Wohin steuert die britische Games-Branche?

Anfang 2020 beleuchteten wir den Status Quo der britischen Games-Branche. Der offizielle EU-Austritt stand da unmittelbar bevor, die Branchenverbände übten sich in Zweckoptimismus, der Brexit werde zumindest durch Nachverhandlungen mit der EU einigermaßen abgefedert. Zehn Monate sind seitdem vergangen, und zu allem Überfluss ist auch noch eine Pandemie hinzugekommen. Wie also geht es der britischen Games-Branche heute?
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© Peter Sterling/stock.adobe.com
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Der Deal hat dann doch einige überrascht. Mitte Dezember übernahm Electronic Arts das britische Entwicklerstudio Codemasters (Dirt 5, F1 2020). Überraschend war der Deal vor allem vor dem Hintergrund des Brexit: Schließlich ist Großbritanniens Abschied aus der EU mit enormen wirtschaftlichen Unwägbarkeiten verbunden. Am 1. Februar 2020 erklärte Großbritannien offiziell seinen Austritt. Noch bis Ende des Jahres ist UK Teil des EU-Binnenmarktes und der Zollunion: Die Übergangsfrist dient vor allem dazu, ein neues Handelsabkommen zu vereinbaren. Scheitert das Vorhaben – wonach es derzeit aussieht –, dann droht ein harter Brexit. Will heißen: UK würde dann wieder komplett wie ein Nicht-EU-Land behandelt. Die Beitragszahlen Großbritanniens an die EU fielen weg, an den Grenzen gäbe es wieder Kontrollen mit langen Staus, der Austausch von Waren und Arbeitskräften würde eingeschränkt – und womöglich würden sich noch mehr international agierende Unternehmen von ihrem UK-Firmensitz verabschieden, als es ohnehin schon getan haben. Dass Electronic Arts gerade jetzt auf ein britisches Studio setzt, hat wohl mit der Vitalität von Codemasters (500+ Beschäftigte) zu tun. In jedem Fall ist die Übernahme auch ein Zeichen: Seht her, wir bauen auf die Zukunft der britischen Games-Industrie!

Starkes Wachstum
Tatsächlich ist die britische Entwicklerbranche zuletzt so schnell gewachsen wie seit vielen Jahren nicht. Eine Studie des Branchenverbands TIGA attestiert britischen Studios einen Zuwachs an (kreativen) MitarbeiterInnen von 12,2 Prozent – aufs Jahr berechnet, basierend auf dem Zeitraum von November 2018 (14.353) bis April 2020 (16.836). Bei Berücksichtigung externer Aufträge sei die Zahl der EntwicklerInnen sogar von 16.532 auf 18.279 gewachsen, so TIGA. Zum Bruttoinlandsprodukt trägt die britische Games-Branche inzwischen 2,2 Milliarden Pfund bei – nach 1,8 Milliarden Pfund im Jahr davor. TIGA-CEO Richard Wilson verweist auf die Bedeutung des Video Games Tax Relief (VGTR) für sie: Seit der Einführung der Steuervergünstigungen im Jahr 2014 sei die Branche jährlich um 8,9 Prozent gewachsen. Im Zeitfenster 2019-2020 kam der VGTR insgesamt 605 Spieleprojekten zugute – mit einer Gesamtvergünstigung von 121 Millionen Pfund. Und obwohl das Förderprogramm verschiedentlich als "cash cow" für multinationale Firmen kritisiert wurde, ist seine Bedeutung für die einheimische Branche ein Fakt: Auch der Branchenverband UKIE spricht davon, dass der VGTR rund 9000 Jobs sichert.

Vergleichsweise wider­standsfähig

Nicht nur in Brexit-Zeiten ist das eine wichtige Stütze. Auch die Coronavirus-Pandemie konnte der britischen Games-Branche weniger anhaben als befürchtet. Wilson sagt gegenüber IGM: "Natürlich verzeichnen wir schon seit längerem ein Wachstum. Aber es scheint, als habe die zusätzliche Nachfrage der Konsumenten dieses Wachstum in der Pandemie beschleunigt." Die Umsatzzahlen für 2020 liegen selbstredend noch nicht vor. Doch schon in KW 12 – also noch vor dem Lockdown – zog die Nachfrage nach Download-Games in UK deutlich an: Nämlich um 67,4 Prozent gegenüber der Vorwoche, wie das Marktforschungsunternehmen GSD meldete. Diese hohe Nachfrage setzte sich – ähnlich wie in Deutschland – in den folgenden Monaten fort. Mitte Juli veröffentlichte der Branchenverband UKIE einen Lagebericht zur britischen Entwicklerbranche ("Playing on"): 45 Prozent der befragten Firmen hatten seit Pandemie-Beginn ein Umsatzwachstum verzeichnet, 4 Prozent davon ein "deutliches" Umsatzwachstum.

