene Nische gefunden haben – und dort nun passende Inhalte poste, anstatt thematisch und atmosphärisch auszufransen. „Das hilft natürlich dann dem Algorithmus auch, ähnliche Leute wie bestehende Follower anzusprechen“, betont er. Zum Erfolg habe aber vermutlich auch beigetragen, dass man schon recht früh auf die Plattform aufgesprungen sei – jedenfalls früher als viele andere deutsche Studios.
Blick hinter die Kulissen
Die Firma Landfall Games aus Stockholm ist auf TikTok überaus erfolgreich. Viele ihrer bewusst chaotischen Games (Stick Fight, Clustertruck, Total Accurate Battle Simulator) eignen sich aber auch besonders gut für das irrwitzige Video-Karrussell. Mittlerweile hat Landfall auf TikTok rund 1,2 Millionen Follower – weit mehr als auf Youtube (285.000) oder Twitter (54.000). „Die Art und Weise, wie wir unser Publikum auf TikTok ansprechen, ist viel persönlicher als auf den anderen Plattformen“, sagt Landfall-CCO Hanna Fogelberg. „Wir nutzen für die Videos unsere eigenen Stimmen und zeigen viel häufiger, was hinter den Kulissen vor sich geht – zum Beispiel mit Videos über ein Spiel oder über das Team.“ TikTok-User ließen sich nicht einfach über einen Trailer erreichen, so die Kommunikationsexpertin. „Sie wollen eine persönliche Verbindung zu den Leuten haben, die den Content produzieren.“ Besonders wichtig sei, auch Content zu erstellen, der bei zufällig vorbeischauenden Usern auf Interesse stoße. Das können zum Beispiel Memes sein – oder auch Videos, in denen die Basics der jeweiligen Spiele erklärt werden. Fogelberg berichtet, dass Landfall auch Prototypen und Spielinhalte auf TikTok-Akzeptanz testet: „Wir schauen, wie das Publikum reagiert.“
Auch von Landfall wollen wir wissen, ob sich TikTok-Erfolg systematisch planen lässt. Laut Fogelberg ist TikTok aber „ein bisschen wie eine Lotterie sein, wenn es darum geht, was gut läuft und was nicht“. Zwar gebe es hier kein klar umrissenes Erfolgsrezept – doch einer der Schlüsselfaktoren sei definitiv Beständigkeit. „Zu Beginn haben wir zwei bis drei Videos pro Tag veröffentlicht – wobei einige besser liefen als die anderen“, berichtet Fogelberg. „Das hat uns sehr geholfen, den Ball ins Rollen zu bringen und unseren Account zu vergrößern.“ Momentan postet Landfall zwischen vier und sechs Videos pro Woche. Veröffentliche man eine Woche lang nichts, dann dauere es ein bisschen, die Sache wieder in Schwung zu bringen.
Spezieller Algorithmus
Fogelberg glaubt, dass TikTok für Indie-Firmen besonders gut geeignet ist: „Das hat damit zu tun, wie der Algorithmus funktioniert.“ Im Vergleich mit anderen Plattformen sei die Zahl der Follower hier nicht wirklich von Bedeutung. „Ich habe schon oft erlebt, dass neue Accounts mit nur einer Handvoll Followern drei Millionen Views geschafft haben“, sagt die CCO. „Das erleichtert es Indie-Entwicklern, die noch keine Follower haben, ein großes Publikum zu erreichen – eines, das sie auf anderen Plattformen nicht erreichen können.“ TikTok sei auch sehr gut darin, die Vorlieben der UserInnen herauszufinden – und ihnen dann die passenden Inhalte zu zeigen. „Wenn du mit den Videos richtig liegst, dann wird das Publikum eher von sich aus zu dir kommen, als dass du es suchen musst“, fasst Fogelberg zusammen.
