Ob Amazon, Microsoft, Apple oder Facebook – beim Blick auf die Liste der Unternehmen mit dem weltweit höchsten Börsenwert entdeckt so man einige Bekannte. Und auch ohne Kenntnisse der aktuellen Zahlen würde man diesen Big Playern ohne Weiteres eine hohe Platzierung im weltweiten Ranking der sogenannten Marktkapitalisierung zutrauen. Auf dem achten Rang der von US-Unternehmen dominierten Top 10 findet sich allerdings ein Gigant, dessen Name trotz eines Werts von mehr als 500 Milliarden US-Dollar (zum Vergleich: der wertvollste deutsche Konzern SAP kommt lediglich auf rund 150 Milliarden, Stand November 2021) weit weniger geläufig ist. Tencent heißt das Technologieunternehmen aus der chinesischen Millionenstadt Shenzhen. Doch wer ist Tencent eigentlich? Und warum könnte der weltweit größte Hersteller von Mobile-Games künftig auch den westlichen Spielemarkt radikal verändern?
Vom ICQ-Klon bis WeChat
Für die Geburt von Tencent muss man nicht allzu lange in die Vergangenheit zurückgehen. Im November 1998 – ziemlich genau zwei Monate nach der offiziellen Gründung von Google Inc. – fiel der Startschuss für die Chinesen. Zu den fünf Gründern gehörte auch der 1971 geborene, heutige Vorstandvorsitzende und Tencent-Geschäftsführer Ma Huateng. Der oft Pony Ma („Ma“ heißt übersetzt „Pferd“) genannte studierte Informatiker belegt laut Forbes Magazine mit einem geschätzten Vermögen von knapp 50 Milliarden US-Dollar aktuell Platz 30 unter den weltweit reichsten Menschen. In der Volksrepublik China liegt er hinter Pharmaunternehmer Zhong Shanshan und Zhang Yiming, Gründer von ByteDance (TikTok), auf Platz drei.
Bis Tencent jedoch Gewinne abwarf, die ein derartig hohes Privatvermögen ermöglichten, dauerte es einige Zeit. Genauer gesagt rund drei Jahre, in denen die Firma zunächst unprofitabel war und vom Geld ihrer Risikokapitalgeber lebte. Das erste Produkt von Tencent, dessen Hauptniederlassung sich zwar im unmittelbar an Hongkong angrenzenden Shenzhen befindet, dessen Rechtssitz damals wie heute aber auf den steuerbegünstigten Cayman Islands liegt, war ein Messenger. Das später aufgrund einer Klage von ICQ-Betreiber AOL in QQ unbenannte Programm bot anfangs die typischen Funktionen eines Instant-Messengers und generierte Einnahmen lediglich über Werbeanzeigen. Tencent, die unter anderem auch verschiedene Cloud-Services erfolgreich anbieten, erweiterte die Marke allerdings recht zügig um weitergehende Optionen und baute parallel ein Webportal auf, über das schließlich auch Online-Social-Games, Musik, Shopping-Optionen und anderes möglich wurden. Anfang 2020 lag die Anzahl der aktiven Nutzer bei mehr als 750 Millionen.
Das erste Produkt von Tencent war ein Messenger
Das auch heute, gut 23 Jahre später noch aktive QQ kann man aber nicht nur in dieser Hinsicht als Vorläufer des 2011 gestarteten WeChat betrachten. Dieses ist mit rund 1,2 Milliarden aktiven Usern (größtenteils in China, aber auch führend in einzelnen Anrainerstaaten oder Malaysia) noch etwas erfolgreicher als QQ und bietet einige zusätzliche Funktionen wie ein mit Apple Pay vergleichbares Zahlungssystem. Auch QQ war bereits früh als Mobile-App verfügbar – ein wichtiger Faktor für den großen Erfolg der Tencent-Dienste. Den Fokus weniger auf die Nutzung des stationären Internets zu legen, bezeichnete Pony Ma in einem Interview mit dem US-Wirtschaftsmagazin Fortune als entscheidend für den über viele Jahre hinweg explosiven Aufstieg von Tencent.