Der Umfrage zufolge arbeiteten die Firmen immerhin noch mit 80 Prozent ihrer Kapazitäten, nur 24 Prozent nahmen die Corona-Hilfen der Regierung in Anspruch – und nur 17 Prozent schickten einen Teil ihrer Belegschaft in "Corona-Zwangsurlaub". Allerdings zweifelten 56 Prozent der Befragten daran, im zweiten Halbjahr wichtige Investitionen an Land ziehen zu können – und 24 Prozent erwarteten erhebliche finanzielle Schwierigkeiten. Einen weiteren Zwischenbericht zur Corona-Krise wird UKIE wohl frühestens zum Jahreswechsel veröffentlichen. TIGA-Chef Wilson jedenfalls sieht die Games-Branche in der Krise als "vergleichsweise widerstandsfähig" an. "Spieleentwicklung ist ein digitales Geschäft, die Arbeit kann auch von zuhause aus geleistet und geliefert werden", sagt er, räumt aber auch ein, dass die Pandemie für viele Studios negative Folgen habe: "Spieleentwicklung basiert auf Zusammenarbeit – und Remote Work hat darauf unweigerlich Auswirkungen. Außerdem haben einige Spielefirmen mit finanziellen Herausforderungen zu kämpfen – mit verlorenen Aufträgen, nicht getätigten Investitionen und verminderten Umsätzen."

Herausforderungen für Retailer
Der stationäre Handel erlebt laut Wilson ein besonders schwieriges Jahr – "mit dem Lockdown, mit Ladenschließungen und mit einem weiter wachsenden Digitalgeschäft". Schon zu Jahresbeginn hatte die Handelskette GAME die Schließung von landesweit 40 Filialen angekündigt. Auch der Next-Gen-Launch bringt große Herausforderungen mit sich, so Wilson: "Sowohl stationäre als auch Online-Händler haben Mühe, die Nachfrage zu bedienen – sogar bei Vorbestellungen." Dennoch habe sich der Handel als sehr widerstands- und anpassungsfähig erwiesen, lobt Wilson. Beispielsweise habe GAME im Juli seine Marke "Belong Gaming Arenas" an den eSports-Ausstatter Vindex verkauft, betreibe die britischen Arenen aber weiterhin mit einer Exklusivlizenz. "Das zeigt, dass der stationäre Handel in UK sich weiterentwickelt, um den neuen Herausforderungen gerecht zu werden", so Wilson.

Allerdings stellt sich natürlich die Frage, welche zusätzlichen Herausforderungen der Brexit bringen wird. Momentan fehlt der gesamten Branche noch Planungssicherheit: Sollte es tatsächlich einen No-Deal-Brexit geben, könnte das für viele Firmen einen enormen Mehraufwand bedeuten. "Natürlich ist das eine sehr subjektive Meinung und eine Momentaufnahme von meinem Umfeld, aber es fühlt sich derzeit an, als wären viele Teile der Industrie wenig bis gar nicht auf einen No-Deal-Brexit vorbereitet", sagt Thomas Reisenegger, der seit 2017 die Agentur Future Friends Games in London betreibt. "Vor allem in den letzten Monaten, seit Covid die Nachrichten quasi übernommen hat, ist der Brexit noch eine zusätzliche Belastung", so Reisenegger. "Dies ist gerade für kleine Unternehmen wie uns – wir sind derzeit fünf Leute und arbeiten mit einigen Freelancern – eine ganze Menge extra Arbeit."

Future Friends Games ist auf die Promotion von Indie-Games spezialisiert: Zum Leistungsportfolio zählen u.a. die Optimierung von Steam-Seiten, klassische Pressebetreuung, das Pitchen bei Influencern und auch Consulting zu Themen wie Community-Management, Trailern und Social-Media-Plattformen. Zudem fungiert Future Friends als Co-Publisher bei einer Handvoll Titeln, die meist von Solo-Entwicklern stammen. Besonders stark werde die Agenturarbeit durch die pandemiebedingte Verschiebungen von großen AAA-Spielen beeinflusst, so Reisenegger. "Konkret bedeutet das, dass wir derzeit mit unseren Plänen ständig sehr flexibel sein müssen." Vor allem der Event-Bereich habe sich verändert: "Wo wir früher Journalisten-Termine für ‚In-Person-Events' wie die gamescom besucht haben, sind wir jetzt auf Online-Events fokussiert. Bei Online-Events liegt ein ganz anderer Fokus. Dinge wie Live-Streams, Online-Q&As mit der Community oder das Basteln von Online-Booths gehören plötzlich zum Tagesgeschäft."