Ganz ähnlich sieht das auch Benjamin Lochmann. Der CEO der Nürnberger Firma Pixel Maniacs (ChromaGun, Can‘t Drive This, Escape the Loop) findet, dass es auf TikTok vergleichsweise einfach ist, neue Leute zu erreichen. Auf Twitter, Facebook, Instagram oder YouTube hänge vieles von der Zahl der AbonnentInnen ab. „Bei TikTok richtet sich die Reichweite einzelner Videos stärker nach dem Content und weniger nach der Reichweite des postenden Accounts, was ich auch aus KonsumentInnensicht spannend finde“, sagt Lochmann. „Ich interessiere mich ja persönlich für spezielle Themen und nur am Rande für bestimmte Personen oder Brands.“ Bezeichnend ist, dass Instagram und YouTube die Kurzvideos von TikTok mittlerweile imitieren – und zwar mit den Formaten „Reels“ respektive „Shorts“. Für seine Firma sie es jedenfalls enorm wichtig, via TikTok neue KonsumentInnen zu erreichen, betont Lochmann. Dafür postet er auf seinem Account (knapp 100.000 Follower / 1,6 Mio. Likes) vorwiegend Einblicke in die Entwicklerarbeit – also Videos über Backend-Tools, Marketing, Business-Fragen und Spieleförderung. „Ich bin mir sicher, dass es Content gibt, der deutlich besser performen würde“, sagt der CEO. „Da ich meine KollegInnen aber derzeit nicht von der Weiterentwicklung des eigentlichen Games abziehen möchte und wir derzeit keine Spielszenen unseres Games zeigen möchten, ist das ein guter Kompromiss.“
Ich mache äußerst selten zweite Takes
Spontaneität gefragt
Der Pixel-Maniacs-CEO glaubt, dass TikTok-User vor allem Authentizität schätzen – also ungeschöntes, eher spontanes Material. „Ich mache äußerst selten zweite Takes, quatsche einfach drauflos und erzähle, was ich interessant finde“, sagt Lochmann. „Zudem denke ich, dass ich recht ehrlich bin und auch mal schlechte News – wie unsere gescheiterte Publisher-Suche für den letzten Titel – poste.“ Lochmann rät anderen Indie-Studios, TikTok einfach mal auszuprobieren. „Wenn man eine tolle Idee hat, aber ein vollkommen unbekanntes Studio mit null Followern ist, kann man ein Millionenpublikum mit einem billig produzierten Video erreichen.“ Man müsse sich von der Idee eines genauen Content-Plans lösen, der zwangsläufig zum Erfolg führe. „Selbst große Agenturen geben keine Garantie auf einen Hit bei TikTok“, sagt Lochmann. „Sie können nur die Chance durch ‚Best Practices‘ erhöhen.“
Der TikTok-Algorithmus ist in jedem Fall ein Buch mit etlichen Siegeln – das sieht auch Tobias Graff von Mooneye so. Einen klaren Vorteil sieht er darin, dass TikTok-Posts eine vergleichsweise lange Lebensdauer haben. „Auf Twitter oder Instagram ist ein Post nach einem Tag ‚tot‘“, so Graff. „Es kommt sehr selten vor, dass neuer Schwung in Inhalte kommt, die Wochen oder gar Monate alt sind.“ Auf TikTok sei das aber anders, so der Hamburger Spieleentwickler: „Wir bekommen immer noch Views und Kommentare auf uralte Posts, da zum Beispiel das Anschauen der Profile auf TikTok gefühlt sehr viel gängiger ist. Wenn ein Post gefällt, scrollt man kurz mal durchs Profil und findet mehr interessante Inhalte. Wenn das dann mehrere Personen tun, kann ein alter Post nochmal neu in die ‚Verteilung‘ des Algorithmus kommen.“ Die Plattform ist sozusagen ein Jungbrunnen für alte Posts.
Feature-Wünsche
Ist TikTok also die perfekte Marketing-Maschine, gerade für Indie-Firmen ohne riesiges Budget? Aus Benjamins Lochmanns Sicht kommt sie diesem Ideal schon ziemlich nahe, bestimmte Features vermisst er nicht. Tobias Graff vermisst die Möglichkeit, direkte Links in TikTok-Posts oder -Kommentaren zu posten: „Dadurch ist es schwieriger, Leute direkt zur Steam-Seite zu leiten.“ Hanna Fogelberg wünscht sich von TikTok noch das Feature, die Video-Veröffentlichung programmieren zu können. „Die ideale Zeit zum Posten liegt außerhalb meiner Arbeitszeit, so um 22 Uhr herum“, berichtet die Landfall-CCO. „Deshalb poste ich häufig abends aus meinem Bett heraus. Wenn man Videos zeitlich planen könnte, wäre das eine große Hilfe!“ Denn wer auf TikTok unterwegs ist, sollte schließlich ausgeruht sein … (Achim Fehrenbach)