Die Entwicklung der Geschäftszahlen geben dem Tencent-CEO in jedem Fall Recht: 2020 konnten die Chinesen die 51 Milliarden Euro Umsatz des Vorjahres um insgesamt 27 Prozent steigern. Gemessen an den offiziellen Zahlen des Unternehmens, entspricht das – verglichen mit 2012 – mehr als einer Verzehnfachung des Jahresumsatzes. Daran ändert auch nichts, dass WeChat vor allem im Westen aufgrund der Weitergabe nahezu sämtlicher Nutzerdaten an den chinesischen Staat und dem Befolgen der strengen Zensurrichtlinien in der Volksrepublik stark in der Kritik steht. Der damalige US-Präsident Donald Trump versuchte im September 2020 gar, mit einer letztlich von einem US-Gericht gestoppten Executive Order WeChat und damit Tencent in den USA einen Riegel vorzuschieben. Allerdings ist davon auszugehen, dass dahinter vor allem wirtschaftliche Interessen steckten. Inzwischen lockern sich jedoch teilweise die Widerstände. Der deutsche Automobilbauer BMW kooperiert künftig beispielsweise mit Tencent und nutzt WeChat für gezieltes Marketing im Reich der Mitte.
Größter Mobile-Games Anbieter der Welt
Gerade die Zuwächse im Gaming-Bereich trugen erheblich zum Aufstieg von Tencent bei, auch wenn diese im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie teils deutlich zurückgingen. Tencent forcierte seine Gaming-Sparte ab 2003 mit der Gründung der hundertprozentigen Tochter Tencent Games, deren Fokus von Beginn an auf Online-Spielen lag. Bei den dazugehörigen Entwicklerstudios – nicht zuletzt der mit Hauptsitz in Shenzhen ausgestatteten TiMi Studio Group – entstanden überwiegend exklusiv für den chinesischen Markt entwickelte Titel, zu denen auch das 2015 veröffentlichte und täglich von mehr als 100 Millionen Menschen gespielte MOBA „Honor of Kings“ zählt. Allein schon mit den Eigenproduktionen auf dem gigantischen chinesischen Markt zählte Tencent zu den größten Mobile-Games-Herstellern der Welt. Mit verschiedenen Akquisen setzte sich der Konzern in diesem Segment global an die Spitze.
Grob ab dem Jahr 2010 kam es zunehmend zu verschiedenen Kooperationen mit westlichen Publishern sowie Investitionen bei Studios in Nordamerika und Europa. In Zusammenarbeit mit Activision Blizzard entwickelte und vermarkte Tencent ab 2012 „Call of Duty Online“ in China, das inzwischen, weiterhin von Tencent entwickelt, als „Call of Duty: Mobile“ weltweit verfügbar ist.
Aber das war nur der Anfang
Das erfolgreiche Battle-Royale-Actionspiel „PUBG Mobile“ gibt es zwar auch in China. Dort heißt es allerdings „Game for Peace“, reduziert den Grad der Gewaltdarstellung drastisch, verändert die Hintergrundstory und vieles mehr. Ein aufwendiger, aber notwendiger Prozess, um in China überhaupt eine Marktfreigabe erhalten zu können. Auch prominente Studios aus dem Westen scheiterten daran. Eine bereits umfassend angepasste Testversion von „Fortnite“ zog Epic Games beispielsweise komplett zurück. Ähnlich wie Activision bei „Call of Duty“ Tencents Marktkompetenz in China für sich nutzte, macht Tencent es umgekehrt bei der Eroberung der westlichen Märkte.
Die erste größere strategische Investition von Tencent fand im Februar 2011 beim US-Studio Riot Games statt, die vor allem für ihr auch im E-Sport enorm erfolgreiches MOBA „League of Legends“ bekannt sind. Inzwischen befindet sich Riot Games vollständig in Tencent-Besitz.
Aber das war nur der Anfang. Tencent erwarb in den folgenden Jahren größere Anteile an etlichen weiteren Studios und Publishern außerhalb Chinas. Darüber hinaus investierte man auch in Unternehmen in anderen Bereichen, etwa der Universal Musik Group (ca. 20 Prozent), Tesla (ca. 5 Prozent) oder Spotify (ca. 7,5 Prozent). Kleinere Minderheitsanteile von ca. fünf Prozent an Firmen wie Ubisoft, Paradox Interactive oder der japanischen Kadokawa Corporation (Mutterkonzern unter anderem von From Software) zählen genauso dazu wie die etwa 40 Prozent, die Tencent entgegen dem Willen von Epic Games seit 2012 an den Machern von Spielen wie „Fortnite“ und der Unreal Engine hält.