Planungsunsicherheit
Das Thema "Brexit" spürt Reisenegger im Arbeitsalltag bisher noch nicht so stark. Allerdings fragen Kunden zunehmend an, wie sich Verträge verändern werden, die noch ins nächste Jahr hinein laufen. "Wir hatten auch eine Handvoll potenzieller Kunden, mit denen wir erst Mitte nächsten Jahres arbeiten werden, da diese sich über vertragliche Details lieber Anfang nächsten Jahres unterhalten wollten", berichtet Reisenegger. "Nämlich dann, wenn klarer ersichtlich ist, wie der Brexit läuft. Es ist also auf jeden Fall etwas zusätzliche Vorsicht zu spüren." Auch habe es bisher für kleine Indie-Projekte EU-Förderungen gegeben, die durch den Brexit womöglich wegfallen. "Bisher ist uns noch nicht klar, ob es da für britische Entwickler dann eine lokale Alternative geben wird."

Neue Phase regulatorischer Prüfung

Allerdings blickt längst jeder dem Brexit mit Bangen entgegen – so mancher Branchenvertreter begrüßt nach wie vor das Austrittsbestreben der Regierung. Beispielsweise Mark Cale, Gründer des traditionsreichen Londoner Studios System 3 (Constructor Plus, Super Putty Squad): Er verspricht sich vom Brexit "ein stärkeres Großbritannien mit einer besseren Wirtschaft." Man werde dann nicht mehr von EU-Beamten regiert, die man nicht gewählt habe. Schon für die beiden IGM-Artikel im Frühjahr hatten wir Cale zum Brexit interviewt – an seiner kompromisslosen Haltung hat sich seitdem nichts geändert. Der EU-Austritt habe seine Firma stärker und besser gemacht, so der Branchenveteran. "Wir sind unabhängig von unausgewogenen EU-Subventionen für Länder wie Polen, die – im Vergleich zu Ländern wie Großbritannien oder Deutschland – unfairerweise von diesen Entwicklungsförderungen profitieren." Auf die Games von System 3 habe der Brexit keine wirklichen Auswirkungen, "weil sich unser Geschäftsmodell immer mehr in Richtung Digitalvertrieb bewegt." Für Downloads seien Landesgrenzen nicht relevant, so Cale: "Steuern werden direkt an der Quelle erhoben, sind also unabhängig von der EU-Mitgliedschaft. Verkaufen wir beispielsweise etwas in Deutschland, dann werden die Steuern über die Stores von Nintendo, PlayStation oder Xbox abgerechnet."

Gut vorbereitet
Auch der deutsche Distributor NBG sieht keine Beeinträchtigungen durch den Brexit. "Unsere Vorbereitungen waren relativ schnell abgeschlossen", sagt NBG-Geschäftsführer Markus Biehl. "Für uns wird sich nichts ändern, denn unsere Partner aus England  – also die Hersteller – haben die notwendigen Maßnahmen bereits im Vorfeld getroffen." Zwar hätten einige Partner ihren Sitz in UK – aber mittlerweile auch Niederlassungen in EU-Ländern. "Der Warenfluss unserer Hersteller erfolgt auch nicht aus England, wir erhalten die Ware weiterhin aus einem EU-Land", betont Biehl. "Wir verkaufen keine Ware nach England, somit müssen wir auch nichts ändern." Durch den Brexit habe NBG im Bereich Logistik sogar noch einige Kunden hinzugewinnen können, "die jetzt einen Teil der Ware aus England zu uns verlagern".

