Warum weniger manchmal mehr ist. Gerade in Krisenzeiten

Faul in der Sonne lümmeln, spielen, kuscheln. Zwischendurch aus einer Pfütze schlabbern, sich von den flauschigen Artgenossen abschlecken lassen. Ein bisschen zurück schlecken, anschließend genussvoll den Teppich zerfetzen, dann weiter faulenzen. Hach, Katze müsste man sein ...
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Aber klar, auch in einem Katzenleben läuft’s ab und an mal doof: Zum Beispiel, wenn man sich beim Sprung von einem kaputten Abwasserrohr zum nächsten verschätzt und in ein tiefes Loch plumpst. Ganz, ganz tief. Dann hofft man noch während des Sturzes inständig, dass man eins von diesen tollen neun Katzen-Extraleben übrig hat, von denen man immer so viel hört. Und ist am Ende trotz Brummschädel heilfroh, wenn man auf einer miefenden Müllkippe aufwacht – zerschunden, aber wenigstens ohne unnatürlich verdrehte Gliedmaßen, die irgendwo hin abstehen, wo sie nicht hingehören. Also erstmal die Wunden lecken, ein bisschen Fellpflege betreiben und mitleidig in die Runde schauen. Auch ganz wichtig: Traurig humpeln und gleich wieder ins Katzen-Koma fallen – das zieht immer!

Und danach machen wir weiterhin genau das, was Miezen eben so tun: Neugierig bis verspielt durch die Pampa tapern, geschmeidig über schmale Simse balancieren oder springen, uns ordentlich räkeln, herumtollen und durch die engen, gerümpeligen Gassen einer Stadt streifen. Im Falle von BlueTwelves munterer Maunz-Mär „Stray“ ist es übrigens eine menschenleere, Akira’eske SciFi-Metropole, die wir – katzig kokett von einem heißen Blechdach zum nächsten hopsend – erkunden: Die sich scheinbar endlos unseren Pfoten ausbreitende und oft in bodenlosen Schluchten verlierende Manga-Metropole wirkt wie der Anime-inspirierte Hinterhof des monolithischen „Blade Runner“-Molochs. Mit bissigen, kleinen Roboter-Zecken statt Schwebe-Taxis und der geheimen Werkstatt eines Androiden-Bastlers anstelle der Tyrell-Pyramide.

 

Könnte hübscher sein. Muss es aber nicht

 

Zugegeben: Das alles sieht nicht immer ganz so tierisch gut aus, wie es aussehen könnte. Oder wie es vermutlich aussehen würde, wenn statt des Publisher-Logos von Annapurna Interactive das von Sony, Ubisoft oder einer anderen modernen Blockbuster-Fabrik auf dem digitalen Etikett des leise-pfotigen Indie-Adventures kleben würde. Dann wäre das Kätzchen vielleicht so richtig schön struppig, seine miezige Mimik lebensecht und seine Umwelt ein detailliertes Hochglanz-Wunderland voller andächtiger „Aaaaaahs“ und „Oooohs“. Aber unter Umständen würde es sich dann auch – wieder mal – ein bisschen zu sehr nach Geschäftsmodell anfühlen. Wäre peinlichst darauf bedacht, uns so viele vertrackte Features wie möglich zu bieten, einen Echtgeld-Shop einzurichten (mit Spielzeugen und Pflegeprodukten für das Katerchen von Welt) und darüber womöglich ganz vergessen, einfach nur Spaß zu machen. Und vielleicht deshalb, weil eben all dieser aufdringliche Schnurrschnack in „Stray“ fehlt, nimmt es uns von der ersten Minute an so gefangen.

Mit all seiner wunderbaren Leichtfüßigkeit, beschwingten Unverbindlichkeit und angenehm unkomplizierten Geradlinigkeit erzeugt der Katze Miau etwas, das vielen der ganz, ganz großen Koloss-Kaliber fehlt. Indem „Stray“ sein Erlebnis fast nie unterbricht oder pausiert, erzeugt es einen Sog, der uns mit jeder verstreichenden Minute tiefer in den Kaninchen-, pardon Mäuse-Bau entführt. Hinzu kommt die schiere Faszination eines Erlebnisses, das wir so noch nicht kannten: Eine Science-Fiction-Metropole durch die Augen unserer kleinen Felidae-Freunde erleben? Das ist ein zwar denkbar simpler, deshalb aber nicht minder genialer Twist. Und vielleicht genau die Sorte Dreh, die man als Blockbuster-überfütterter Gamer hin und wieder braucht, um sich das zurückzuholen, was man im Laufe von drölfzig „Call of Duties“, hunderten Jahren „Assassin’s Creed“ oder tausenden durch Ober-Wüterich Kratos entgräteten Mythen-Monstern verloren hat. Zumindest so ein bisschen. Nämlich unseren „Sense of Wonder“. Nicht, weil uns das Blockbuster-Programm keine Wunder bieten würde – sondern weil es uns über Jahre hinweg so stark unter Beschuss genommen hat, dass wir mit blutender Nase taumelnd in einer Ecke stehen und nichts mehr wahrnehmen, was man uns nicht mindestens mit Mach 5 und bei 130 Dezibel um die Ohren haut. Vielleicht brauchen wir deshalb mal ein Kontrastprogramm. Wie Online-Entzug nach Jahrzehnte-lang eskalierender Internet-Pornografie. Damit wir auch Blümchen-Sex wieder genießen können.