Neben Riot Games gibt es aber noch einige andere Spielehersteller, die inzwischen mehrheitlich oder sogar komplett zu Tencent gehören. Das norwegische Studio Funcom („Conan Exiles“) ist nun etwa genauso eine hundertprozentige Tochter von Tencent wie das Berliner Studio Yager („Spec Ops: The Line“), mit rund 140 Mitarbeitern immerhin der zehntgrößte deutsche Entwickler. Und auch der 2016 für mehr als zehn Milliarden US-Dollar mehrheitlich übernommene finnische Entwickler Supercell passt mit seinen Free-to-play-Mobile-Hits wie „Clash of Clans“ perfekt ins Tencent-Portfolio. Yager und andere involvierte Studios geben sich indes betont gelassen. Sie sehen die Tencent-Übernahme primär als Chance und gehen zudem davon aus, auch künftig genauso unabhängig weiterarbeiten zu können wie bisher.
Ob und welche weiteren Anteilsaneignungen oder gar mehrheitliche Übernahmen geplant sind, ist aktuell schwer abzusehen. Klar ist, dass Tencent, die bereits Mitglied im Bundesverband Interaktive Unterhaltungssoftware (BIU) waren und nun dem Verband der deutschen Games-Branche (game) angehören, mit der in Frankfurt am Main ansässigen Tencent Cloud Europe GmbH ihre frühere Ankündigung wahrmachen, im laut Tencents Europachef Shiwei Li „wichtigsten Markt außerhalb Chinas“ Milliarden zu investieren. Dabei geht es primär um Cloud-Services, weniger um Games. Dass aber auch dieser Sektor eine wichtige Rolle spielen könnte, belegt die Tatsache, dass Tencent Games mit dem deutschen Branchenveteranen Zoran Roso (ehemals Activision Blizzard, Sony Interactive Entertainment und Rockstar Games) erst kürzlich einen anerkannten Experten als Marketing Director Global Publishing engagiert hat.
Zunehmende staatliche Regulierung
Liegt die Zukunft im Westen?
Am stärksten wird die Zukunft von Tencent respektive deren künftige Strategie davon abhängen, was in den kommenden Monaten und Jahren in der Volksrepublik China passiert. Denn während Staatschef Xi Jinping gerade den IT-Unternehmen zu Beginn seiner (inzwischen theoretisch unbegrenzten) Amtszeit viele Freiheiten einräumte, drohte zuletzt, wie in vielen anderen Bereichen auch, eine zunehmende staatliche Regulierung. Tencent bekam die ersten Ansätze bereits deutlich zu spüren: So gilt in China seit einiger Zeit beispielsweise, dass Jugendliche maximal drei Stunden in Online-Spielen verbringen dürfen – pro Woche! Eine Gesichtsscan-Software, die Tencent eilig umsetzte, sorgt zudem seit Juli 2021 dafür, dass sich nach einer bestimmten Uhrzeit nur noch Erwachsene überhaupt zum Spielen einloggen können. Micropayments in Spielen wurden für Minderjährige ebenfalls weitestgehend unzugänglich gemacht.
Auf die Tencent-Umsätze drücken diese Maßnahmen bereits, vor allem aber auf die Stimmung der Anteilseigner und den Wert des Unternehmens. Lag Tencent im Juni 2021 noch bei rund 730 Milliarden US-Dollar, liegt der Wert Ende November 2021 satte 200 Milliarden darunter. Orientiert man sich am Börsenwert aus dem März 2021, ist dieser bis November gar um mehr als 40 Prozent geschrumpft. Für Platz acht der wertvollsten Unternehmen weltweit reicht das aber immer noch.
Der Grund für die Skepsis der Anteilseigner ist aber nicht nur darin begründet, sondern auch im Verhalten von Tencent, die, noch bevor die kommunistische Führung zusätzliche konkrete Vorgaben beschlossen hatte, vorpreschte und von sich aus unter anderem ein Mindestalter von zwölf Jahren für den Zugang zu Online-Games vorschlug. Das wiederum hat mit „vorauseilendem Gehorsam“ zu tun, wie in einem Artikel des zur Spiegel-Gruppe gehörenden Manager Magazins zu lesen war. Denn die Furcht, wohl auch die des als linientreu geltenden Tencent-CEOs Pony Ma, ist groß, dass ansonsten am Ende womöglich gar die Zerschlagung des Konzerns in seine Einzelteile erfolgen könnte.
Der Technologieriese und Global Players aus Fernost blickt somit durchaus in eine ungewisse Zukunft. Und könnte deshalb künftig sein Heil noch viel stärker im Westen suchen, als er es mit seinen Investitionen der letzten zehn Jahre ohnehin längst clever und beinahe geräuschlos getan hat. (bb/bpf)