Ist der Brexit für Games-Branche vielleicht am Ende gar kein großes Problem? Ist die Branche so flexibel und resilient, dass sie auch eine derart große Umstellung reibungslos mitmacht? Die Branchenverbände TIGA und UKIE jedenfalls sehen das anders. Schon seit mehreren Jahren setzen die Verbände alles daran, die Branche auf den Brexit vorzubereiten – mit politischen Initiativen, Info-Broschüren und Webinaren. TIGA-Chef Richard Wilson hat eine ganze Liste von Forderungen an die Politik, auch UKIE hat entsprechende Forderungen erhoben. Als wichtigen Baustein nennt Wilson einen Handelsvertrag mit der EU, der Kontigente, Zölle oder andere Handelsbarrieren vermeidet. Auch der nationale Video Games Tax Relief müsse beibehalten oder sogar ausgebaut werden. Stichwort Finanzierungsquellen: "Wenn UK nicht mehr Teil der EU ist, wird die britische Spielebranche keinen Zugang mehr Förderprogrammen wie Creative Europe und Horizon 2020 haben", sagt Wilson. "Die britische Regierung sollte den Zugang dazu durch alternative Förderprogramme ersetzen, zum Beispiel den Video Games Investment Fund [VGIF]." Ein weiterer wichtiger Punkt ist der Zugang zu Arbeitskräften. TIGA-Studien zufolge kommen rund 20 Prozent der Spiele-EntwicklerInnen aus EU-Ländern und rund 5 Prozent  aus Ländern außerhalb der EU. "Die britische Regierung sollte gewährleisten, dass das nach dem Brexit geltende Einwanderungssystem die britischen Universitäten nicht daran hindert, weiterhin Leute aus der EU zu rekrutieren", betont Wilson.

Forderungen en masse
Zu den Forderungen der Verbände zählt auch ein ungehinderter Datenfluss zwischen UK und EU. Schließlich sind Nutzer- bzw. Spieldaten für das Publishing und für den Betrieb unentbehrlich. Ähnlich wichtig sei, das geistige Eigentum auch nach dem Brexit effektiv zu schützen, so Wilson: "Eine regulatorische Angleichung beim Thema IP-Schutz ist von Vorteil, weil das zusätzliche Kosten verhindert, die durch die Umsetzung separater IP-Gesetze entstehen würden. Allerdings hat die Regierung entschieden, hier abzuweichen. Sie will die IP-Gesetze reformieren, um Ungleichgewichte und mangelnde Verlässlichkeit des herrschenden Systems zu beseitigen. Darüber hinaus müssen staatliche Hilfen wie der UK Games Fund erhalten und ausgebaut werden, fordert Wilson. Das gelte übrigens auch für coronabedingte Hilfen wie das Programm "Bounce Back Loans". Zu guter Letzt müssen aus TIGA-Sicht auch die (noch) geltenden EU-Standards bezüglich Arbeitsbedingungen, Umwelt- und Klimaschutz übernommen werden – oder zumindest als Vorbild für eine nationale Gesetzgebung dienen.

Man sieht, der Brexit und die Pandemie halten die britische Games-Branche gehörig auf Trab. Und das ist noch nicht alles. "Wir scheinen uns in einer neuen Phase regulatorischer Prüfung zu befinden", schreibt die UKIE-Geschäftsführerin Jo Twist in einem Gastbeitrag für gamesindustry.biz. Große Baustellen seien der Umgang mit schädlichen Online-Inhalten, neue Steuerfragen, die Regulierung von Online-Werbung und natürlich auch Lootboxen. Jo Twist fordert hier klare Kante: "Wir haben das Selbstvertrauen, uns – höflich, aber bestimmt – dagegen zu wehren, wenn unsere Industrie nicht realitätsgetreu dargestellt wird. Wir sind eben nicht – wie manche uns gerne darstellen möchten – Glücksspielfirmen, die keine Rücksicht auf ihre Spieler nehmen." Die Branche mache genauso wenig Geschäfte mit Abhängigkeit, wie das die Produzenten von spannenden Filmen, Fernsehbeiträgen oder Büchern täten. "Und wir denken ganz gewiss nicht nur an Profit, ohne die Konsequenzen unseres Handelns zu hinterfragen. Wenn unsere Branche so dargestellt wird, ist das völlig falsch und unfair."

Richard Wilson gibt einen kurzen Überblick zum Thema. "Die meisten Games-Unternehmen, die ihren Sitz in Großbritannien haben oder von dort aus gesteuert werden, verwenden keine Lootboxen", berichtet er. "Allerdings gibt es einige multinationale Unternehmen, die Lootboxen nutzen – und sie auch an Game-Konsumenten in UK verkaufen." 2017/2018 habe die nationale Gambling Commission entschieden, dass Lootboxen kein Glücksspiel seien. Ihr Argument: Lootbox-Belohnungen seien kein echtes Geld bzw. nicht "geldwert", weil sie nicht außerhalb des Spiels gegen Geld eingetauscht werden können.

"Diese Haltung könnte sich jedoch ändern", mahnt Wilson. "Die britische Regierung hat ein Online Harms White Paper veröffentlicht und will sich mit schädigenden Online-Inhalten befassen." Momentan liefen bei der Regierung entsprechende Beratungen. "Ihre diesbezüglichen Pläne werden 2021 deutlicher werden." Genauso wie die Auswirkungen von Pandemie und Brexit. (Achim Fehrenbach)

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