 

Damit wir auch Blümchen-Sex wieder genießen können
 

 

Katzen-Meditation
Aber unter Umständen brauchen wir auch einfach ein bisschen Katzen-Meditation. Ein wenig spielerische Askese mit leisem „Miau“ statt krachendem Kanonendonner, um unsere Sinne wieder für die sanften Geräusche und feinen Nuancen eines Spielerlebnisses zu schärfen, das eher nach innen als nach außen gerichtet ist. Ein Abenteuer, das eher Besinnlich als über- oder multi-sinnlich ist. Der Katzen-Doktor empfiehlt dafür acht Monate Blockbuster-Entzug, ein neues Indie-Game jeden Monat und wahlweise eine Dose Thunfisch oder Brekkies. Aber mit „Stray“ funktioniert es auch ganz gut.

Vor allem deshalb, weil wir uns 2022 in einer Spiele-Landschaft wiederfinden, die sich ganz hervorragend für diese Art von „Entschlackungs-Kur“ eignet: Wer sich Anfang des Jahres bereits brav durch das Elden-Ring’sche Martyrium gearbeitet, bei „Horizon Forbidden West“ seine jährliche Jäger-und-Sammler-Dosis inhaliert und in „Dying Light 2“ von den Dächern auf Zombies gespuckt, äh, geschossen hat, der hatte während der letzten Monate eher wenig zu tun. Außer natürlich, er ist ein ausgesprochener Freund der feinen Indie-Kost. Dann hat er sich wahrscheinlich vor einigen Wochen mit dem gefeierten Digital-Brettspiel „Dorfromantik“ aus der Berliner Indie-Schmiede Toukana vergnügt. Im pixeligen „Infernax“ monströses Fantasy-Getier geröstet, im bizarren Rollenspiel-„Zelda“ „Nobody Saves The World“ die Grufti-Puppen tanzen lassen. Sich durch die karibischen Untiefen von „Return to Monkey Island“ gerätselt. In „Backpack Hero“ seinen Heldenrucksack gepackt (denn im Grunde geht’s hier nur darum). Bei „Rogue Legacy 2“ trotz Bildschirmtod im Erbe an die nächste Generation weitergelebt. Oder beim okkulten „Cult of the Lamb“ das wehrhafte Opferlamm gegeben, um kurz darauf zu den Glibber-Gestalten von Ebb Softwares „Scorn“ in die digitale Hölle hinabzusteigen. Zugegeben: Das ist nicht immer unbedingt das, was man unter besinnlicher Software versteht – aber verglichen mit dem durchschnittlichen Effekt-Gewitter einer Multimillionen-Dollar-Produktion ist selbst das bulgarische „Hellraiser“-Gedächtnis-Abenteuer so etwas wie eine besinnliche Feier mit der Addams-Family.

 

Wie eine besinnliche Feier mit der Addams-Family

 

 

Im Windschatten fahren
Wer bei so viel hehrer, von purem Idealismus getriebener Software seine Wahrnehmung schon mal ein bisschen entschlackt hat, die Ohren ausgespült, das Nervenkostüm mit zartem Räucherwerk bearbeitet und sich einen mit Katzenminze gewachsten Zwirn durch die Nüstern getrieben, der ist vielleicht schon bereit für die nächste Eskalationsstufe: Nämlich Spiele, die (mehr oder weniger bequem) in der Nische zwischen Mini- und Super-Big-Budget angesiedelt sind.

Das Problem dabei: Hin und wieder machen die Games-Mittelständler durch ihre gesteigerten Production-Values Lust auf ganz großes Spiele-Kino, können dieses Verlangen dann aber nur bedingt befriedigen und lassen dabei den geneigten Abenteurer enttäuscht zurück. Oder anders ausgedrückt: Sie fahren immer haarscharf im Windschatten der Blockbuster – doch sobald sie ihn durch ein allzu waghalsiges Manöver verlassen (schlimmstenfalls ein zum Scheitern verurteilter Überholversuch), fallen sie zurück und entpuppen sich manchmal als eine Art waghalsig gepimptes Indie-Game. Was allerdings nichts Schlechtes sein muss: Entwickler und Publisher wie THQ Nordic, Focus Home Interactive & Co. leben über weite Strecken von diesem mitunter erstaunlich gesunden Mittelfeld. Bescheren uns dabei kreative Dramen wie die beiden entrückt-bedrückenden Mittelalter-Pestbeulen „A Plague Tale“ und kantige, aber gerade deshalb so großartige Piranha-Bytes-Klamotten wie „Elex 2“.

Oder nehmen wir nur „The Callisto Protocol“ aus den frisch gegründeten Striking Distance Studios: Die dürften mit einem bekannten Industrie-Veteranen wie Glen Schofield und dem südkoreanischen Multimillionär Chang Byung-gyu im Hintergrund bei Investoren ordentlich punkten – aber Blockbuster-Budgets wird das 60-köpfige Team aus Kalifornien kaum bewegen. Also macht man genau das, was man am besten kann: Hochkarätigen Nischen-Content (in diesem Fall Weltraum-Horror) abliefern, der ein bisschen nach Big-Budget aussieht, ohne dabei VERY big zu sein. Dabei muss das Grusel-Protokoll auf die gleiche Weise überzeugen wie alle Mittelfeld-Spiele: Indem es die zur Verfügung stehenden Zeit- und Geld-Ressourcen auf ein überschaubares Spielfeld verdichtet. Fokussiert auf eine ebenso übersichtliche Anzahl von Kern-Features, die bei der Zielgruppe verfangen. Eindrucksvoll, aber schnörkellos. Und weit weniger zerfasert, als man es von den Teuersten der Teuren gewöhnt ist – weil sich ein vergleichsweise nischiger Titel nicht nur den Luxus erlauben kann, sondern sogar MUSS, nicht auf allen Hochzeiten zu tanzen. Er darf einfach mal ein Horror-Spiel sein. Oder ein blitzschneller Shooter. Ein ambitioniertes, mutiges Aufbau-Game. Ein zutiefst konservatives Point’n’Click-Adventure ohne die Ambition, sein Genre neu zu erfinden und mit etlichen anderen zu kreuzen. Oder eben ein listiges, kleines Kätzchen, das sich geschickt in die Herzen der Gamer kuschelt, weil es sich traut, das Medium SPIEL aufs Wesentliche zu reduzieren – nämlich aufs „Verspielt-sein“.

 

Befreie Deinen Geist!

 

Für Zeiten, in denen unsere Industrie noch immer unter den Nachwirkungen des Corona-Katers leidet, während die nicht mehr ganz so neue Konsolen-Generation durch die Halbleiter-Krise ausgebremst wird (kein Ende in Sicht), erscheint das wie eine Prämisse, an der man sich ruhig öfter ein Beispiel nehmen darf. Um schneller, günstiger, effizienter und weniger auf Hardware-Performance gebürstete Spiele zu liefern, für die man nicht zwangsläufig eine High-End-Hardware braucht, die u.U. gar nicht zu kriegen ist. Und um die aktuelle Situation vor allem als eins zu begreifen: als Chance.

Eine Chance, auf allen Ebenen vom Indie-Boom der letzten Jahre zu lernen. Eine Chance, Spiel-Design wenigstens ein bisschen neu zu denken und uns von den mitunter lähmenden Begleiterscheinungen des Blockbuster-Zwangs zu befreien. Denn wer ein neues, effektiver und runder laufendes Auto bauen will, der muss manchmal ein bisschen Reverse-Engineering betreiben: Den alten Dingern unter die Haube schauen, sie auseinandernehmen – und sich dann zuerst darüber wundern, aber bald freuen, dass beim Wiederaufbau so viel überflüssige Schrauben und Muttern liegen bleiben. Ballast, den unsere Branche mit sich rumschleppt, seitdem die Big-Budget-Produktion mit dem Beginn des 3D-Zeitalters immer rasanter Fahrt aufzunehmen begann. Was per se keine Sünde ist – denn aufwendige, teure Hochglanz-Produktionen sind der Motor unserer Industrie. Weil sie neue Hardware und damit auch neue Ideen verkaufen. Aber wenn man durch äußere Umstände dazu gezwungen wird, einen Gang zurückzuschalten, dann muss man vielleicht einfach mal Katze sein – und die Faszination der Reduktion entdecken.

Übrigens macht eine PS5 dann immer noch eine verführerisch gute Figur: Weil sie dank SSD auch kleinere Abenteuer schneller in den Speicher schaufelt, sie selbst in höchster Auflösung mühelos auf die Mattscheibe zaubert und sie uns dann mithilfe eines Controllers erleben lässt, der genau die Sorte innovativer Spielereien nahelegt, von denen frische Games-Konzepte besonders profitieren. Kurzum: Seien wir wie die Katzen! Leichtfüßig, elegant, clever, anpassungsfähig und blitzschnell! Und wie aufmerksame Kinogänger wissen: Die überleben sogar Alien-Atacken! (rb)

Der Autor Robert Bannert (Jahrgang 1974) protzt gerne mit seinen Gaming-Skills und quält seine Leser mit schlechten Katzen-Wortspielen. Obwohl er an schwerer Gichtkralle und einer lebensbedrohlichen Haustierallergie leidet. Hatschi.

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